Die juristische Presseschau vom 13. Juli 2021: LG Erfurt zu Ball­städt-Angriff / Neuer BGH-Senat / Gär­ditz warnt vor Staats­st­reich

13.07.2021

Das LG Erfurt hat den Nazi-Angriff auf eine Kirmesgesellschaft mit Bewährung geahndet. Der BGH richtet einen Hilfssenat für Dieselklagen ein. Klaus Gärditz wertet das Vertragsverletzungsverfahren der Kommission als versuchten Staatsstreich.

Thema des Tages

LG Erfurt zu Neonazi-Angriff auf Kulturzentrum Ballstädt: Das Landgericht Erfurt hat neun Männer, die überwiegend der rechtsextremen Szene angehören, wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Sieben Männer erhielten ein Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung. Der Hauptangeklagte und ein weiterer Angeklagter bekamen ein Jahr und zehn Monate auf Bewährung. Bestraft wurde damit der Angriff auf eine feiernde Kirmesgesellschaft im Kulturzentrum von Ballstädt (Thüringen), bei dem 2014 mehrere Besucher zum Teil schwer verletzt wurden. Die Nazis wollten damit den Einwurf einer Scheibe in ihrem Haus rächen. Das Gericht konnte kein rechtsextremes Motiv erkennen, der Ärger wegen einer kaputten Scheibe sei unpolitisch. Eine erste Verurteilung zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung hatte der Bundesgerichtshof wegen mangelhafter Begründung aufgehoben. Diesmal lagen dem Urteil Verständigungen mit den Tätern zugrunde, die das Geschehen meist vage gestanden und denen dafür milde Strafe zugesagt wurden. Von der Nebenklage und in großen Teilen der Öffentlichkeit wurde dieser "Deal mit Nazis" heftig kritisiert. Die milden Strafen könnten die Täter sogar ermuntern. Die Vorsitzende Richterin Sabine Rathemacher nutzte die Urteilsbegründung auch zur Auseinandersetzung mit Nebenklage und Kritikern. Sie sprach von einem "Angriff auf die Gewaltenteilung in nie da gewesenem Umfang". Es berichten SZ (Antonie Rietzschel), FAZ (Stefan Locke), taz.de (Konrad Litschko) und spiegel.de

In einem separaten Kommentar bezeichnet Antonie Rietzschel (SZ) die niedrigen Strafen als skandalös und zugleich unvermeidlich, weil nur durch die Verständigung die Tatbeteiligung sicher beweisbar gewesen sei. Klaus Hillendbrand (taz) hält das Urteil für einen Skandal: "Man kann Menschen verprügeln und in Todesangst versetzen – und muss dafür kaum Konsequenzen fürchten."

Rechtspolitik

Corona – Impfpflicht: Nachdem Wolfram Henn, Mitglied des Deutschen Ethikrats, eine Impfpflicht für Lehrpersonal vorgeschlagen hat, diskutiert Wolfgang Janisch (SZ) den Vorstoß aus verfassungsrechtlicher Sicht. Danach wäre eine Impfpflicht nur "als letztes Mittel" zulässig, wenn Überzeugungsversuche nicht ausreichend erfolgreich sind. Für hohe Hürden spreche, dass den Schüler:innen in der Regel keine schweren Covid-Verläufe drohen und dass die Impfung der Lehrkräfte nicht verhindern kann, dass sich Schüler:innen untereinander anstecken. 

Vorratsdatenspeicherung: Die EU-Kommission hat im Juni ein vertrauliches Non-Paper an die Mitgliedstaaten verschickt, in dem verschiedene Szenarien vorgestellt werden, wie auf Grundlage der restriktiven EuGH-Rechtsprechung auf Ebene der EU oder der Mitgliedstaaten eine Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikations-Daten eingeführt oder beibehalten werden kann. netzpolitik.org (Alexander Fanta) stellt das Papier vor und dokumntiert es auch im Wortlaut. 

Justiz

BGH – Hilfssenat für Dieselklagen: Das Präsidium des Bundesgerichtshofs hat die Einrichtung eines Hilfssenates für die zunehmende Zahl von Fällen mit Bezug zum Diesel-Skandal beschlossen, berichtet beck-aktuell (Joachim Jahn). [Nachtrag 11.45h: Inzwischen hat beck-aktuell die Meldung korrigiert: Der BGH erwäge die Einrichtung eines Hilfssenats.]

