Die juristische Presseschau vom 15. Juli 2021: Justiz-Show­down mit Polen / EGMR zu rus­si­schen Homo-Paaren / Vor­würfe an BVerfG

15.07.2021

Der EuGH und das polnische Verfassungsgericht kämpfen heute um das letzte Wort im Streit um die Justizreform. Der EGMR verurteilt Russland wegen Verletzung von Minderheitsrechten. Andreas Zimmermann greift BVerfG wegen EZB-Urteil an.

Thema des Tages

Polen – Justizreform/Vorrang von EU-Recht: Der Konflikt zwischen dem Europäischen Gerichtshof und Polen spitzt sich zu. Am Mittwochvormittag hat die EuGH-Vizepräsidentin Rosario Silva de Lapuerta in einer Eilverfügung Polen aufgefordert, alle Befugnisse der beim Obersten Gericht angesiedelten Disziplinarkammer auszusetzen. Am Mittwochnachmittag entschied das polnische Verfassungsgericht, dass Polen nicht verpflichtet ist, einstweilige Maßnahmen des EuGH zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit zu beachten, denn der EuGH sei nach den EU-Verträgen nicht zur Kontrolle nationaler Justizsysteme befugt. An diesem Donnerstagvormittag wird der EuGH voraussichtlich im Hauptsacheverfahren entscheiden, dass Aufgaben und Besetzung der Disziplinarkammer gegen EU-Recht verstoßen. An diesem Donnerstagnachmittag wiederum wird das polnische Verfassungsgericht voraussichtlich entscheiden, dass der Vorrang des EU-Rechts gegen die polnische Verfassung verstößt. Es berichten SZ (Florian Hassel) und zdf.de (Felix Zimmermann).

In einem Interview mit der taz (Gabriele Lesser) fordert der ehemalige polnische Verfassungsrichter Jerzy Stepien von der EU, sie könne "nicht untätig zusehen", wenn das polnische Verfassungsgericht den Vorrang von EU-Recht negiert, "denn das würde das Aus für das EU-Gemeinschaftsrecht bedeuten. Jedes der 27 Mitgliedsländer könnte seine Verfassung über das EU-Recht stellen, es mal anerkennen, mal nicht. Das totale Chaos würde ausbrechen."

Rechtspolitik

BaWü-Justizministerin im Interview: Die neue Justizministerin von Baden-Württemberg Marion Gentges (CDU) fordert im Gespräch mit dem Hbl (Heike Anger) einen Pakt für den Rechtsstaat 2.0 oder zumindest einen Justizdigitalisierungsfonds, der eine Anschubfinanzierung für die Einführung der E-Akte leistet. Außerdem befürwortet sie den Einsatz künstlicher Intelligenz bei Gerichten und eine Vereinheitlichung von gerichtlichen IT-Prozessen zwischen den Ländern. 

Klimaschutz: Der Ministerialbeamte Gerald Becker-Neetz stellt im Verfassungsblog fest, dass der Staat bei der Ausgestaltung des Klimaschutzes auch das Sozialstaatsprinzip beachten müsse. Dabei habe er zwar einen weiten Gestaltungsspielraum, die Verteilung der Emissionsrechte dürfe aber nicht bewirken, "dass Ärmere zu wenig heizen können oder nicht mehr in der Lage sind, ihre beruflich notwendige Mobilität zu finanzieren". Im Zweifel müsse allerdings der Klimaschutz Vorrang haben.

LTO beschreibt die Klimaschutz-Maßnahmen, die die EU-Kommission jetzt vorgeschlagen hat. 

Justiz

EuG zu Tax-Rulings/Nike: Die EU-Kommission darf ihre Untersuchung fortsetzen, ob der Sportartikelhersteller Nike in den Jahren 2006 bis 2015 in den Niederlanden ungerechtfertigte Steuervorteile in Form so genannter Tax-Rulings erhalten hat. Das Gericht der Europäischen Union lehnte eine Klage von Nike gegen die Einleitung der Untersuchung ab, so die FAZ (Corinna Budras  u.a.), weil die Position der EU-Kommission derzeit noch vorläufigen Charakter habe. 

