Die juristische Presseschau vom 27. Juli 2021: Kommt die Impfpf­licht? / Not­wen­dige Ver­fas­sungs­rich­ter­wahl? / Kor­rup­tion im Vatikan?

27.07.2021

Hilft gegen ansteigende Inzidenzzahlen und Virusmutationen nur noch eine Impfpflicht? Kritik an der Wahl eines AfD-Kandidaten für den baden-württembergischen VerfGH und der Vatikan versucht, finanzielle Unregelmäßigkeiten aufzuklären.

Thema des Tages

Corona – Impfpflicht: Angesichts wieder steigender Infektionszahlen diskutiert die Politik über mögliche Einschränkungen für Ungeimpfte, eine Impfpflicht wird dagegen weiterhin überwiegend abgelehnt. So sprach sich die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) dafür aus, das bisherige Verfahren beizubehalten, nach dem Geimpfte, Genesene und negativ Getestete bei Zugangsberechtigungen gleich zu behandeln sind, wie die SZ (Jens Schneider/Hanno Charisius) berichtettagesschau.de (Alessa Böttcher/Kolja Schwartz) bringt eine Übersicht zu den rechtlichen Fragen einer Impfpflicht. In der Welt (Thomas Vitzthum/Julian Ae) legen Juristen wie der Staatsrechtler Christian Pestalozza dar, dass eine konsequente Anwendung des grundgesetzlichen Gleichheitssatzes eine ungleiche Behandlung von Geimpften und Nicht-Geimpften geradezu gebiete.

Thomas Siegmund (Hbl) sinniert im Leitartikel, dass "die Lage klar" sei, sobald jeder ein Impfangebot erhalten habe: "Wer das Impfangebot ablehnt, muss mit Freiheitseinschränkungen leben". Angebote ließen sich mit Geldprämien oder einem vereinfachten Zugangsverfahren attraktiv gestalten, notwendig sei in jedem Fall eine Entscheidung nicht erst nach der Bundestagswahl. Peter Fahrenholz (SZ) bezeichnet das etwa vom Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) "bei jeder Gelegenheit" gegebene Versprechen, eine Impfpflicht werde es nicht geben, angesichts der zahlreichen Corona-Ungewissheiten als "von Anfang an leichtfertig". Zur Erfüllung der staatlichen Aufgabe der Gesundheitsvorsorge müsse auch die "Ultima Ratio" einer Impfpflicht diskutiert werden. Auch Reinhard Müller (FAZ) weist auf die Gefahr "vollmundiger Versprechen aus Politikermündern" hin und gibt darüber hinaus zu bedenken, dass es jeder Einzelne in der Hand habe, "wie die Impfdebatte weiterläuft".

Rechtspolitik

Verfassungsrichterwahl Ba-Wü: Auch die SZ (Wolfgang Janisch) befasst sich nun mit der Wahl des von der AfD nominierten Bert Gärtner zum stellvertretenden Richter des baden-württembergischen Verfassungsgerichtshofs. Mitnichten ergebe sich aus der entsprechenden Bestimmung der Geschäftsordnung des Landtags ein Anspruch der AfD auf eine Richterstelle und ebensowenig eine Pflicht der übrigen Fraktionen, die Stelle einem Wahlvorschlag der AfD zur Verfügung zu stellen. Gerade Verfassungsrichterwahlen seien aber oftmals von "ungeschriebenen Regeln" beeinflusst. Der Inhalt dieser Regeln unterfalle somit einer politischen und nicht juristischen Einschätzung. Dementsprechend sei die Annahme, der AfD stehe die Stelle wegen ihres Wahlergebnisses zu, nirgends "so falsch wie bei der Wahl von Verfassungsrichtern", so Wolfgang Janisch (SZ) in einem separaten Kommentar. Wer AfD-Kandidaten für befähigt halte, als "oberste Wächter über die Spielregeln von Demokratie und Rechtsstaat" zu wachen, solle dies "offen sagen".

