Die juristische Presseschau vom 15. Oktober 2021: Berlin-Wahl geht vors Ver­fas­sungs­ge­richt  / BFH-Spit­zen­posten bleibt unbe­setzt / Kli­maklage in Frank­reich erfolg­reich

15.10.2021

Landeswahlleitung will Einspruch gegen Berliner Wahlergebnisse beim VerfGH Berlin erheben. VG München stoppt Berufung von Anke Morsch als Vizepräsidentin am BFH. Laut Pariser Gericht muss Frankreich überhöhte CO2-Emissionen kompensieren. 

Thema des Tages

VerfGH Berlin – Wahl zum Abgeordnetenhaus: Die noch amtierende Landeswahlleiterin Petra Michaelis kündigte an, die Landeswahlleitung werde beim Berliner Verfassungsgerichtshof Einspruch gegen Ergebnisse der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus erheben, was ab Bekanntmachung des endgültigen Wahlergebnisses im Amtsblatt möglich sei. Der Verfassungsgerichtshof muss dann prüfen, ob eine Wiederholung der Wahl in zwei Wahlkreisen erforderlich ist. In Wahlkreis 6 im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf und im Wahlkreis 1 im Bezirk Marzahn-Hellersdorf könnten die Unregelmäßigkeiten – u.a. Unterbrechungen des Wahlgeschehens oder fehlende Stimmzettel – wegen des jeweils knappen Abstimmungsergebnisses mandatsrelevant sein. Es berichten taz (Anna Klöpper), LTO und spiegel.de. Das Hbl (Dietmar Neuerer) stellt den Vorgang und die rechtlichen Folgen in dem Fragen-und-Antwort-Form dar. 

Reinhard Veser (FAZ) hebt in seinem Kommentar hervor, dass nicht nur im Ausland, sondern auch in Deutschland Wahlen, und damit der "zentrale Legitimationsakt der Demokratie", verletzlich seien. Notwendig sei nun die Untersuchung dieses "Fiaskos" durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss.

Rechtspolitik

Cannabis: Der Ulmer Psychiater Maximilian Gahr warnt im Interview mit spiegel.de (Julia Koch) vor einer völligen Legalisierung des Handels mit Cannabis. Er habe in den letzten Jahren eine starke Zunahme von durch Cannabis ausgelösten Psychosen und anderen psychischen Störungen beobachtet. Entkriminalisiert werden solle nicht der Handel, sondern nur der Konsum und auch dies nur für Personen deutlich über 19 Jahren. 

Energie-Charta-Vertrag: Auf dem Verfassungsblog erläutern die NGO-Jurist:innen Nathalie Bernasconi-Osterwalder, Lukas Schaugg und Amandine Van den Berghe, dass ein "Rücktritt" aus dem Energiecharta-Vertrag (ECT), der 1994 ratifiziert wurde und 54 Vertragsparteien hat, völkerrechtlich möglich und klimapolitisch richtig sei. Der Vertag stelle eine "Bedrohung für die Energiewende" dar, weil er zu investorenfreundlich sei. Da Bemühungen den ECT mit den EU-Klimazielen abzustimmen, bis jetzt scheiterten, bestreben einige Mitgliedstaaten einen Rücktritt. Die Autoren beleuchten welche Form eines Rücktritts oder einer Modifizierung des Vertrags am erfolgversprechendsten wäre.

UN-Menschenrechtsrat: Bei der Abstimmung über die Neubesetzung des UN-Menschenrechtsrats wurden exakt die 18 Kandidaten gewählt, die sich für die 18 Sitze beworben hatten, unter ihnen auch Länder wie Eritrea, Kamerun, Kasachstan, Katar und Somalia, die sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, Menschenrechte ihrer eigenen Bürger zu verletzen. Dazu äußerte sich die Nichtregierungsorganisation UN Watch kritisch: es werde befürchtet, dass die genannten Länder auch die Umsetzung von Menschenrechtsschutz im Rat boykottieren werden, so taz (Marc Engelhardt)

