Die juristische Presseschau vom 21. Juli 2021: Bericht zum Rechts­staat in Europa / Neu­trale Kanz­lerin? / Diesel-Klagen ohne Ende

21.07.2021

Wie steht es um den Rechtsstaat in der EU? Die EU-Kommission spart in ihrem zweiten Prüfbericht nicht mit Kritik. BVerfG verhandelt über die Zulässigkeit eines Statements der Kanzlerin. Verfahren wegen des Diesel-Skandals nehmen kein Ende.

Thema des Tages

EU – Rechtsstaatlichtkeit: Die EU-Kommission hat ihre zweite Untersuchung zur Einhaltung rechtsstaatlicher Standards in den Mitgliedstaaten vorgestellt. Während für die Bundesrepublik das Weisungsrecht von Landesjustizministern gegenüber Staatsanwaltschaften oder Regelungen zur Parteienfinanzierung als Problem benannt wurden, nahmen den weitaus größten Teil des Berichts die Zustände in Ungarn und Polen ein. So würden in Ungarn aufgrund unzureichender Kontrollmechanismen Klientelismus und Vetternwirtschaft mangelhaft bekämpft. In Polen bestehe demgegenüber die Gefahr unzulässigen politischen Einflusses auf die Strafverfolgung. Die Probleme in beiden Ländern seien zum Teil bereits "systemischer Natur". Unmittelbare Folgen habe der Rechtsstaatsbericht nicht. Es berichten SZ (Matthias Kolb), FAZ (Thomas Gutschker), Hbl (Christoph Herwartz/Moritz Koch)Welt (Christoph B. Schiltz), spiegel.de (Markus Becker) und LTO,

Nach Einschätzung von Cathrin Kahlweit (SZ) scheint es "keine Brücke mehr über den tiefen Graben zu geben", der sich zwischen der "EU als Gemeinschaft und Staaten wie Polen und Ungarn aufgetan hat". Die Union besitze vor dem "vielleicht, womöglich, hoffentlich im Herbst" in Gang zu setzenden Rechtsstaatsmechanismus keine Handhabe gegen einen Politiker wie den ungarischen Ministerpräsidenten Orban, der den Wertekanon der EU "verhöhnt".

Rechtspolitik

Geldwäsche: Mit umfangreichen Maßnahmen will die EU-Kommission gegen Geldwäsche vorgehen. Zu den Kernregelungen gehören die Einrichtung einer neuen Behörde, die Maßnahmen europaweit überwachen und koordinieren soll, eine strengere Regulierung von Kryptowährungen sowie die Einführung einer Bargeldobergrenze von 10.000 Euro. SZ (Jan Diesteldorf) und Welt (Karsten Seibel) berichten. Über Beweggründe und Inhalte der Regelungen spricht Finanzmarktkommissarin Maired McGuiness mit der FAZ (Werner Mussler).

Sozialversicherungspflicht: Im Recht und Steuern-Teil der FAZ weisen die Anwälte Christian Bitsch und Michael Fausel auf die weitgehend unbeachtet gebliebene Reform des sozialversicherungsrechtlichen Statusfeststellungsverfahrens hin. Das in § 7a des Siebten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) geregelte Verfahren soll die Klärung über das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung und damit das Bestehen der Sozialversicherungspflicht künftig auch schon vor Tätigkeitsaufnahme ermöglichen. Den entscheidenden "Paradigmenwechsel" erkennen die Autoren indes in der nun auch möglichen sogenannten Gutachtenlösung, mit der nun auch verallgemeinerungsfähige Ergebnisse produziert werden könnten. Die Reform soll im neuen Jahr in Kraft treten.

