Die juristische Presseschau vom 28. September 2021: Nach­beben der Bun­des­tags­wahl / Deut­sche Wohnen und Co. ent­eignen? / Beschwerde gegen Durch­su­chung des BMJV

28.09.2021

Wie geht es weiter nach der Bundestagswahl? Folgt jetzt die juristische Aufarbeitung der Pannen? Berliner Volksentscheid über die Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen war erfolgreich. BMJV reicht Beschwerde gegen Razzien ein.

Thema des Tages

Nach der Bundestagswahl: Was das Grundgesetz zur Konstituierung des neuen Bundestages vorgibt, welche Entscheidungen die aktuelle Regierung unter Angela Merkel (CDU) noch treffen darf und auf welche Leistungen nicht wiedergewählte Abgeordnete sich nun einstellen können, erfährt man im Gespräch von LTO (Tanja Podolski) mit Rechtsanwalt Robert Hotstegs. So hat etwa der Bundeswahlleiter angekündigt, das offizielle Wahlergebnis am 15. Oktober zu verkünden. In der Folge werde Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble die Einladung zur ersten Sitzung des 20. Bundestages verschicken. Dies hat wegen Art. 39 Abs. 2 Grundgesetz (GG) spätestens 30 Tage nach der Wahl zu geschehen. In der Welt (Christine Haas/Karsten Seibel) erfährt man, dass auch im neuen Bundestag der Beruf der Rechtsanwält:innen weiterhin dominiert.

Wahlrecht: Der Bundestag wird mit 735 Abgeordneten im Vergleich zur 19. Legislaturperiode um weitere 26 Abgeordnete anwachsen (derzeit: 709). Die letzten Reform des Wahlrechts, die den Bundestag leicht verkleinern sollte, ist damit gescheitert. Es berichten spiegel.de (Dietmar Hipp) und FAZ (Daniel Deckers). Bei LTO erfährt man zudem, wie der Bundestag ausgesehen hätte, wenn der gemeinsame Entwurf von FDP, Grünen und Linken die Mehrheit bekommen hätte: Dann würden jetzt nämlich 662 Abgeordnete, also 47 weniger als in der 19. Legislaturperiode, im Bundestag sitzen.

Wahlrechtsverstöße: In der Bundeshauptstadt Berlin ist es an einer Vielzahl von Wahllokalen zu massiven Verzögerungen bei der Stimmabgabe gekommen. Unter anderem gab es Engpässe bei den Wahlzetteln mit der Folge, dass Menschen ihre Stimme nicht abgeben konnten. Der Verfassungsblog (Maximilian Steinbeis) gibt einzelne Erfahrungsberichte wieder und kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Verstößen mitnichten um "eine akademische Erbsenzählerfrage" handele. Vielmehr attestiert der Autor der Stadt Berlin "ein Demokratieversagen". Für eine Wahlanfechtung müsse jedoch ein "mandatsrelevanter Wahlfehler" vorliegen. Sollten sich also Verschiebungen bei den errungenen Mandaten ergeben können, weil Menschen nicht abstimmen konnten, könnte die Wahl angefochten werden.

Gegen den Vorsitzenden der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, laufen Ermittlungen, weil dieser auf seinem Twitteraccount frühzeitig vorläufige Prognoseergebnisse veröffentlicht und dies mit einem letzten Wahlaufruf für seine Partei verbunden hatte. Das Veröffentlichen von Wählerbefragungen vor Ablauf der offiziellen Wahlzeit stellt laut Bundeswahlleiter eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit dar. LTO berichtet.

Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) hat hingegen keine juristischen Folgen zu befürchten. Dass er seinen Wahlzettel so faltete, dass seine Kreuze nach außen hin für die Kamera sichtbar waren, hätte eigentlich zu einer Zurückweisung durch den Wahlvorstand führen müssen. Anschließend hätte Laschet erneut wählen können. Laut spiegel.de hat der Bundeswahlleiter jedoch nun erklärt, dass die Stimme gültig sei, wenn sie erst einmal ihren Weg in die Urne gefunden habe.

