Die juristische Presseschau vom 15. November 2023: Amnestie in Spa­nien / Urteile aus dem Home Office? / BVerfG heute zu Schul­den­b­remse

15.11.2023

In Spanien steht die Verabschiedung einer Amnestie für katalanische Separatist:innen bevor. Können Zivilprozesse bald aus dem Home Office geleitet werden? Das BVerfG entscheidet heute über den Zweiten Nachtragshaushalt 2021. 

Thema des Tages

Spanien – Katalonien-Konflikt: Als Bestandteil der Koalitionsvereinbarung der neuen spanischen Regierung  unter Führung des Sozialisten Pedro Sanchez steht die Verabschiedung eines Amnestiegesetzes unmittelbar bevor. In einem Gesetz über die "institutionelle, politische und soziale Normalisierung in Katalonien" unterfallen "Handlungen, die in der Absicht begangen wurden, die Abspaltung oder Unabhängigkeit Kataloniens zu fordern, zu fördern oder herbeizuführen" und zwischen Januar 2012 und dem 13. November 2023 begangen wurden, einer Amnestie. Damit dürften gut 300 Betroffene von einer Strafverfolgung verschont bleiben und auch der vormalige Regionalpräsident Carles Puigdemont vor der Rückkehr in seine Heimat stehen. Das Gesetz kam zustande, weil Sanchez bei der Regierungsbildung auf die Abgeordnetenstimmen zweier katalanischer Parteien angewiesen ist. Eine ursprünglich diskutierte, gemeinsame Aufklärung sogenannter "lawfare", worunter die gezielte justizielle Verfolgung separatistischer Bestrebungen verstanden wird, ist nicht mehr vorgesehen. Stattdessen wird in einer ausführlichen Gesetzespräambel dargelegt, dass die versprochene Straffreiheit zuvörderst dem Gemeinwohl und der Förderung des "Zusammenlebens im Rahmen des Rechtsstaats" diene. Diese Erklärungen sind wohl als Auslegungshilfe auf das Verfassungsgericht des Landes zu verstehen. Dessen Anrufung durch die konservative Opposition gilt als sicher. Es berichten SZ (Josef Kelnberger), FAZ (Hans-Christian Rößler) und zeit.de (Julia Macher).

Nach Meinung von Patrick Illinger (SZ) entzünde das Gesetz die "Lunte" der "viel größeren politischen Bombe" eines erneuten Referendums über die katalanische Unabhängigkeit. Dass darüber hinaus auch das Prinzip der Gewaltenteilung tangiert sei, verblasse vor dem Wortbruch von Pedro Sanchez, der vor der Wahl ein Zusammengehen mit katalanischen Separatist:innen "kategorisch ausgeschlossen hatte."

Rechtspolitik

Video-Verhandlungen: Im parlamentarischen Verfahren hat der Gesetzentwurf für mehr Video-Verhandlungen an Zivilgerichten erhebliche Erweiterungen erfahren, schreibt LTO. In der aktuellen Fassung sehe der Entwurf die Möglichkeit vor, die Video-Verhandlung auch "von einem anderen Ort als der Gerichtsstelle" zu leiten, etwa dem so genannten Home-Office. Die Anordnung solle zudem auch dann möglich sein, wenn lediglich eine Partei eine Verhandlung per Video wünscht.

Kinderpornografie: In einem Kommentar begrüßt Ronen Steinke (SZ) die Ankündigung von Justizminister Marco Buschmann (FDP), die von seiner Amtsvorgängerin Christine Lambrecht (SPD) angestoßene Anhebung der Mindeststrafe auf ein Jahr bei Besitz und Verbreitung von Kinderpornografie rückgängig machen zu wollen. Die Absenkung der Mindeststrafe unter ein Jahr erlaube der Justiz, den "Spielraum für Einzelfallgerechtigkeit" auszunutzen. Auch bei anderen Themen habe der Minister bewiesen, dass er der vom "Jubel des Boulevards" geförderten Neigung widerstehe, durch die Einführung immer schärferer Strafen Handlungsfähigkeit vorzutäuschen.

Bürokratieabbau: Auf einer Tagung in Berlin hat Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) seine Pläne für einen Bürokratieabbau erläutert. Dieser solle auch auf EU-Ebene vorangetrieben werden. Über die ministeriellen Vorstellungen von einer "systematischen Müllabfuhr", mit der bürokratische Hindernisse regelmäßig abgebaut werden sollen, berichten SZ (Constanze von Bullion) und  LTO.

Geschlechtliche Selbstbestimmung: Für den heutigen Mittwoch ist die erste Lesung des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes im Bundestag geplant. In einem Interview mit der Welt (Sabine Menkens) begründet die Bundestagsabgeordnete Dorothee Bär (CSU) ihre Kritik am Entwurf. Entgegen der von der Ampelkoalition betriebenen "Identitätspolitik" sei Geschlecht "keine Idee, sondern Realität." Dass Minderjährige auch ohne Einverständnis der Eltern ihren Geschlechtseintrag ändern könnten, öffne dem Missbrauch Tür und Tor.

BVerfG: Aus Anlass des nun wieder stattgefundenen Abendessens der Bundesregierung mit Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts fordert Benjamin Stibi (Welt) im Leitartikel eine grundlegende Reform dieser Tradition. Der erforderliche Gedankenaustausch zwischen Verfassungsorganen ließe sich auch ohne Beigeschmack innerhalb formaler Bahnen bewerkstelligen. Zweifle die Regierung an der Verfassungsmäßigkeit aktueller Gesetzesvorhaben, ließe sich die Expertise des BVerfG auch durch eine Wiederbelebung der 1956 abgeschafften Möglichkeit, in Karlsruhe Gutachten anzufordern, herstellen.