Justiz

VG München zu BFH-Vizepräsidentin: Die Besetzung des Postens der Vizepräsident:in am Bundesfinanzhof bleibt weiter offen. Die Berufung der vom Bundesjustizministerium vorgeschlagenen Kandidatin Anke Morsch wurde vom Verwaltungsgericht München vorerst gestoppt. Das Gericht gab den Eilanträgen von drei unterlegenen Konkurrenten statt. Morschs Status als Präsidentin des saarländischen Finanzgerichts sei beamtenrechtlich niedriger als der der Konkurrenten, die als Senatsvorsitzende am BFH arbeiten. Deshalb hätte das Bundesfinanzministerium Morsch laut Gericht nicht als "leistungsstärkste Bewerberin" einstufen dürfen, jedenfalls nicht ohne detaillierte Begründung. Die Stelle darf nun nicht mit Morsch besetzt werden, bis eine neue Auswahlentscheidung getroffen wurde. Es berichten FAZ, spiegel.de und LTO.

EuGH – EU-Rechtsstaatlichkeit und Finanzen: In einem Beitrag auf dem Verfassungsblog schildert die Rechtsanwältin Roya Sangi ausführlich den Verlauf der zweitägigen mündlichen Verhandlung vor dem Plenum des EuGH am 11. und 12. Oktober zu den Klagen von Ungarn und Polen gegen die EU-Verordnung zum Schutz des Haushalts der Union, den neuen finanziellen Rechtsstaatsmechanismus,. Laut Autorin saßen die "Vertreter der ungarischen und polnischen Regierungen im Gerichtssaal so isoliert wie die AfD im Bundestag". Rechtsprofessor John Morijn gibt auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) ebenfalls einen Überblick über die Verhandlung und unterteilt ihn nach den fünf bedeutsamsten Momenten.

BVerfG zu Kindeswohlgefährdung und Inklusion: Laut Beschluss des Bundesverfassungsgerichts muss eine Mutter, die nach Einschätzung der Gerichte ihre Tochter schulisch überfordert und damit das Kindeswohl gefährdet hat, den Teilentzug ihres Sorgerechts dulden. Damit bestätigte das BVerfG die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz und nahm die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde der Mutter nicht zur Entscheidung an. Die heute 16-jährige Tochter, die gutachterlich als "leicht intellektuell behindert" eingestuft worden war, sei entgegen der Empfehlung erst auf ein Gymnasium und dann auf eine Realschule plus geschickt worden. Dort habe sie sich nicht einfügen können und seelisch sehr unter dem durch die Mutter ausgeübten Leistungsdruck gelitten, woraufhin das Jugendamt beantragte, der Mutter das Recht zur Bestimmung der Schulwahl zu entziehen, um das Kind auf eine Förderschule zu schicken. Die Mutter ging in ihrer Verfassungsbeschwerde jedoch davon aus, dass das Kind ein Recht auf inklusive Beschulung hat. Das BVerfG ließ dies offen und stellte fest, dass auch ein Recht auf inklusiven Unterricht ggf. keine Kindeswohlverletzung durch die Mutter rechtfertigen könne. Es berichten taz (Christian Rath) und LTO

BAG zu Klageanträgen von Gewerkschaften: Gewerkschaften können die Rechte ihrer Mitglieder "vorerst anonym" geltend machen, entschied das Bundesarbeitsgericht. Damit hat es die prozessualen Anforderungen an die Bestimmtheit des Klageantrags gelockert, der nun zunächst nicht die Namen der Gewerkschaftsmitglieder enthalten muss, deren Rechte die Gewerkschaft durchsetzen will. Geklagt hatte der Bayerische Journalisten-Verband, der dem Bayerischen Rundfunk die Verletzung des Haustarifvertrages vorwarf, ohne die Namen der aus dem Tarifvertrag berechtigten Gewerkschaftsmitglieder nennen zu wollen. Dieses Dilemma sei durch die Entscheidung des BAG nun gelöst, so Anwalt Alexander Willermsen auf LTO.