Justiz

BVerfG – Neutralitätspflicht von Merkel: Das Bundesverfassungsgericht verhandelt am heutigen Mittwoch über eine Organklage der AfD, die die Feststellung erreichen will, dass die Kommentierung der vergangenen Wahl in Thüringen durch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gegen die den Staatsorganen auferlegte Pflicht zur Neutralität verstoßen hat. In ihrem Bericht erinnert die FAZ (Marlene Grunert) daran, dass das BVerfG im vergangenen Jahr in einem ähnlich gelagerten Fall zu Äußerungen von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die Neutralitätspflicht als Bestandteil des Demokratieprinzips beschrieb und damals und in früheren Entscheidungen darauf abstellte, ob die beanstandete Äußerung in Wahrnehmung des ausgeübten Regierungsamts erging. Im nun zu verhandelnden Fall verweist die Bundesregierung darauf, dass die Kanzlerin auf der fraglichen Pressekonferenz in Südafrika ausdrücklich eine "Vorbemerkung" abgegeben habe. Die Welt (Thomas Vitzthum) stellt in das Zentrum ihres Berichts die "Serie empfindlicher Niederlagen", die die Kanzlerin in Karlsruhe kassiert habe. Es dürfe wohl als Teil ihrer politischen Strategie bezeichnet werden, "vor allem bei gesellschaftspolitischen", aber auch bei "Gleichstellungsthemen" die Entscheidung des BVerfG einer politischen Auseinandersetzung vorzuziehen.

BGH zu Diesel-Skandal/VW: Auch VW-Kunden, die ihre Diesel-Skandal-betroffenen Fahrzeuge zwischenzeitlich weiterverkauften, haben einen Schadensersatzanspruch gegen den Autobauer. Dies entschied nach Berichten von LTO und tagesschau.de (Bernd Wolf) der Bundesgerichtshof. Der erzielte Kaufpreis sei allerdings vom Schadensersatz abzuziehen. Dagegen kann der Verkäufer eine ggf. erhaltene "Wechselprämie" behalten. Diese Prämien hätten nichts mit Substanz- oder Nutzungswert des in Zahlung gegebenen Fahrzeugs zu tun.

BGH zu VW-Aktionären/Bosch: Wie schon die Vorinstanzen entschied nun auch der Bundesgerichtshof, dass klagende Aktionäre von VW keinen Schadensersatz vom VW-Zulieferer Bosch wegen angeblicher Beihilfe zur verspäteten VW-Meldung des Diesel-Skandals geltend machen können. Die bloße Lieferung einer später manipulativ eingesetzten Software durch Bosch stelle keine Beihilfe zu einem eventuellen Kapitalmarktsdelikt von VW dar, schreiben SZ (Wolfgang Janisch), tagesschau.de (Bernd Wolf), Hbl (Martin-W. Buchenau) und LTO.

Diesel-Skandal: Die nun ergangenen Urteile des Bundesgerichtshofs zu Ansprüchen infolge des Diesel-Skandals werden auch in der FAZ (Corinna Budras/Susanne Preuß) behandelt, die darüber hinaus aber auch berichtet, dass sich Gerichte "noch immer landauf, landab durch die Aktenberge" im "verflixten siebten Jahr" nach Bekanntwerden des Skandals mühten. So denke man beim BGH über die Einrichtung eines spezialisierten Senats nach, in unteren Instanzen litten betroffene Richter häufig unter Burnout. Es sei offensichtlich, dass die Musterfeststellungsklage keine wirksame Abhilfe zur Bewältigung derartiger Verfahrensmassen geschaffen habe. In einem separaten Kommentar erinnert Corinna Budras (FAZ) daran, dass die jetzigen Großkoalitionäre die Klage im vergangenen Wahlkampf übereinstimmend anpriesen. Der neuen Regierung sollte "klar sein, dass diese Baustelle noch lange nicht geschlossen werden kann" und erheblicher Korrekturen bedürfe.

BGH zu beA/Sendungskontrolle: Ein über das besondere elektronische Anwaltspostfach versandter Schriftsatz ist erst dann fristwahrend eingegangen, wenn er auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung des Gerichts gespeichert ist. Ob dies tatsächlich der Fall ist, muss vom absendenden Anwalt kontrolliert werden. Unterbleibt diese Kontrolle, ist von einem anwaltlichen Organisationsmangel auszugehen. Mit dieser Begründung verwarf der Bundesgerichtshof in einem von beck-aktuell (Guido Toussaint) berichteten Beschluss vom Mai einen Antrag auf Wiedereinsetzung. Die betroffene Anwältin habe offenbar verkannt, dass das beA-System verschiedene Bestätigungen umfasst und sich allein auf das Übermittlungsprotokoll verlassen.