Katastrophenschutz: Der Innenausschuss des Bundestags debattierte über mögliche Konsequenzen aus den jüngsten Unwetterkatastrophen. Bundesinnenmister Horst Seehofer (CSU) sah dabei keine Notwendigkeit einer bundesweiten Koordinierungsstelle, die über das ohnehin geplante "Kompetenzzentrum" hinausgehe, schreibt das Hbl (Frank Specht). Die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock (Grüne) fordere hingegen eine Grundgesetzänderung. Deren Notwendigkeit ergebe sich bereits aus der Entstehungsgeschichte der betreffenden Grundgesetzartikel, so die SZ (Wolfgang Janisch). Die geltenden Bestimmungen stammten aus "einer Zeit, in der den Menschen geraten wurde, sich beim atomaren Angriff eine Aktentasche über den Kopf zu halten." 

Gudula Geuther (deutschlandfunk.de) hält die Forderung nach einer Grundgesetzänderung für verfrüht. An erster Stelle auch der rechtspolitischen Diskussion müsse die Fehleranalyse stehen. Die so zu findenden Antworten könnten dann zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen bei der staatlichen Bewältigung von Hochwasser, Pandemien oder auch Cyberangriffen führen.

EU/Großbritannien – Brexit-Folgen: Bereits zu Beginn dieses Monats hat die EU ihre Ablehnung eines Beitritts Großbritanniens zum Luganer Abkommen beschlossen, berichtet zpoblog.de (Peter Bert). Das Abkommen regelt die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen zwischen EU-Mitgliedstaaten und anderen europäischen Ländern. Die künftige justizielle Zusammenarbeit der EU mit dem Vereinigten Königreich solle demgegenüber nach Vorschlag der Kommission auf Grundlage des sogenannten Haager Anerkennungs- und Vollstreckungsübereinkommens gestaltet werden.

Justiz

BVerfG – Neutralitätspflicht von Merkel: In der vergangenen Woche verhandelte das Bundesverfassungsgericht über eine mögliche Verletzung der Neutralitätspflicht der Bundeskanzlerin durch ihre AfD-kritische Kommentierung der Thüringer Ministerpräsidenten-Wahl im Februar 2020. Zur Problematik legt Rechtsprofessor Matthias Hong auf dem Verfassungsblog das Recht der "kommunikativen Verfassungsverteidigung" thesenhaft dar. In der Rechtsprechung komme dieses Recht im Gegensatz zu verfassungsrechtlichen Neutralitäts- und Sachlichkeitsgeboten "zu kurz". Bei aller Berechtigung dieser Gebote dürften diese "nicht die Pflicht zur Verfassungstreue relativieren oder gar konterkarieren".

BAG – Variable Vergütungsbestandteile: Das Bundesarbeitsgericht entscheidet am heutigen Dienstag darüber, wie eine Zielerreichungsprämie bei der Berechnung etwa von Urlaubsentgelt zu berücksichtigen ist und welche europarechtlichen Vorgaben bei der Berechnung des Entgelts zu berücksichtigen sind. Dies schreibt Rechtsanwalt Michael Riedel auf LTO-Karriere und legt im Weiteren unter Berücksichtigung ergangener Rechtsprechung ausführlich dar, welche Ausnahmen bereits jetzt von dem Grundsatz zu machen sind, dass sogenannte variable Vergütungsbestandteile bei Krankheit und Urlaub fortgezahlt werden müssen.

OLG Frankfurt/M. – Franco A.: Der wegen rechtsextremer Anschlagspläne am Oberlandesgericht Frankfurt/M. angeklagte Bundeswehroffizier Franco A. hat sich inzwischen für ein rechtswissenschaftliches Studium an der örtlichen Goethe-Universität eingeschrieben. In einem Kommentar schreibt Christina Schmidt (zeit.de), es sei zwar das Recht Franco A.s zu studieren, die Fakultät solle dann aber mit entsprechenden Lehrangeboten reagieren, etwa mit einer Ringvorlesung zu antifaschistischen Inhalten. 

LSG Nds-Bremen zu Rechtsfolgenbelehrung: Die Androhung einer Sperrzeit gegen bewerbungsunwillige Arbeitslose ist nach einem Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen nur dann wirksam, wenn der Betreffende durch die Behörde umfassend über die drohende Maßnahme informiert worden ist. Im nun entschiedenen, von LTO berichteten Fall war dies nicht erfolgt: Der fragliche Vermittlungsvorschlag hatte lediglich einen pauschalen Hinweis auf ein weiteres Merkblatt enthalten.

