Die juristische Presseschau vom 1. Juli 2021: Bilanz des Jugosla­wien-Tri­bu­nals / Staats­an­walt Seitz aus dem Dienst ent­fernt / VW geht zum US-Sup­reme Court

01.07.2021

Chefankläger Serge Brammertz zieht eine gemischte Bilanz der Tätigkeit des ICTY. Der Richterdienstgerichtshof BaWü entscheidet gegen den AfD-Abgeordneten Thomas Seitz. Ein Gericht in Ohio bringt VW in neue Schwierigkeiten.

Thema des Tages

ICTY – Bilanz: Nachdem der Internationale Jugoslawien-Gerichtshof das letzte erstinstanzliche Urteil gesprochen und zwei serbische Geheimdienstler verurteilt hat, zieht der Chefankläger Serge Brammertz im Gespräch mit spiegel.de (Heiner Hoffmann) Bilanz. Es habe 161 Anklagen gegeben, es seien keine Täter mehr flüchtig. Allerdings leugneten "verantwortungslose Politiker" immer noch die Verbrechen ihrer Volksgruppe. 

Rechtspolitik

Gesichtserkennung: Der Innen/LIBE-Ausschuss des Europäischen Parlaments hat sich für ein Moratorium bei der biometrischen Gesichtserkennung im öffentlichen Raum ausgesprochen "bis deren technische Standards voll die Grundrechte wahren und ihre Ergebnisse nicht verzerrt oder diskriminierend sind", berichtet netzpolitik.org (Alexander Fanta). Der Einsatz privater Gesichtserkennungsdatenbanken wie von der US-Firma Clearview AI durch Strafverfolgungsbehörden müsse verboten werden. 

EU: Europäische Richter sollten in die Konferenz über die Zukunft der EU einbezogen werden. Das fordert der in Indien lehrende Rechtsprofessor Max Steuer im Verfassungsblog (in englischer Sprache). 

Justiz

RiDGH BW zu StA Thomas Seitz: Der Richterdienstgerichtshof von Baden-Württemberg hat Staatsanwalt Thomas Seitz aus dem Dienst entfernt und damit eine Entscheidung des erstinstanzlichen Richterdienstgerichts von 2018 bestätigt. Seitz, der inzwischen AfD-Bundestagsabgeordneter ist, habe bei Äußerungen im Internet wiederholt seine Pflicht zur Mäßigung verletzt und damit den Eindruck erweckt, dass er Personen mit Migrationshintergrund nicht unvoreingenommen behandele. Außerdem habe er seine Pflicht zur Verfassungstreue verletzt, vor allem indem er von "Gesinnungsjustiz" sprach. Es berichten die BadZ (Christian Rath) und spiegel.de

EuGH: Koen Lenaerts, der Präsident des Europäischen Gerichtshofs, verwahrte sich bei einer Veranstaltung gegen den Vorwurf, der EuGH entscheide nahezu ausschließlich zugunsten der Union und nicht zugunsten der Mitgliedstaaten. An diesem Punkt seien auch die Richter des Bundesverfassungsgerichts schlecht informiert, sagte Lenaerts laut FAZ (Reinhard Müller)

BGH zu Banken-AGBs: Der Verbraucherzentrale Bundesverband droht mit einer Musterfeststellungsklage, wenn Banken nicht von sich aus das Urteil des Bundesgerichtshof zu Banken-AGBs umsetzen und den Kund:innen zu Unrecht erhobene Gebühren zurückzahlen. Zunächst richtete der Verband ein anonymes Online-Portal ein, auf dem Bankkund:innen das Verhalten ihrer Bank mitteilen können, berichtet spiegel.de.

BAG zu entsandten Pflegekräften: Die Zeit (Charlotte Parnack u.a.) untersucht die Folgen des vorige Woche verkündeten Urteils des Bundesarbeitsgerichts, wonach entsandte ausländische Pflegekräfte auch für Bereitschaftszeiten Anspruch auf den deutschen Mindestlohn haben. Dies könnte dazu führen, dass die Schwarzarbeit weiter zunehme oder dass entsandte Pflegekräfte zunehmend als Selbständige auftreten, für die Arbeitnehmerrechte nicht gelten. Vorgestellt wird auch das österreichische Modell, wonach entsandte Pflegekräfte als Selbständige mit gewissen Schutzrechten agieren. 