TV-Berichterstattung: Wie spiegel.de berichtet, prüfen ARD und ZDF rechtliche Schritte gegen den neuen TV-Sender "Bild-TV". Dieser habe ohne die erforderliche Erlaubnis am Wahlabend Material von ARD und ZDF genutzt.

Rechtspolitik

Sozialisierung von Wohnungsunternehmen: Beim Berliner Volksentscheid über die Sozialisierung von Immobilienkonzernen mit mehr als 3.000 Wohnungen stimmten 56,4 % der Wählerinnen und Wähler für das Vorhaben, 39 % waren dagegen. Die Abstimmungsbeteiligung lag bei 75 %. Der neugewählte Berliner Senat wird damit aufgefordert, "alle Maßnahmen einzuleiten", die zur Überführung der Wohnungen in Gemeineigentum erforderlich sind, und dazu ein Gesetz zu erarbeiten. Rechtlich bindend ist das Votum nicht. Es berichten u.a. LTO, FAZ (Jonas Jansen/Michael Psotta), taz (Timm Kühn/Erik Peter) und spiegel.de (Michael Kröger). Auf tagesschau.de (Max Bauer) und im Hbl (Carsten Herz/Silke Kersting) erscheinen Übersichten im Frage und Antwort-Format.

Jan Heidtmann (SZ) weist darauf hin, dass die Wahlsiegerin in Berlin, Franziska Giffey (SPD), eine Vergesellschaftung als "rote Linie" definiert habe und nun bei den kommenden Koalitionsverhandlungen in eine Klemme gerate, die sie sich selbst geschaffen habe. Für Heike Göbel (FAZ) ist das Votum nichts geringeres als ein Bruch "mit dem, was Deutschland stark macht: der sozialen Marktwirtschaft". Erik Peter (taz) hingegen bescheinigt der Kampagne, weder ideologisch noch dogmatisch argumentiert zu haben. Sie orientiere sich einzig an den Bedürfnissen der Mieter:innen. Nach zehn Jahren des Kampfes gegen den "Mietenwahnsinn" sei die Vergesellschaftung das einzige verbleibende Mittel.

Erscheinungsbild von Beamt:innen: Jost Müller-Neuhoff (tsp) kritisiert die neuen Vorschriften zum Erscheinungsbild von Beamt:innen in Bund und Ländern. Für ihn sei das Gesetz angesichts der längst in allen Schichten gelebten Vielfalt letztlich nur eines: "ein Spießerinnen- und Spießergesetz".

Justiz

AG Osnabrück – FIU und Strafvereitelung/Durchsuchungen: Nach Informationen der SZ (Georg Mascolo/Ronen Steinke) ist beim Amtsgericht Osnabrück eine Beschwerde des Bundesjustizministeriums (BMJV) eingegangen gegen die Rechtsmäßigkeit der Durchsuchungen in den Räumen des BMJV. Die Staatsanwaltschaft hatte die Durchsuchung Anfang September mit der Begründung beantragt, das Ministerium werde auf freiwilliger Basis keine Akten herausgeben. Dies bestreitet das Ministerium in dem Schriftsatz und bezeichnet die Durchsuchung als "unnötig" und letztlich unverhältnismäßig. Bei den Razzien ging es um Vorwürfe gegen Beamte der Zoll-Spezialeinheit "Financial Intelligence Unit" (FIU). Das ebenfalls von den Razzien betroffene Finanzministerium hat sich der Beschwerde vorerst nicht angeschlossen.

EuGH – Google: Am ersten Tag der Verhandlungen vor dem Europäischen Gerichtshof wehrte sich Google laut SZ und spiegel.de gegen die 2018 verhängte Rekord-Kartellstrafe und verwies auf den Rivalen Apple. Die Kommission habe die Augen vor der wahren wettbewerbsrechtlichen Dynamik in dieser Industrie verschlossen, nämlich der zwischen Apples Betriebssystem iOS und Android, erklärte Google-Anwalt Matthew Pickford.