AG Hamburg zu Fluggastentschädigung: Eine Entschädigung nach der EU-Fluggastrechte-Verordnung steht auch solchen Reisenden zu, deren Flug erheblich verfrüht stattfand. Dies entschied nach Bericht von LTO (Alexander Cremer) das Amtsgericht Hamburg. Der Rückflug der erfolgreich klagenden Fluggäste von Ibiza in die Hansestadt wurde nach Annullierung des ursprünglich gebuchten Fluges einen vollen Tag nach vorne gezogen. Auch hierdurch seien den Betroffenen entschädigungspflichtige Unannehmlichkeiten entstanden.

ArbG Nürnberg – Geschlechtsdiskriminierung: Am Arbeitsgericht Nürnberg versucht ein Kläger eine Entschädigung wegen einer diskriminierenden Stellenausschreibung zu erstreiten. spiegel.de berichtet, dass sich der erfolglos gebliebene Mann als Bestücker für Digitaldruckmaschinen beworben hatte. Für die Stelle seien "flinke Frauenhände" gesucht worden.

Massenverfahren: beck-aktuell (Tobias Freudenberg) befragt Nikolaus Stackmann, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht München, zu den Eingangszahlen des von ihm geleiteten Senats, seinen Umgang mit Massenverfahren wie etwa Klagen aufgrund des Dieselskandals, richterlichen Arbeitstechniken zur Bewältigung solcher Verfahren und möglichen Abhilfen. Digitalen Systemen zur Bearbeitung solcher Fälle steht der Richter skeptisch gegenüber und hält demgegenüber ein Mittel, um bindende Vorabentscheidungen in Parallelsachverhalten zu erreichen, für dringend erforderlich.

Recht in der Welt

Vatikan – Korruption: Im Vatikan beginnt ein Großprozess gegen Kardinal Angelo Becciu und weitere neun Angeklagte, denen Mauscheleien bei von ihnen verantworteten Immobiliengeschäften im Auftrag des Kirchenstaates vorgeworfen werden. Nicht wenige Beobachter schätzten das Verfahren als "politisch" ein, schreibt die FAZ (Matthias Rüb). Vertraute des Papstes, die ebenfalls an den fraglichen Geschäften beteiligt gewesen seien, seien nicht verfolgt worden.

USA – Polizeigewalt: Die Welt (Katja Ridderbusch) unternimmt einen Blick auf den Stand aktueller US-amerikanischer Strafverfahren gegen gewalttätige Polizisten. Während der verurteilte Mörder George Floyds vor seinem an einem Bundesgericht stattfindenden Verfahren wegen der Verletzung von Bürgerrechten des Getöteten mit dem Justizministerium des Landes über einen sogenannten Plea Deal, eine verfahrensbeschleunigende Vereinbarung verhandle, dürfte das Strafverfahren gegen seine früheren Kollegen erst im nächsten März beginnen. In anderen Orten des Landes sei das Interesse an einer Verfolgung übergriffiger Polizisten jedoch abgeflaut.

Sonstiges

EU-Urheberrechtsreform: Wegen unzureichender Umsetzung der EU-Urheberrechtsrichtlinie von 2019 könnten sich 23 Mitgliedstaaten demnächst Vertragsverletzungsverfahren gegenübersehen. Entsprechende Schritte kündigte nach LTO die EU-Kommission an.

Das Letzte zum Schluss

Sex, Lügen und Video: Die finanziellen Angelegenheiten des in die USA emigrierten Schlagersängers Michael Wendler beschäftigen die Klatschspalten schon seit geraumer Zeit. Für eine neue Wendung sorgt nun die geschiedene Gattin des Barden. bild.de (Mark Pittelkau) hat in Erfahrung gebracht, dass sich Claudia Norberg gegen den Vorwurf, sie habe eine Scheidungsabfindung Gläubigern rechtswidrig vorenthalten, mit der Erklärung verteidigt, sie hätte das Geld an einen Erpresser gezahlt, der Sex-Videos aus ihrer Ehezeit öffentlich zu machen drohte. Fortsetzung folgt sicher. 

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mpi

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 27. Juli 2021: . In: Legal Tribune Online, 27.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45567 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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