EuG zu Lippenstift und Markenrecht: Der Hersteller Guerlain kann die schiffsrumpfartige Form seiner Lippenstifte als dreidimensionale Unionsmarke schützen lassen. Dies entschied laut LTO das Gericht der EU und hob eine anderslautende Entscheidung des Europäischen Amts für geistiges Eigentum auf, das keine bedeutenden Unterschiede zur Lippenstiftform anderer Hersteller feststellte. 

BVerfG zu Corona-Einschränkungen: Der Jurastudent Benjamin Stibi kritisiert in einem Gastbeitrag für die Welt die "Zurückhaltung, fast schon Teilnahmslosigkeit" des Bundesverfassungsgerichts bei der Kontrolle der Corona-Maßnahmen. "Anträge von mir und anderen Beschwerdeführern wurden (fast schon systematisch) entweder mit fadenscheinigen Begründungen abgewiesen oder so lange liegen gelassen, bis sich die Sache erledigt hat." Der Autor plädiert für eine "angemessene Aufarbeitung der Arbeit der Justiz und insbesondere des Bundesverfassungsgerichts in der Pandemie". 

BGH zu Stefan Schostok. Der Bundesgerichtshof hat den Freispruch für Hannovers ehemaligen OB Stefan Schostok (SPD) aufgehoben, so LTO. Das Landgericht Hannover muss nun erneut darüber entscheiden, ob Schostok Untreue begangen hat, als er seinen Büroleiter mit unrechtmäßigen Zulagen bedachte. Dabei muss nun auch geprüft werden, so der BGH, ob die Pflichtverletzung darin lag, dass Schostok mit der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Zulagen ausgerechnet seinen Büroleiter (also den Empfänger der Zulagen) beauftragte. 

BGH zu DSGVO-Auskunft: Der Anwalt Tobias Neufeld informiert auf LTO über eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs von Mitte Juni. Danach hat der BGH den Auskunftsanspruch nach § 15 Datenschutz-Grundverordnung betont weit ausgelegt. So gehörten zu den personenbezogenen Daten, über die ein Versicherer Auskunft geben muss, auch interne Vermerke.

BVerwG – Bandidos: Die am Montag vom Bundesinnenministerium aufgelöste Rockergruppierung Bandidos will beim Bundesverwaltungsgericht gegen den Verwaltungsakt klagen, berichtet LTO. Die Vorwürfe gegen die Rocker beträfen nur Einzelfälle, außerdem habe sich die Gruppierung schon im Vorjahr selbst aufgelöst, argumentiert der Bandidos-Anwalt.

OVG Berlin-BB zur Tesla-Fabrik: Der Elektroauto-Hersteller Tesla darf in seinem neuen Werk in Grünheide schon vor der endgültigen Genehmigung des Projekts die bereits fertiggestellten Anlagen testen. Auch in zweiter Instanz scheiterten Umweltverbände mit einem Eilantrag auf Stopp der Tests, so LTO. Sie hätten nicht deutlich gemacht, welche Gefahren durch die Tests drohen und stattdessen mit Gefahren durch den endgültigen Betrieb argumentiert. 

OLG Frankfurt/M. zu Restaurant-Name: Das Restaurant "Ciao Mamma" muss nicht umbenannt werden, da es keine hinreichende Verwechslungsgefahr mit dem Restaurant "Ciao" gebe. Dies entschied laut LTO das Oberlandesgericht Frankfurt/M. und stellte dabei auf den "Gesamteindruck" ab. 

LSG Bayern zu Video-Verhandlung: Der Richter Henning Müller kritisiert auf zpoblog.de einen Beschluss des Landessozialgerichts Bayern von Mitte Juni. Das LSG hatte den Antrag eines Klägers auf Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung abgelehnt, weil in dessen Privatwohnung das Verbot der Aufzeichnung der Übertragung nicht durchsetzbar sei. Der Autor kritisiert, dass der Anwendungsbereich von Videoverhandlungen damit erheblich eingeschränkt werde. Jedoch sei gerade bei unvertretenen Prozessbeteiligten in der Sozialgerichtsbarkeit die Teilnahme per Videoübertragung einer Nichtteilnahme vorzuziehen.