OLG Karlsruhe zu Corona und Betriebsschließungsversicherung: Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat bei einem Heidelberger Hotel die Leistungspflicht seiner Betriebsschließungsversicherung wegen des Corona-Lockdowns bejaht. Die Versicherung hatte im Kleingedruckten auf das Infektionsschutzgesetz verwiesen und dabei nicht deutlich genug gemacht, dass sie nur beim Auftreten bestimmter Erreger zahlen wolle. LTO berichtet. Es komme auf die jeweilige Vertragsgestaltung an.

OLG Stuttgart – Wirecard: Nun berichtet auch die FAZ (Marcus Jung), dass Klagen von Wirecard-Anlegern gegen die Wirtschaftsprüfer von EY nur beim Landgericht München I möglich sind und nicht beim Landgericht Stuttgart. Dies hatte das Oberlandesgericht Stuttgart entschieden. 

VG Mainz zum Grillen im Park: Das Verwaltungsgericht Mainz lehnte die Klage eines Anwohners des Mainzer Volksparks auf Schließung der dortigen Grillwiese ab. Seine Belästigung durch Rauch und Grillgeruch sei nicht erheblichlich, sondern ortsüblich, berichtet LTO.

LG Arnsberg zu ehelicher Vergewaltigung: Die Zeit (Felice Gritti) beschreibt in einer Justizreportage, wie die deutsche Justiz in fünf aufeinanderfolgenden Urteilen versuchte, den Vergewaltigungsvorwurf einer kosovarischen Ehefrau gegen ihren kosovarischen Ehemann aufzuklären. Die Widersprüche in der Aussage der Frau wurden mal dem Randgeschehen, dann wieder dem Kerngeschehen zugeordnet. Nach zwölf Jahren sprach das Landgericht Arnsberg den Mann jetzt rechtskräftig frei. 

ArbG Köln zu Corona-Maskenpflicht: Ein Außendienst-Mitarbeiter darf gekündigt werden, wenn er sich ohne sachgerechtes Attest weigert, bei Kundenterminen eine medizinische Maske zu tragen. Dies entschied laut LTO das Arbeitsgericht Köln. Der Mann hatte nur ein Attest ohne konkrete Diagnose vorgelegt, sich aber einer betriebsärztlichen Untersuchung verweigert.

AG Frankfurt/M. zu Corona-Maskenpflicht: Wer wegen Nichtbeachtung der Maskenpflicht von der Polizei kontrolliert wird und ein vorhandenes ärztliches Attest nicht vorzeigt, kann zwar nicht zu einem Bußgeld verurteilt werden, muss aber seine Anwaltskosten selbst tragen. Das entschied des Amtsgericht Frankfurt/M. laut LTO. Das Vorzeigen von Asthma-Spray sei nicht ausreichend gewesen, weil jeder solche Sprays mit sich führen könne.

StA Erfurt – Rechtsbeugung und Corona-Maskenpflicht: LTO (Tanja Podolski) berichtet vertieft über das Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung gegen den Weimarer Familienrichter, der die Maskenpflicht an örtlichen Schulen als Kindeswohlgefährdung beanstandet hatte. Die zweite Welle von Hausdruchsuchungen betraf neben Räumen des Richters auch die Sachverständigen des Verfahrens, die Mutter, die das Verfahren angeregt hat, sowie deren Anwältin und einen weiteren Richter des Amtsgerichts, alle jeweils als Zeugen. Zudem geht der Artikel auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ein, wonach Verfahren wegen vermeintlicher Kindeswohl-Gefährung durch die Maseknpflicht nicht ans Verwaltungsgericht verwiesen werden dürfen, sondern vom Familiengericht ggf. einzustellen seien. 

Stuttgarter Krawallnacht: In einer Landtags-Debatte zur Stuttgarter Krawallnacht vom 21. Juni 2020 zog die neue Justizministerin Marion Gentges (CDU) eine Zwischenbilanz: Gegen mehr als 150 Personen seien Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. 83 Personen seien verurteilt worden, 65 davon bereits rechtskräftig. Konsequente Strafverfolgung sei unverzichtbar, aber sie sei nur mit ausreichend Personal möglich, sagte Gentges und warb damit laut LTO für zusätzliche Personalstellen in der Justiz.

