Die juristische Presseschau vom 26. Oktober 2023: EGMR zu pol­ni­schen Rich­ter:innen / Gesetz­ent­wurf zu Abschie­bungen / AG Berlin-Mitte zu Lau­ter­bachs X-Account

26.10.2023

Der EGMR in Straßburg hat die abgesenkte Altersgrenze für polnische Richter:innen gerügt. Das Bundeskabinett hat den Entwurf eines Rückführungsverbesserungsgesetzes beschlossen. Minister Lauterbach durfte X-Nutzer:innen blockieren.

Thema des Tages

EGMR/Polen – Altersgrenze für Richter:innen: Erfolgreich haben sich vier polnische Richterinnen gegen ihr Ausscheiden aus dem Dienst aufgrund der durch die Justizreform abgesenken Altersgrenze gewehrt. Wie beck-aktuell (Michael Dollmann/Pia Lorenz) schreibt, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass die Richterinnen faktisch keine Möglichkeit gehabt hätten, die Entscheidungen der Exekutive im Inland von einem unabhängigen Gericht überprüfen zu lassen. Richter und Richterinnen müssten aber vor Eingriffen der Exekutive und Legislative in ihre Amtsführung geschützt werden, heißt es zur Begründung. Das könne nur durch eine richterliche Kontrolle gewährleistet werden. Da diese fehlte, so die Kammer, sei Art. 6 EMRK, das Recht auf ein faires Verfahren, verletzt.

Rechtspolitik

Abschiebungen: Das Bundeskabinett hat den Gesetzentwurf von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) für ein Rückführungsverbesserungsgesetz beschlossen. Unter anderem soll der maximale Abschiebegewahrsam von 10 auf 28 Tage verlängert werden. In Sammelunterkünften soll die Polizei nicht nur die Wohnung des Abzuschiebenden betreten dürfen, sondern auch Nachbarwohnungen. Wo Pässe fehlen, sollen Smartphones ausgelesen werden können. Die Ankündigung einer Abschiebung soll entfallen, wenn keine Kinder unter 12 Jahren betroffen sind. Durch die Maßnahmen sollen pro Jahr rund 600 Abschiebungen mehr erfolgen. Der Deutsche Anwaltverein kritisierte u.a., das vorsorgliche Auslesen von Smartphones sei eine unzulässige Vorratsdatenspeicherung. Es berichten SZ (Constanze von Boullion), spiegel.de und LTO

Dass jetzt alles plötzlich besser werde, sei nicht zu erwarten, kommentiert Mona Jäger (FAZ). Zwar seien die nun in Gesetzesform gegossenen Maßnahmen zur schnelleren Abschiebung abgelehnter Asylbewerber richtig und überschritten auch nicht die Grenze zum Inhumanen. Aber entlastet würden die Kommunen dadurch nur sehr langsam. Klaus Geiger (Welt) sieht nur eine "Simulation von Politik". Wenn Herkunftsländer sich weigern, ihre Staatsbürger wieder aufzunehmen, "führen die Regeln ins Nichts". Der Autor schlägt vor, Asylverfahren "jenseits des EU-Territoriums" durchzuführen und nur Menschen mit Asylanberechtigung einreisen zu lassen.

Recht auf Reparatur: Über den Entwurf für eine europäische Regelung, mit der ein "Recht auf Reparatur" geschaffen werden soll, schreibt die FAZ (Hendrik Kafsack). Verbraucher sollen danach den Anspruch erhalten, defekte Waren nach dem Ende der zweijährigen Gewährleistungspflicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums – kostenpflichtig – reparieren zu lassen. Die Hersteller müssen dafür die nötigen Ersatzteile bereitstellen. Der Anwendungsbereich ist auf Güter beschränkt, für die es in den so genannten "EU-Ökodesign-Regeln" Vorgaben zur Reparierbarkeit gibt. Das sind allen voran Haushaltsgeräte, aber auch Smartphones oder Laptops.

Prostitution: Rechtsprofessor Stephan Rixen schildert auf dem Verfassungsblog im Rahmen eines Online-Symposiums zur "Regulierung der Sexarbeit in Deutschland" sein "Unbehagen" mit dem quasi-gewerberechtlichen Ansatz des 2017 beschlossenen Prostituiertenschutzgesetz. Die gewerberechtliche Logik, regulatorisch bei der Person anzusetzen, die die Dienstleistung erbringt, blende die Rolle der Kunden aus, die Rixen dagegen zum Ausgangspunkt der Regulierung machen will. Er denkt dabei an Anmeldepflichten und an ein Register, in dem sich Prostituierte informieren können, ob Kunden als zuverlässig gelten.

