Stuttgart 21: Wie weit die Polizei gehen darf

Wasserwerfer, Pfefferspray und Schlagstöcke. Demonstranten gegen das Großprojekt "Stuttgart 21", darunter auch viele Kinder und Jugendliche, haben vergangene Woche eine verschärfte Gangart der Polizei zu spüren bekommen. Ist die Polizei zu weit gegangen? Dr. Alfred Scheidler über die Grenzen polizeilicher Maßnahmen bei Versammlungen und Demonstrationen.

Die Proteste gegen "Stuttgart 21" nehmen zu: Ende vergangener Woche kam es zu Großdemonstrationen mit mehreren Zigtausend Teilnehmern. Die Situation spitzte sich zu, als am Donnerstag Demonstranten das Fällen von Bäumen verhindern wollten und die Polizei Wasserwerfer, Pfefferspray und Schlagstöcke einsetzte. Nach Polizeiangaben sind dabei 114 Menschen verletzt worden, Gegner des Bahnhofsprojekts sprechen von mehreren hundert Verletzten. Die polizeilichen Maßnahmen, die auch vor einer Schüler-Demo nicht Halt gemacht haben sollen, stießen auf heftige Kritik.

Im Nachhinein darüber befinden zu wollen, ob die Polizeieinsätze in Stuttgart rechtmäßig waren oder nicht, ist äußerst schwierig. Einige Grundsätze, die allgemein für polizeiliche Maßnahmen im Zusammenhang mit Versammlungen und Demonstrationen gelten, lassen sich aber durchaus festhalten.

"Werden Polizeibeamte in eine öffentliche Versammlung entsandt, so haben sie sich dem Leiter zu erkennen zu geben." Diese in § 12 des Versammlungsgesetzes (VersG) normierte Legitimationspflicht der Polizei besteht allerdings nur für den oder die Beamten, die mit dem Leiter unmittelbar Kontakt aufnehmen. Besonders bei Großveranstaltungen ist es weder sinnvoll noch realisierbar, dass sich jeder am Einsatz beteiligte Polizeibeamte ausweist. Es gibt auch keine gesetzliche Regelung, die die Polizei dazu verpflichtet, unvermummt und/oder mit Namensschildern aufzutreten.

Körperliche Gewalt kann zulässig sein, unterliegt aber engen Grenzen

Nach § 15 Abs. 3 VersG kann die Polizei eine Demo auflösen, wenn diese nicht angemeldet war, wenn von den Angaben der Anmeldung abgewichen oder gegen Auflagen verstoßen wird oder wenn Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung drohen.

Letzteres ist zum Beispiel der Fall, wenn aus der Versammlung heraus Straftaten begangen werden wie Körperverletzungen (etwa Steinewerfen auf Polizisten), Hausfriedensbruch (etwa Besetzen von Privatgelände), Sachbeschädigungen oder Nötigung (Blockieren von Zufahrtswegen zur Baustelle). Um hiergegen vorzugehen, darf die Polizei grundsätzlich auch unmittelbaren Zwang anwenden, das heißt, durch einfache körperliche Gewalt oder durch Hilfsmittel der körperlichen Gewalt (dazu gehören auch Wasserwerfer, Pfefferspray oder Schlagstöcke) auf Personen oder Sachen einwirken.

Die Voraussetzungen für die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Einzelnen sind in den Polizeigesetzen der Länder geregelt, in Baden-Württemberg in den §§ 49 ff. des Polizeigesetzes Baden-Württemberg (PolG BW). Danach darf unmittelbarer Zwang nur angewandt werden, wenn der polizeiliche Zweck auf andere Weise nicht erreichbar erscheint (§ 52 Abs. 1 Satz 1 PolG BW).

Gegenüber einer Menschenansammlung darf unmittelbarer Zwang nur angewandt werden, wenn seine Anwendung gegen einzelne Teilnehmer der Menschenansammlung offensichtlich keinen Erfolg verspricht (§ 52 Abs. 1 Satz 4 PolG BW). Unmittelbarer Zwang darf nicht mehr angewandt werden, wenn der polizeiliche Zweck erreicht ist oder wenn sich zeigt, dass er durch die Anwendung von unmittelbarem Zwang nicht erreicht werden kann (§ 52 Abs. 3 PolG BW).

Das angewandte Mittel muss nach Art und Maß dem Verhalten, dem Alter und dem Zustand des Betroffenen angemessen sein (§ 52 Abs. 1 Satz 3 PolG BW). Aus dieser Vorschrift ergibt sich, dass gegenüber Kindern und Jugendlichen ebenso wie etwa gegenüber alten und gebrechlichen Menschen mehr Zurückhaltung zu üben ist als etwa gegenüber einem kräftig gebauten und großgewachsenen Mann.

Übermaßverbot als Schranke polizeilicher Gewalt

Allgemein gesprochen gilt für jede polizeiliche Maßnahme das Übermaßverbot. Es besagt, dass Maßnahmen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein müssen. Aus dem Erforderlichkeitsgrundsatz folgt die Pflicht der Polizei, sich bei prekären Lagen besonnen zurückzuhalten, "gegebenenfalls unter Bildung polizeifreier Räume", wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Brokdorf-Beschluss aus dem Jahr 1985 (BVerfGE 69, 315) gefordert hat. So kann ein Untätigbleiben der Polizei geboten sein, wenn einerseits schwerste Auseinandersetzungen mit Demonstranten und die massive Beeinträchtigung von Unbeteiligten zu befürchten sind und andererseits Gefahren für Leben oder Gesundheit von Personen bei einem Nichteinschreiten nicht zu erwarten sind.

Will man – gemessen an diesen Grundsätzen – eine Entscheidung darüber treffen, ob die polizeilichen Maßnahmen in Stuttgart rechtmäßig waren oder ob sie den rechtlich zulässigen Rahmen überschritten haben, bedarf es einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung. Dabei darf bei aller Kritik aber auch nicht übersehen werden, dass Polizeibeamte oftmals in Sekundenbruchteilen zu entscheiden haben, wie sie auf eine prekäre Situation reagieren sollen.

Der Autor Dr. Alfred Scheidler ist Oberregierungsrat in Neustadt an der Waldnaab und Autor zahlreicher Publikationen zum öffentlichen Recht.

Zitiervorschlag

Alfred Scheidler, Stuttgart 21: . In: Legal Tribune Online, 04.10.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1626 (abgerufen am: 12.11.2024 )

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