Recht in der Welt

USA –​​​​​​​ VW-Dieselmanipulationen: Das Oberste Gericht des US-Bundesstaats Ohio entschied, dass weitere Sanktionen auf Ebene des Bundesstaats möglich sind, obwohl VW sich schon auf Bundesebene zur Zahlung von Milliardensummen verpflichtet hatte. VW will in dieser Sache nun den Supreme Court der USA anrufen, berichten FAZ (Carsten Germis/Roland Lindner) und spiegel.de.

Polen –​​​​​​​ Tagebau Turow: Die SZ (Florian Hassel) schildert den Konflikt um den polnischen Braunkohle-Tagebau Turow im Drei-Länder-Eck Polen-Tschechien-Deutschland. Tschechien hatte Polen im Februar beim EuGH verklagt, weil die Verlängerung des Tagebaus bis 2044 gegen EU-Recht verstoße und die tschechische Wasserversorgung gefährte. Der EuGH verlangte einen Stopp des Tagesbaus, was Polen ignoriert. Inzwischen hat Tschechien Zwangsgelder beantragt und auch die EU-Kommission hat Polen verklagt. Derzeit verhandeln Polen und Tschechien über eine gütliche Einigung.

Finnland –​​​​​​​ Mord auf Ostseefähre: Das Bezirksgericht Turku hat den angeklagten Herman H. vom Vorwurf des Mordes und versuchten Mordes freigesprochen. H. war angeklagt, das deutsche Touristenpaar Klaus S. und Bettina T. vor rund dreißig Jahren auf der Ostseefähre "Viking Sally" ermordet zu haben. Sein bei der Polizei erfolgtes Geständnis ließ das Gericht wegen Verletzung polizeilicher Hinweispflichten nicht als Beweismittel zu. Die übrigen Beweise reichten laut Gericht nicht für eine Verurteilung, so spiegel.de (Ricarda Richter/Jean-Pierre Ziegler)

USA –​​​​​​​ Bill Cosby: Das oberste Gericht des US-Staates Pennsylvania hat das Urteil gegen den früheren Entertainer Bill Cosby wegen sexueller Nötigung aufgehoben. Cosby hätte nicht angeklagt werden dürfen, weil dabei Aussagen von Cosby verwendet wurden, die er in einem Zivilverfahren machte, nachdem ihm der Ankläger zugesichert hatte, diese nicht strafrechtlich zu werten. Der Amtsnachfolger des Anklägers hielt sich nicht an diese Zusicherung, was nun zur Aufhebung des Urteils führte, so zeit.de.

Sonstiges

Baerbock und Urheberrecht: Der 80-jährige Anwalt Paul W. Hertin hat festgestellt, dass die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock in ihrem neuen Buch mindestens eine Urheberrechts-Verletzung begangen hat, so bild.de. Es gehe um eine Aussage des US-Politikwissenschaftlers Michael T. Klare. In der SZ (Roland Preuss) wird Klare mit der Aussage zitiert, er sehe Baerbocks Text "nicht als Plagiat". Dort wird außerdem der Rechtsprofessor und Plagiatsjäger Volker Rieble erwähnt, der mangels Schöpfungshöhe keine Urheberrechtsverletzungen erkennen kann. 

Sexueller Missbrauch: Der "Nationale Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen" fordert, dass Gerichtsverfahren zu sexuellem Missbrauch kindgerechter werden sollen. Von Videovernehmungen werde nicht genug Gebrauch gemacht, die Justiz sei nicht hinreichend geschult. LTO berichtet über ein entsprechendes Papier des Nationalen Rats.

Flugverkehr und Entschädigungen: Der Europäische Rechnungshof hat beanstandet, dass Fluggesellschaften während der Corona-Krise bei Flugausfällen Gutscheine verteilten statt Entschädigungen zu zahlen. Dadurch sei EU-Recht verletzt worden. Auch die EU-Staaten werden kritisiert. 15 EU-Staaten hätten die Praxis "Gutschein statt Erstattung" legitimiert, so LTO

Virtuelle Einigungsstelle: Die Anwälte Robert von Steinau-Steinrück und Nils Jöris plädieren auf LTO dafür, dass die Teilnahme an Sitzungen einer arbeitsrechtlichen Einigungsstelle weiterhin mittels Video- und Telefonkonferenz erfolgen kann. Die entsprechende gesetzliche Grundlage ist zwar Ende Juni außer Kraft getreten, sie sei aber für eine entsprechende Praxis nicht konstitutiv erforderlich. 

 

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lto/chr

(Hinweis für Journalist:innen)   

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 1. Juli 2021: . In: Legal Tribune Online, 01.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45355 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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