Justiz

AG Berlin-Mitte zu X/Twitter-Blockade durch Minister: Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) durfte einem anderen Nutzer den Zugang zu seinem X/Twitter-Account blockieren. Ein Zugangsanspruch zu dem Account des Ministers bestehe nicht, da dieser "privat" betrieben werde und keine "öffentliche Einrichtung" sei. Entscheidend sei das Gesamtgepräge des Accounts. Lauterbach habe seine Amtsstellung auf dem Profil nicht derart in den Vordergrund gerückt, dass Nutzer:innen davon ausgehen mussten, es komme ihm gerade darauf an, auf X/Twitter in amtlicher Funktion aufzutreten. Laut LTO (Marie Winzek/Markus Sehl) ist dies wohl die erste Gerichtsentscheidung zur Abgrenzung von privaten und offiziellen Minister-Accounts.

BAG zu Haftung für Mindestlohn: Geschäftsführer:innen haften im Insolvenzfall der Gesellschaft nicht mit ihrem Privatvermögen für nicht bezahlten Mindestlohn. Auf diese Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem März macht die Anwältin Luca Borowski im Expertenforum Arbeitsrecht aufmerksam. Das Mindestlohngesetz sei kein Schutzgesetz zugunsten der Arbeitnehmer:innen im Verhältnis zu den Geschäftsführer:innen. Es liege auch kein Fall der Durchgriffshaftung vor.

LG Bonn zu Mord an Claudia Otto: Nach einem Wiederaufnahmeverfahren wurde, wie die FAZ (Reiner Burger) berichtet, der wegen Mordes an der 23-jährigen Claudia Otto verurteilte Detlef M. freigesprochen. Die DNA-Spur, die seinerzeit das einzige Beweismittel war, hatte sich jetzt als wertlos erwiesen, weil nicht ausgeschlossen werden konnte, dass der Umgang mit den Asservaten unsachgemäß war.

LG München I – Ex-Wirecard-Chef Braun: Vom 75. Prozesstag im Verfahren gegen den Ex-Wirecard-Chef Markus Braun berichtet die FAZ (Henning Peitsmeier). Am Mittwoch sagte erneut der Kronzeuge Oliver Bellenhaus aus, dem die Verteidigung Brauns Lüge und die Vernichtung von Daten vorwirft. Bellenhaus hatte das Asiengeschäft von Wirecard gesteuert und war auch verantwortlich für das ominöse Drittpartner-Geschäfte. Dieses Geschäft mit Partnerfirmen habe allein dazu gedient, einen Kreislauf in Gang zu halten, um den Umsatz aufzublähen, erklärte Bellenhaus auf Nachfrage von Richter Markus Födisch.

AG Duisburg - Anschlagsplan auf pro-israelische Demo: Das Amtsgericht Duisburg hat gegen den Islamisten Tarik S. einen Haftbefehl erlassen. Er soll sich gegenüber einem IS-Chatpartner bereit erklärt haben, einen Angriff auf eine pro-israelische Demonstration zu verüben. S. hatte bereits eine fünfjährige Freiheitsstrafe wegen IS-Mitgliedschat verbüßt und an einem Deradikalisierungsprogramm teilgenommen. Die SZ (Christian Wernicke) berichtet. 

AG Tiergarten zu Angriff auf Ukraine-Unterstützer: Ein deutsch-russischer Mann, der in Berlin Personen, die sich mit der Ukraine solidarisiert hatten und auch seine Eltern angegriffen hatte, ist vom Amtsgericht Tiergarten wegen versuchter besonders schwerer Brandstiftung, wegen Sachbeschädigung, gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt worden. spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet über den Prozess. Das Gericht hatte in seiner Entscheidung strafmildernd die Alkoholisierung sowie das umfassende Geständnis des Angeklagten berücksichtigt.

AG Frankfurt/M. zu Klimaprotest: Die bekannte österreichische Klimaaktivistin Martha Krumpeck ist vom Amtsgericht Frankfurt/Main wegen Nötigung zu einer einmonatigen Haftstrafe verurteilt worden. Sie hatte im April des vergangenen Jahres gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Gruppe Scientist Rebellion eine Straße blockiert. Nach der gestrigen Urteilsverkündung hatte sich Krumpeck laut spiegel.de  an einen Tisch geklebt.

StA Berlin – Klimaprotest: Mehr als 2500 Verfahren hat die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Klimaaktivist:innen der "Letzten Generation" seit Jahresbeginn bis Ende Dezember eingeleitet, 400 waren es gegen Mitglieder von "Extinction Rebellion". Die Hauptstadt ist damit nach Angaben der Deutschen Richterbundes die Stadt mit der höchsten Zahl von Strafverfahren gegen Klimaaktivist:innen. Bisher seien 150 Urteile ergangen. In anderen deutschen Großstädten liegt die Zahl der entsprechenden Strafverfahren deutlich darunter. In Köln gab es in den vergangenen eineinhalb Jahren 29 Verfahren gegen 157 identifizierte Beschuldigte. In Frankfurt liegen der Staatsanwaltschaft bislang 72 Fälle vor, berichtet spiegel.de.