BGH zu Cum-Ex: Der Bundesgerichtshof hat im Juli die Entscheidung des Landgerichts Bonn im Zusammenhang mit zwei angeklagten Börsenhändlern aus London bestätigt und damit erste Leitlinien für künftige Cum-Ex-Verfahren bestimmt. Laut beck-aktuell (Joachim Jahn) ist jedoch insbesondere klar geworden, wie sehr es im Einzelfall auf tatsächlicher Ebene darauf ankomme, wer zu welchem Zeitpunkt was gewusst habe.
 
LVerfG SH zu Windkraft-Ausbau: Das Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein hat entschieden, dass sich das Landesparlament nicht mit einer Bürgerinitiative beschäftigen muss, die für ein Veto-Recht von Gemeinden beim Bau von Windkraft-Anlagen wirbt. Das übergeordnete Ziel der Energiewende falle nicht in die Kompetenz einzelner Gemeinden, heißt es im Urteil, über das die taz-nord (Esther Geisslinger) berichtet.

OLG Frankfurt/M. zu Pferdekauf: Das OLG Frankfurt am Main hat in einem aktuellen Fall klargestellt, dass Vernarbungen im Maulwinkel eines Pferdes keineswegs für eine chronische Erkrankung bei Gefahrenübergang sprächen. Auch wenn der Klägerin beim Kauf des Hengstes gesagt wurde, das Tier habe eine "sportliche Perspektive", könne daraus nicht abgeleitet werden, dass es "in jeder Hinsicht einer […] 'Idealnorm' entspricht." LTO berichtet.

LG Berlin zu Rohrbomben: Ein Lehrer ist vom Berliner Landgericht nach einer Serie von Rohrbomben-Explosionen zu einer Haftstrafe von drei Jahren und zehn Monaten u.a. wegen Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion verurteilt worden. Er hatte Brandsätze aus dem Fenster geworfen bzw. im Innenhof entzündet. Bis auf einen leicht verletzten Fußgänger kam niemand zu Schaden. spiegel.de berichtet.

LG Hanau ­– Sektenmord: Vor dem Landgericht Hanau muss sich nun die inzwischen 60 Jahre alte Claudia H. wegen gemeinschaftlichen Mordes an ihrem damals vierjährigen Sohn verantworten. Ihr wird vorgeworfen, ihren Sohn in einem Sack, den sie über dem Kopf des Kindes zusammenband, in einem Badezimmer schlafen gelegt und ihn dann der Obhut der bereits verurteilten Sektenführerin Sylvia D. überlassen zu haben. Diese hielt den Sohn für eine "Reinkarnation Hitlers" und ließ ihn im Badezimmer ersticken. Die SZ berichtet.

LG Braunschweig – VW-Betriebsratsvergütung: Im Untreue-Prozess gegen drei frühere und einen amtierenden Personalmanager von Volkswagen hat die Staatsanwaltschaft Bewährungsstrafen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren sowie Geldauflagen gefordert. Die Führungskräfte hätten hohen Mitgliedern der Mitarbeitervertretung, darunter dem damaligen Betriebsratschef Bernd Osterloh, unangemessen üppige Bezüge freigegeben. Die Verteidigung forderte Freisprüche. Ein Urteil könnte bereits am heutigen Dienstag fallen. Es berichten SZ und FAZ (Christian Müßgens).

LG München I – Dammbruch in Brasilien: Auch die taz (Patrick Guyton) bringt nun einen ausführlichen Vorabbericht über den am heutigen Dienstag beginnenden Schadensersatz-Muster-Prozess gegen den TÜV-Süd und seine brasilianische Tochtergesellschaft.