BVerfG – Neutralitätspflicht von Merkel/Befangenheit: Die vertraulichen Treffen der Bundesregierung mit dem Bundesverfassungsgericht verdienten "eine gewisse Skepsis", weil sie so intransparent seien, kommentiert Jost Müller-Neuhof (Tsp). Der Befangenheitsantrag gegen die Verfasssungsrichter:innen, den die AfD in einem Verfahren um die Neutralitätspflicht der Kanzlerin gestellt hat, werde das Gericht "auf die Probe" stellen. 

BVerfG – Fehmarnbelt: Das Aktionsbündnis gegen die unterirdische Fehmarnbelt-Querung hat Verfassungsbeschwerde eingelegt und greift damit ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Herbst 2020 an, in dem alle Klagen gegen das Bauwerk abgelehnt wurden. spiegel.de (Alexander Preker) gibt einen Überblick über den Stand der Auseinandersetzung.

BGH zu Beweisanträgen: zpoblog.de (Benedikt Windau) bespricht eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom Mai, in der es um die vermögensrechtliche Abwicklung einer nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft ging. Der BGH hob die Entscheidung der Vorinstanz auf, weil Beweisanträge abgelehnt worden waren. Die Entscheidung liege auf der Linie sämtlicher Zivilsenate des BGH, nach der ein Tatgericht nur in absoluten Ausnahmefällen davon absehen kann, einen angebotenen Zeugenbeweis zu erheben, so der Autor. Außerdem werde es nach den vom BGH nun bestätigten Maßstäben kaum je möglich sein, ein angebotenes Sachverständigen-Gutachten zur Schadenshöhe nicht einzuholen. 

OLG Frankfurt/M. zu Kitaplatz: Wenn der zuständige Landkreis einer Mutter für ihr Kind nur einen Kitaplatz anbietet, zu dem die Fahrzeit je 30 Minuten beträgt und dadurch die Fahrt zur Arbeit je 56 Minuten, dann sei dies unzumutbar, entschied laut LTO das Oberlandesgericht Frankfurt/M. Der Landkreis habe den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz hier nicht erfüllt und müsse den Verdienstausfall der Mutter ersetzen.

VG Bremen zur Abschiebung von Ibrahim Miri: Beide Abschiebungen des als Clan-Chef geltenden Ibrahim Miri in den Libanon waren rechtswidrig, stellte jetzt das Verwaltungsgericht Bremen fest. Im Juli 2019 war Miri noch geduldet und habe deshalb nicht abgeschoben werden dürfen. Im November 2019 hatte sich die Ausländerbehörde nicht an eine eigene Stillhaltezusage gehalten. Miri kann allerdings nicht nach Deutschland zurückkehren, weil die Richter das 2019 verhängte siebenjährige Aufenthalts- und Einreiseverbot für den 19-fach vorbestraften Miri für rechtmäßig halten. Es berichten FAZ (Alexander Hanneke) und spiegel.de.

VG Weimar zu AfD und Verfassungsschutz: Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz hätte 2018 die Einstufung der Landes-AfD als "Prüffall" nicht öffentlich machen dürfen, weil dafür keine Rechtsgrundlage besteht. Das Verwaltungsgericht Weimar folgte damit einer Entscheidung des VG Köln zur Bundes-AfD aus dem Jahr 2019. Inzwischen gilt die Thüringer AfD nicht mehr als Prüffall, sondern als gesichert-extremistische Bestrebung. Es berichtet LTO.

LG Osnabrück zu Corona und Fitnessstudio: Ein Fitnessstudio, das coronabedingt drei Monate geschlossen war, muss die Mitgliedsbeiträge für diesen Zeitraum zurückzahlen, weil die Leistungserbringung unmöglich war, entschied das Landgericht Osnabrück. Dagegen sei es nicht zulässig, den zweijährigen Vertragszeitraum um die schließungsbedingte Zeit zu verlängern, weil hierfür eine gesetzliche Grundlage fehle. LTO berichtet.

AG Berlin-Tiergarten zum Diebstahl eines Goldnestes: Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten hat einen 20-jährigen Clan-Angehöriigen zu einer vierjährigen Jugendstrafe verurteilt, weil er 2019 mit einem unbekannten Mittäter ein gut gesichertes goldenes Vogelnest im Materialwert von 30.000 Euro aus einer Schule gestohlen hatte. Die Verteidigung hatte darauf hingewiesen, dass der Täter als erster seiner Familie eine Berufsausbildung abgeschlossen habe und inzwischen auf einem guten Weg sei. spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet. 