VG Stuttgart zum Nachtangelverbot: Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat auf Klage von sechs Anglern das nur noch in Baden-Württemberg geltende Nachtangelverbot beanstandet. Eine Begründung liegt laut LTO noch nicht vor. Der Verordnungsgeber hatte mit dem nächtlichen Ruhebedürfnis von Fischen und anderen Tieren argumentiert.

ArbG Frankfurt/M. zu Wirecard-Analystin: Die Commerzbank hat einer Aktienanalystin, die bis kurz vor der Insolvenz zum Kauf von Wirecard-Aktien riet, zu Unrecht gekündigt. Das Arbeitsgericht Frankfurt hat die Kündigung laut beck-community (Markus Stoffels) für rechtswidrig erklärt. Eine Begründung wurde nicht mitgeteilt. 

AG Landshut zu Erntehelfern: Das Amtsgericht Landshut hat einen Großbauern, der mit osteuropäischen Erntehelfern Gurken produziert, wegen Vorenthaltung von Arbeitsentgelt zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt. Der Gurkenbauer habe 2016 in 34 Fällen versäumt, insgesamt rund 240.000 Euro Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen, heißt es laut taz (Jost Maurin) in einem inzwischen rechtskräftigen Urteil aus dem Februar. Die Erntehelfer waren als sozialversicherungsfreie "kurzfristige Beschäftigte" eingestuft worden, obwohl sie in ihrer Heimat keine weitere Einnahmequelle hatten. 

Recht in der Welt

EGMR/Russland – homosexuelle Partnerschaften: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Russland verurteilt, weil dort keinerlei Möglichkeit besteht, homosexuellen Partnerschaften einen rechtlichen Rahmen zu geben. Die Ablehnung der russischen Bevölkerungsmehrheit könne eine Verletzung von Rechten einer Minderheit nicht rechtfertigen. Es berichtet LTO.

EuG/Österreich – Beihilfen für Austrian Airlines: Die EU-Kommission durfte coronabedingte Beihilfen des österreichischen Staats für die Fluggesellschaft Austrian Airlines genehmigen. Das entschied laut spiegel.de das Gericht der Europäischen Union und lehnte eine Klage des Konkurrenten Ryanair ab. Zur Begründung sei auf die besondere Bedeutung der Austrian Airlines für Österreich verwiesen worden.

Türkei – Justiz: Die FAZ (Rainer Herrmann) gibt einen Überblick über den Zustand der türkischen Justiz, die inzwischen weitgehend von der AKP-Regierung kontrolliert werde. Anlass ist die Einstufung der Türkei auf dem Index zur Rechtsstaatlichkeit des World Justice Projects auf Platz 107 von 128 untersuchten Staaten. 

Sonstiges

EU-Vertragsverletzungsverfahren/EZB-Urteil: Rechtsprofessor Andreas Zimmermann hält in der FAZ das Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland für wohl unvermeidlich. Das Bundesverfassungsgericht habe die Grundlagen der EU als einer Rechts- und Wertegemeinschaft in Frage gestellt, die auf der zwingend einheitlichen Geltung des Unionsrechts basiert. Nur der EuGH könne Inhalt und Grenzen des Unionsrechts bestimmen, nicht ein nationales Gericht. Als Lösung des Konflikts schlägt der Autor eine Grundgesetzänderung vor, mit der die Überprüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts für Akte der EU-Organe einschließlich des EuGH begrenzt wird.

Online-Prüfungen: Ein Gutachten der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) kritisiert Software zur digitalen Prüfungsaufsicht, so genannte Proctoring-Programme. Die Programme, mit denen Betrugsversuche verhindert werden sollen, seien nicht in der Lage, die datenschutzrechtlichen Anforderungen zu erfüllen. Es berichten spiegel.de (Armin Himmelrath) und netzpolitik.org (Markus Reuter).

 

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lto/chr

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 15. Juli 2021: . In: Legal Tribune Online, 15.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45477 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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