OLG München – Rechtsterroristin Susanne G.: Am morgigen Donnerstag beginnen am Oberlandesgericht München die Plädoyers im Verfahren gegen die Heilpraktikerin Susanne G., die sich wegen des Vorwurfs geplanter Terroranschläge verantworten muss. In einer Seite Drei-Reportage beschreibt die SZ (Annette Ramelsberger) die feste Verwurzelung der Angeklagten in der rechtsextremen Szene und kritisiert, dass das Gericht und die Anklage keinen großen Ehrgeiz entwickelt hätten, diese Verbindungen näher aufzuklären.

AG Würzburg zu Messerstecher von Würzburg: Das Amtsgericht Würzburg hat die Unterbringung von Abdirrahman Jibril A. in einer psychiatrischen Einrichtung angeordnet. Der Somalier hatte Ende Juni drei Frauen erstochen. Nun habe eine vorläufige Begutachtung Anhaltspunkte für eine mögliche Schuldunfähigkeit A.s ergeben. SZ (Ronen Steinke u.a.) und Welt (Ibrahim Naber) berichten.

VG Wiesbaden – BKA-Trojaner: Beim Verwaltungsgericht Wiesbaden hat netzpolitik.org eine Klage gegen das Bundeskriminalamt auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes erhoben. Das Online-Medium will eine vollständige, ungeschwärzte Einsicht in den Vertrag des BKA mit einem Anbieter von Trojaner-Software erreichen, so netzpolitik.org (Andre Meister) in eigener Sache.

Recht in der Welt

EuGH – Polen: Rechtsprofessor Laurent Pech analysiert auf Verfassungsblog in englischer Sprache das in der vergangenen Woche ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Unionsrechtswidrigkeit der im Zuge der polnischen Justizreform eingerichteten Disziplinarkammer sowie die unmittelbar zuvor ergangene einstweilige Verfügung des EuGH, mit der Ermächtigungsbestimmungen besagter Disziplinarkammer ausgesetzt werden sollten. Die EU-Kommission hat nunmehr den Antrag auf Strafzahlungen für den Fall angekündigt, dass Polen die Entscheidung nicht bis Mitte August vollständig umsetzt. Mögliche Handlungsalternativen der polnischen Regierung beschreibt die FAZ (Reinhard Veser). Mehrere Abgeordnete der Regierungspartei hätten durchblicken lassen, dass die beanstandeten Gesetze "umfangreich" geändert würden. In einem separaten Kommentar erinnert Reinhard Veser (FAZ) im Leitartikel daran, dass Polen "der EU freiwillig beigetreten" ist und "damit die Verpflichtung eingegangen" sei, "EU-Recht zu befolgen". Die Rhetorik der polnischen Regierung solle verschleiern, dass sie das Unmögliche anstrebe: "die Errichtung einer autoritären Herrschaft innerhalb einer Gemeinschaft von Demokratien".

Österreich – Facebook: Der österreichische Oberste Gerichtshof hat eine neuerliche Klage des Datenschutzaktivisten Max Schrems zur Klärung an den Europäischen Gerichtshof verwiesen. Schrems erstrebe eine Klärung der Rechtsbeziehung zwischen Facebook und seinen Nutzern, schreibt netzpolitik.org (Alexander Fanta). Der Konzern hat nach Inkrafttreten der Datenschutzgrundverordnung seine AGB dahingehend geändert, dass er die Datennutzung aufgrund eines Vertrages mit seinen Kunden durchführe. Damit sei keine Einwilligung i.S.d. DSGVO mehr notwendig, argumentiert Facebook. In einem Teilurteil hat der österreichische Gerichtshof dem Kläger bereits einen Schadensersatz von 500 Euro zugesprochen, weil ihm Facebook keinen vollständigen Zugang zu den zu ihm gespeicherten Daten gewährt habe. Dies könne die Grundlage massenhafter Forderungen anderer Nutzer:innen sein.

Niederlande – Shell und Klima: Der Shell-Konzern hat nach Meldung der FAZ mitgeteilt, eine Berufung gegen das wegweisende Klimaurteil eines Den Haager Gerichts einlegen zu wollen. Obgleich man von der Notwendigkeit dringenden Handelns für den Klimaschutz überzeugt sei, sei ein gegen ein einzelnes Unternehmen gerichtetes Urteil im Kampf gegen den Klimawandel "nicht effektiv", so Shell.