LG Kaiserslautern zu Selbstbedienungskasse: Wer an einer Selbstbedienungskasse einen Teil der im Einkaufswagen liegenden Ware nicht einscannt und den Kassenbereich verlässt, ohne sämtliche Waren gescannt und bezahlt zu haben, begeht nach einem Beschluss des LG Kaiserslautern keinen Betrug, sondern einen (versuchten) Diebstahl. Es berichtet für beck-aktuell die Rechtsanwältin Ruth Antea Kienzerle.

Stephan Harbarth im Interview: Die FAZ (Reinhard Müller) hat mit dem aktuellen Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, gesprochen. Der Präsident äußerte sich zur Corona-Krise, zu Staatsreformen, dem Konflikt seines Gerichts mit der EU und zu transnationalen Konzernen. Angesichts der hohen Anzahl an Briefwählenden hebt Harbarth hervor, die Briefwahl sei trotz des eigentlich gegebenen Vorrangs der Urnenwahl ein wichtiges Instrument zur Gewährleistung der Allgemeinheit der Wahl. Nach der Größe des Bundestags gefragt, gibt er zu bedenken, dass dies vom Bundestag selbst – und vom BVerfG – geregelt werden müsse.

70 Jahre BVerfG: In einem Bericht für LTO zeichnet Sebastian Felz, Referent in einem Bundesministerium und Vorstandsmitglied des Vereins Forum Justizgeschichte, die Entwicklung des Bundesverfassungsgerichts zu einem vollwertigen Verfassungsorgan nach. Dabei geht er auch ausführlich auf die Wahl der Roben am Bundesverfassungsgericht ein. Anders als beim Bundesgerichtshof, wo der Bundespräsident die Amtstracht per Anordnung regelt, haben sich die Richterinnen und Richter am BVerfG ihre Amtstracht selbst ausgewählt: Ihre Wahl fiel letztlich auf eine Robe aus schwerroter Seide mit Jabot sowie einem weißen Barett.

Recht in der Welt

IStGH – Afghanistan: Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag will gegen die militant islamistischen Taliban und die Terrorgruppe "Islamischer Staat" in Afghanistan wegen möglicher Kriegsverbrechen ermitteln. Dazu beantragte Chefankläger Karim Khan einen richterlichen Eilbeschluss. Unter den Taliban gebe es zurzeit keine Aussicht mehr auf echte und effektive Ermittlungen innerhalb des Landes, heißt es auf zeit.de.

Sonstiges

Fusion Vonovia/Deutsche Wohnen: Dass die beiden größten deutschen Immobilienkonzerne, Vonovia und Deutsche Wohnen, mit dem Berliner Volksentscheid künftig enteignet werden sollen, hat die beiden Konzerne nicht davon abgehalten, eine Fusion voranzutreiben. Wie LTO schreibt, hat Vonovia nun die Aktienmehrheit (50,49 %) am Konkurrenten Deutsche Wohnen erreicht.

Afghanistan und Völkerrecht: Für den FAZ-Einspruch hat sich der Völkerrechtler Gerd Hankel mit dem Konzept der Schutzverantwortung auseinandergesetzt und wie dies im Zusammenhang mit Afghanistan über die Zeit ausgelegt worden ist.

Das Letzte zum Schluss

Cannabis im Seniorenheim: Weil ihr die Balkonpflanze irgendwie komisch vorkam, rief eine Mitarbeiterin eines Krumbacher Seniorenheims die Polizei. Die rückte an und musste der 91-jährigen Besitzerin der Pflanze erklären, dass es sich dabei um den illegalen Anbau von Cannabis handelte. Die 91-Jährige sei völlig überrascht von dem Verbot gewesen. Da ihr die Pflanze gefallen habe und sie sie schon länger hegte und pflegte, war sie auch mit einer Sicherstellung nicht einverstanden. Letztlich wurde sie laut spiegel.de dennoch konfisziert.

 

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lto/jpw

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 28. September 2021: . In: Legal Tribune Online, 28.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46129 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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