Pro-palästinensische Demonstrationen: Die SZ (Wolfgang Janisch) stellt fest, dass die Verwaltungsgerichte bei pro-palästinensischen Kundgebungen heute eher präventive Verbote zulassen als sie dies früher bei rechts-extremistischen Kundgebungen getan haben. Die Gefahrprognosen seien oft wenig valide. So habe das Verwaltungsgericht Hamburg zum Slogan "Freiheit für Palästina" argumentiert, er werde  "typischerweise in Kreisen verwandt, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen" – was auch gewaltbereite Teilnehmer locken dürfte. Das Bundesverfassungsgericht wurde im Falle rechtskräftig verbotener Veranstaltungen noch nicht angerufen. 

Auch die Welt (Jan Alexander Casper) gibt einen Überblick über die Praxis von Behörden und Gerichten. In die Gefahrprognosen fließen in Berlin ein: jüngste Einsatzberichte, Erfahrungen mit vergleichbaren Veranstaltungen aus der Vergangenheit, die Weltlage. Wenn Kundgebungen ohne strafrechtliche Vorkommnisse stattfinden, wie jüngst in Düsseldorf, dann gelte das Prinzip: "Wer zuverlässig friedliche Versammlungen organisiert, kommt zu seinem Recht auf weitere Versammlungen."

Recht in der Welt

USA – Klage gegen Meta: Wegen der möglichen Gefährdung junger Nutzer:innen muss sich der Social-Media-Konzern Meta/Facebook voraussichtlich vor Gericht rechtfertigen. Mehr als drei Dutzend Bundesstaaten haben eine Klage gegen das Unternehmen eingereicht. Darin heißt es, Metas Geschäftsmodell basiere darauf, die Zeit zu maximieren, die junge Menschen auf seinen Plattformen verbringen, der Konzern habe "psychologisch manipulierende Produktfunktionen" entwickelt, um sie zu "zwanghafter und ausgedehnter Nutzung" zu verführen. FAZ (Roland Lindner) und taz (Johannes Drosdowski) berichten. 

USA - Trump/Wahlbeeinflussung in Georgia: Mit der Anwältin Jenna Ellis hat im Prozess gegen Wahlbeeinflussung in Georgia durch Ex-Präsident Donald Trump bereits die vierte von 18 Mit-Angeklagten einen Deal mit der Staatsanwaltschaft geschlossen. Die Anwältin bekannte sich der Beihilfe zu Falschaussagen für schuldig. Sie wurde durch das Gericht in Atlanta zu einer Bewährungsstrafe und gemeinnütziger Arbeit verurteilt. LTO berichtet und gibt einen Überblick über den Stand der Gerichtsverfahren von Donald Trump.

Sonstiges

Pro-palästinensische/antisemitische Meinungsäußerungen: Die SZ (Ronen Steinke) ordnet gängige pro-palästinensische Parolen strafrechtlich ein. Straflos seien Parolen wie "Free Palestine", "End Occupation" und der Begriff "Apartheid" im Zusammenhang mit Israel. Auf den Kontext komme es an bei mehrdeutigen Parolen wie "From the river to the Sea Palestine shall be free". Als Volksverhetzung strafbar ist die Parole "Juden = Kindermörder". 

Syndikusanwält:innen: Die wissenschaftliche Mitarbeterin Lena Forberger schildert auf LTO-Karriere die Arbeit von Syndikusanwält:innen die als Unternehmensjurist:innen nur für ihren Arbeitgeber arbeiten. Sie haben zwar nur einen Mandanten, dort aber ein besonders breites Feld an Fragestellungen. Die Arbeitsbelastung sei meistens geringer als in Großkanzleien – was aber nicht zwangsläufig mit finanziellen Einbußen verbunden sein müsse. 

Bombendrohungen: Angesichts der aktuellen Serie islamistischer Bombendrohungen gibt tagesschau.de (Kerstin Anabah) eine rechtliche Einschätzung. Sie seien gem. § 126 StGB strafbar als "Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten", eventuell auch gem. § 145 StGB als "Missbrauch von Notrufen". Zivilrechtlich drohe die Übernahme der Kosten der polizeilichen Großeinsätze. 

 

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LTO/pf/chr

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 26. Oktober 2023: . In: Legal Tribune Online, 26.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52996 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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