Spanien – Franco-Diktatur: Die spanische Regierung hat dem Parlament den Entwurf eines "Gesetzes der demokratischen Erinnerung" übermittelt, mit dem der öffentliche Umgang mit dem Erbe von Bürgerkrieg und Franco-Diktatur neu geregelt werden soll. Nach dem Entwurf sollten etwa Urteile aus der Diktatur-Ära für nichtig erklärt und auch die Verherrlichung der Diktatur unter Strafe gestellt werden, berichtet die FAZ (Hans-Christian Rößler). Dass somit nun den Diktatur-Opfern "Anerkennung und Wiedergutmachung" zuteil werden soll, wird von Reiner Wandler (taz) begrüßt. Dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden, scheitere indes an deren Alter und dem immer noch geltenden Amnestiegesetz von 1978.

IStGH: Der SWR RadioReportRecht (Gigi Deppe) spricht mit dem Richter am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Bertram Schmitt. Der frühere BGH-Richter nimmt das Anfang Mai mit einer Verurteilung beendete Verfahren gegen den Kommandanten einer ugandischen Terrormiliz zum Anlass, die Arbeit am IStGH und dessen Funktionsweise zu erläutern und nimmt darüber hinaus auch zum gelegentlich geäußerten Vorwurf Stellung, das Gericht beschränke sich auf Verfahren gegen Afrikaner.

Juristische Ausbildung

Zeitmanagement: Tipps für ein erfolgversprechendes Zeitmanagement im Jurastudium hält LTO-Karriere (Sabine Olschner) bereit. Der Beitrag nennt die Erstellung eines aussagekräftigen Zeitplans für Lerneinheiten oder die Ausübung eines jurafremden Hobbys als Beispiele, um den zu bewältigenden Lernstoff zu meistern.

Sonstiges

VW/Martin Winterkorn: Die am morgigen Donnerstag stattfindende Hauptversammlung von VW wird sich auch mit dem zwischen dem Konzern sowie früheren Managern und deren D&O-Versicherungen ausgehandelten Vergleich zu möglichen Haftungsansprüchen wegen des Diesel-Skandals befassen. Das zwischen den Beteiligten ausgehandelte Paket mit einem Gesamtvolumen von rund 288 Millionen Euro könnte dabei erneut aufgeschnürt werden, schreibt das Hbl (Volker Votsmeier). Kritiker der Einigung bemängelten vor allem, dass die beteiligten Ex-Vorstände von jeglicher Haftung freigestellt werden, obgleich eine strafrechtliche Untersuchung ihrer Verantwortlichkeit bislang nicht abgeschlossen ist. Dass die Einigung vom Konzern ohne jedes Schuldanerkenntnis etwa des früheren Chefs Martin Winterkorn akzeptiert wurde, irritiert Volker Votsmeier (Hbl) in einem separaten Kommentar. Nach bislang 32 Milliarden Euro Kosten des Diesel-Skandals stelle sich der von Winterkorn zu zahlende Betrag als "kleiner Klaps" oder auch "Freifahrtschein" dar.

Lebensmittelrecht: Der Small Talk von LTO-Karriere (Franziska Kring) stellt das Lebensmittelrecht vor. Die in diesem Gebiet spezialisierte Rechtsanwältin Danja Domeier spricht über ihre diesbezüglichen Arbeitsinhalte und ihren beruflichen Werdegang.

Das Letzte zum Schluss

Musiker vor Gericht: Von wegen Sex, Drugs & Rock 'n' Roll: Vielleicht wegen mangelnder Auftrittsmöglichkeiten trifft sich die heutige Musikergeneration anscheinend lieber im Gericht. bild.de (Anne Losensky) berichtet über eine ohne Entscheidung geschlossene Verhandlung am Landgericht Berlin. Dort stritten sich die Rapper-Kollegen Bushido und Fler über die Verwendung des Titels "Carlo Cokxxx Nutten". Der Schlagersänger Michael Wendler blieb hingegen seinem Strafprozess wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Vereiteln einer Zwangsvollstreckung fern. Nach dem Bericht von LTO flattert ihm deswegen demnächst ein sogenannter Sitzungshaftbefehl des Amtsgerichts Dinslaken ins US-amerikanische Heim.

 

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lto/mpi

(Hinweis für Journalisten) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 21. Juli 2021: . In: Legal Tribune Online, 21.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45524 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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