BAG zu Pfändung von Altersvorsorge: Die Beiträge des Arbeitgebers für eine Direktversicherung zur betrieblichen Altersvorsorge sind nicht pfändbar. Dies entschied laut beck-aktuell (Joachim Jahn) das Bundesarbeitsgericht. Der Entscheidung lag die Klage eines Mannes zugrunde, der Beiträge zur betrieblichen Altersversorgung pfänden lassen wollte, die der Arbeitgeber der Ex-Frau entrichtet. Das BAG verneinte die Pfändbarkeit der Beiträge selbst dann, wenn erst nach Pfändungsbeschluss vereinbart wurde, dass ein Teil künftiger Entgeltansprüche des Arbeitnehmers in betriebliche Altersversorgung umgewandelt werden soll. 

OVG Nds zu Jagdrecht: Die ganzjährige Schonzeit für Bläss- und Saatgänse ist laut Urteil des niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts rechtmäßig. Die entsprechende Durchführungsverordnung zum Niedersächsischen Jagdgesetz, gegen die einige Landwirte und Jagdpächter geklagt hatten, verfolge das Ziel, den "artenreichen Wildbestand zu erhalten" und Fehlabschüsse der jeweils in ihrem Bestand gefährdeten Zwerg- und Waldsaatgänse zu vermeiden. Bei den Gänsearten bestehe eine hohe Verwechslungsgefahr, was die umfängliche Schonzeit-Regelung erforderlich mache. LTO berichtet.

OLG Dresden – militante Antifa/Lina E.: Die SZ (Antoine Rietzschel) stellt dar, dass in dem Gerichtsprozess gegen Lina E. und drei Mitangeklagte Zweifel an der Integrität einiger rechtsextremistischer Opferzeugen laut werden. Die Aussagen vor Gericht weichen teilweise von den Aussagen bei der Polizei ab. Es bestehe der Verdacht, dass die Zeugen ihre Aussagen abgesprochen haben.

LG Dresden – Juwelendiebstahl im grünen Gewölbe: Gegen einen der sechs Beschuldigten im Fall des Juwelendiebstahls im Grünen Gewölbe wurde, mangels dringendem Tatverdacht, der Haftbefehl aufgehoben, so spiegel.de und bild.de. Der Betroffene kommt aber vorerst nicht frei, weil er gerade eine Freiheitsstrafe wegen der Beteiligung am Goldmünzen-Raub aus dem Berliner Bode-Museum Berlin verbüßt. 

LG Osnabrück – Durchsuchung im BMJV: Der Tsp (Jost Müller-Neuhof) zitiert "exklusiv" aus dem Anwaltsschreiben, mit dem Bundesministerin Christine Lambrecht (SPD) Beschwerde gegen die Durchsuchung ihres Ministeriums kurz vor den Bundestagswahlen einlegte. Die Durchsuchung sei inszeniert. "In Wahrheit" habe bei den Ermittlern "keine ernsthafte Besorgnis" bestanden, dass mögliches Beweismaterial nicht vollständig oder freiwillig herausgegeben würde. Auch das zugrundeliegende Ermittlungsverfahren wegen Strafvereitelung gegen Mitarbeiter:innen der Geldwäsche-Einheit FIU des Zoll wird kritisiert. Es bestehe "nicht die Spur eines Anfangsverdachts". 

BAW – Zwangsarbeit von Uiguren in China: Die Bundesanwaltschaft wird mangels tatsächlicher Anhaltspunkte keine Ermittlungen gegen die Manager:innen von deutschen Textilfirmen wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufnehmen. Eine Strafanzeige der NGO European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), die sich auf den Ankauf von chinesischen Textilien bezieht, die möglicherweise durch Zwangsarbeit von Uiguren hergestellt werden, hat damit zunächst keinen Erfolg. Es berichtet die SZ (Caspar Dohmen)

Recht in der Welt

Frankreich – Klimaschutz-Urteil: Das Pariser Verwaltungsgericht entschied, dass Frankreich bis Ende 2022 einen Ausgleich für zu viel ausgestoßene Treibhausgase schaffen muss, weil es die selbst gesetzte Obergrenze für die Jahre 2015 bis 2018 um mehrere Millionen Tonnen überschritten hat. Das Gericht überließ der Regierung, welche konkreten Maßnahmen vorzunehmen sind. Der Entscheidung lag eine Untätigkeitsklagen von vier Umweltorganisationen zugrunde, so spiegel.de.