StA München II – Maskenpflicht an Schulen/Rechtsbeugung: Die Staatsanwaltschaft München II hat gegen eine Familienrichterin aus Weilheim kein Ermittlungsverfarhen wegen Rechtsbeugung eingeleitet, es bestehe kein Anfangsverdacht. Die Richterin hatte im April auf Anregung der Eltern zwei Kinder von der schulischen Maskenpflicht befreit, weil diese das Kindeswohl gefährde. Selbst wenn die Entscheidung falsch war, habe sich die Richterin nicht "vom Recht entfernt", so die Staatsanwaltschaft. In der konkreten Sache wird demnächst eine mündliche Verhandlung stattfinden, berichtet LTO (Tanja Podolski).

Recht in der Welt

Carla del Ponto: Die FAZ (Julia Anton) stellt das neue Buch von Carla del Ponte vor: "Ich bin keine Heldin – Mein langer Kampf für Gerechtigkeit". Del Ponte war von 1999 bis 2007 Chefanklägerin am Jugoslawien-Gerichtshof und von 2011 bis 2017 Mitglied einer UN-Kommision zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen in Syrien. In ihrem Buch klagt del Ponte die internationale Strafjustiz und die Vereinten Nationen an und wirft ihnen vor, Menschen- und Völkerrechte nicht adäquat zu schützen und durchzusetzen. 

Polen – Bürgerbeauftragter: Vor wenigen Tagen hat der Sejm mit den Stimmen von Regierungsparteien und Opposition den Rechtsprofessor Marcin Wiącek als neuen Bürrgerbeauftragen gewählt. Wiącek sieht sich nicht als Bürgerrechtler, sondern als unpolitischen Wissenschaftler, heißt es im Portrait der SZ (Florian Hassel). Wiącek ist auch bereit, die bisherigen Justizreformen zu akzeptieren: "Es kann nicht sein, dass Staatsorgane die Existenz oder Kompetenz anderer infrage stellen." Dies führe zu rechtlichem Chaos. 

Niederlande – Mord an Anwalt: In den Niederlanden hat der Prozess gegen die mutmaßlichen Mörder des Anwalts Derk Wiersum begonnen. Wiersum vertrat einen Kronzeugen, der bereit war gegen den Drogenboss Ridouan Taghi auszusagen. Vor wenigen Tagen wurde der Journalist Peter R. de Vries Opfer eines Anschlags, er war Vertrauensperson des Kronzeugen. Die FAZ (Thomas Gutschker/David Klaubert) gibt einen Überblick über das Verfahren und die Zusammenhänge. 

Sonstiges

EU-Vertragsverletzungsverfahren/EZB-Urteil: Rechtsprofessor Klaus Gärditz kritisiert im FAZ-Einspruch das Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland als "versuchten Staatsstreich von oben", weil es von einem umfassenden Vorrang des EU-Rechts ausgehe. Die EU-Kommission sei als Hüterin der Verträge auch unglaubwürdig, da sie ein institutionelles Interesse an der vom Bundesverfassungsgericht gerügten geringen Kontrolldichte durch den EuGH habe. Der EuGH sollte aber selbst ein Interesse an einer stärkeren Kontrolldichte haben.

Bandidos: Innenminister Horst Seehofer (CSU) hat den Gesamtverein der Rockergruppierung Bandidos mit allen Teilgruppierungen nach dem Vereinsrecht verboten, berichtet LTO. Zweck und Tätigkeit der Bandidos liefen den Strafgesetzen zuwider. Der Verein hatte zwar im April die eigene Auflösung bekannt gegeben. Ermittlungen des Innenministeriums hatten jedoch ergeben, dass der Verein immer noch existiere.

Polizei Hessen: Die FAZ (Marlene Grunert) informiert über den Bericht und die Vorschläge der Expertenkommission zur Aufarbeitung der Skandale der hessischen Polizei. 

Juristische Ausbildung

LG Hamburg – verkaufte Klausuren: Das Landgericht Hamburg wird ab Oktober gegen einen Anwalt und Repetitor Bestechung im besonders schweren Fall und Anstiftung zur Verletzung des Dienstgeheimnisses verhandeln. Er steht unter dem Verdacht von einem bereits verurteilten niedersächsischen Richter Klausurlösungen aus dem niedersächsischen Staatsexamen erhalten zu haben. Die Erlöse aus dem Verkauf der Klausuren wollten sich die beiden Juristen teilen. LTO berichtet.

Das Letzte zum Schluss

Videoüberwachung schützt auch Katzen: Die SZ (Alexander Menden) beschreibt, wie ein Mann, der in Brighton regelmäßig Katzen verletzte, durch die Aufnahmen einer Videoüberwachungsanlage überführt werden konnte. Nach der Verhaftung des Mannes hörten die Angriffe auf die Katzen von Brighton schlagartig auf. 

 

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lto/chr

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 13. Juli 2021: . In: Legal Tribune Online, 13.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45454 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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