Belgien – Entzug von Kindern in der Kolonialzeit: Fünf kongolesische Frauen gehen gerichtlich gegen den belgischen Staat wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Kolonialzeit vor, so spiegel.de. Der Staat soll zu Zeiten der kolonialen Herrschaft die Töchter von kongolesischen Müttern und belgischen Vätern von ihren Familien getrennt und in christliche Waisenhäuser gebracht haben. Der belgische Kolonialstaat habe solche Trennungen von belgisch-kongolesischen Kindern systematisch durchgeführt, was in einer offiziellen Entschuldigung von 2019 zugegeben wurde. Das reiche den klagenden Frauen jedoch nicht: sie wollen Entschädigung und Zugang zu den staatlichen Dokumenten, die ihre Fälle betreffen.

Spanien – Lucas Hernández: Dass der französische Abwehrspieler des FC Bayern München Lucas Hernández bald wieder aufs Spielfeld zurückkehren kann, ist nach Schilderungen von SZ (Javier Cáceres) und FAZ (Hans-Christian Rössler) unwahrscheinlich. Der Fußballer muss am kommenden Dienstag vor dem Strafgericht 32 in Madrid erscheinen, um einen gegen ihn ausgestellten Vollstreckungsbefehl entgegenzunehmen. Hernández ist wegen Missachtung eines Gerichtsurteils, das wegen häuslicher Gewalt ein Kontaktverbot zu seiner Partnerin verfügte, zu sechs Monaten Haft verurteilt. Dass Hernández mit der Frau inzwischen seit drei Jahren verheiratet ist, dürfte das Gericht nicht milde stimmen, weil er wegen häuslicher Gewalt bereits zweifach vorbestraft ist.

Kuwait – Transgender: Ein Gericht in Kuwait hat eine Transgender-Frau zu zwei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt, weil die 40-Jährige Maha al-Mutairi "das andere Geschlecht nachgeahmt habe", was nach dem kuwaitischen Gesetz unzulässig ist. Entgegen ihres Antrag sei die Verurteilte nicht in ein Gefängnis für Frauen, sondern in ein Männergefängnis verbracht worden, wo sie einer erhöhten Missbrauchsgefahr ausgesetzt sei. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch stellt sich gegen das Urteil und fordert die Freilassung Al-Mutairis, so spiegel.de und bild.de.

Sonstiges

Sexuelle Belästigung im Betrieb: Die Anwältin Julia Viohl schildert im Interview mit spiegel.de (Verena Töpper), dass Vorwürfe wegen sexueller Belästigung im Betrieb heute viel häufiger ernst genommen werden als früher. In 70 Prozent der Fälle verliere der Belästiger den Job. 

Cyberattacken gegen Kanzleien: Vor der zunehmende Gefahr für Kanzleien, Opfer von Cyberattacken zu werden, warnt Rechtsanwalt Marc Maisch auf LTO. So habe eine Schadsoftware, die in der IT der Anwaltskanzlei DLA Piper durch ein Frühwarnsystem im Jahr 2017 erkannt wurde, neben finanziellen auch "erhebliche Reputationsschäden" nach sich gezogen. Es sei deshalb notwendig, dass Anwaltskanzleien unverzüglich Maßnahmen zum Schutz der eigenen Daten und der Daten ihrer Mandant:innen ergreifen.

Das Letzte zum Schluss

Kuriose Verwechslung: In Bielefeld hatten Zeugen auf einem Supermarkt-Parkplatz eine "ältere Frau" im Kofferraum eines Mannes gesichtet und die Polizei alarmiert. Was erst nach einem kruden Verbrechen aussah, stellte sich jedoch als harmloser Einkauf zur Gartendekoration heraus. So fand die Polizei in dem Kofferraum nur einen Gartenzwerg mit grauen Haaren und roter Zipfelmütze, wie SZ und bild.de berichten.


Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des Mediums. 

Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mr

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 15. Oktober 2021: . In: Legal Tribune Online, 15.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46362 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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