Chatkontrolle: Der Innenausschuss des Europäischen Parlaments hat sich auf eine Position zur so genannten Chatkontrolle geeinigt. Diese soll keine Überwachung von Kommunikation ermöglichen, die Ende-zu-Ende-verschlüsselt ist. Das Plenum des EP wird nächste Woche abstimmen. Die Verhandlungen mit dem EU-Ministerrat können erst beginnen, wenn auch dieser eine Position beschlossen hat. beck-aktuell berichtet.

Justiz

BVerfG – Schuldenbremse/Nachtragshaushalt 2021: Am heutigen Mittwoch wird das  Bundesverfassungsgericht sein Urteil zum 2. Nachtragshaushalt 2021 verkünden. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen werden nun auch von SZ (Michael Bauchmüller/Henrike Roßbach), Hbl (Heike Anger/Jan Hildebrand) und LTO (Christian Rath) beschrieben. In der ersten Karlsruher Entscheidung über die 2009 eingeführte Schuldenbremse wird sich das Gericht zu Inhalt und Auslegung der Ausnahmeklausel des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 Grundgesetz äußern müssen. Umstritten ist, ob mit entsprechenden Krediten auch die Wiederankurbelung der Wirtschaft nach der Notlage finanziert werden kann. Außerdem geht es um die Beachtung der Haushaltprinzipien der Jährlichkeit und Jährigkeit bei der Verbuchung von Kreditermächtigungen, die erst Jahre später zu Ausgaben führen sollen.

BAG zu Equal Pay/Verhandlungen: Im Februar entschied das Bundesarbeitsgericht, dass geschlechtsspezfische Gehaltsunterschiede arbeitgeberseitig nicht mit besseren Verhandlungsgeschick der besser verdienenden Partei gerechtfertigt werden dürfen. Nach wie vor mögliche Gehaltsunterschiede müssten sich vielmehr auf sachliche Gründe stützen können, so die Rechtsanwälte Bernhard Trappehl und Thomas Seidensticker im Recht und Steuern-Teil der FAZ unter Nennung von Beispielen.

OLG Stuttgart zu Klimaschutz/Mercedes: Die Deutsche Umwelthilfe hat Revison gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart eingelegt und verfolgt beim Bundesgerichtshof ihr Vorhaben weiter, Mercedes den Vertrieb von Fahrzeugen mit Verbrennermotoren ab 2030 untersagen zu lassen. Dies berichtet u.a. zeit.de.

OLG Stuttgart – Reichsbürger Ingo K.: Das Oberlandesgericht Stuttgart verkündet am heutigen Mittwoch sein Urteil über Ingo K., dem u.a. versuchter Mord in 14 Fällen vorgeworfen wird. Der Reichsbürger hatte sich gegen die Vollstreckung eines Durchsuchungsbeschlusses durch das SEK mit Waffengewalt gewehrt und dies im Verfahren mit einer "unkontrollierten Panikaktion" erklärt. spiegel.de (Julia Jüttner) rekapituliert das Verfahren, das auch mit der Unterbringung des Angeklagten in der Psychiatrie enden könnte.

LG Leipzig – Gil Ofarim: Im Strafverfahren gegen den Sänger Gil Ofarim bemühte sich das Landgericht Leipzig am dritten Verhandlungstag um möglichst detaillierte Aussagen von Zeugen, die beim Einchecken des Angeklagten ebenfalls in der Hotellobby anwesend waren. Keiner der Vernommenen habe die von Ofarin beanstandete Äußerungen bezüglich seines Davidsterns bestätigen können. Die Verteidigung hat derweil erneut die Glaubwürdigkeit des Nebenklägers W. in Frage gestellt; er habe sich widersprüchlich dazu geäußert, ob er Gil Ofarim vor dem Einchecken gegoogelt hatte. Die Verhandlung wird am heutigen Mittwoch fortgesetzt. Es berichten FAZ (Stefan Locke), LTO (Linda Pfleger) und bild.de (Karl Keim).

VG Wiesbaden zu Verdachtsfall AfD: In mehreren Eilbeschlüssen hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden entschieden, dass das hessische Landesamt für Verfassungsschutz den AfD-Landesverband zwar als Verdachtsfall einstufen, hierüber aber – in Ermangelung einer Ermächtigungsgrundlage - nicht öffentlich berichten durfte. Ein weiterer Antrag der Partei, mit dem eine positive Äußerung des hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein über die nachrichtendienstliche Beobachtung beanstandet wurde, wurde indes als unzulässig abgewiesen, weil es sich um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit handele. LTO (Joschka Buchholz) berichtet.

FG Hamburg zu Cum-Ex/Warburg-Bank: Das Finanzgericht Hamburg hat bereits in der vergangenen Woche eine Klage der Warburg-Gruppe gegen Cum-Ex-bedingte Steuererstattungs-Rückforderungen in Höhe von 155 Millionen Euro abgewiesen. Die Klägerin, zu der auch die Privatbank M.M. Warburg gehört, hatte die Forderungen unmittelbar vor der Cum-Ex-Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs zwar beglichen, im nun beendeten Verfahren jedoch erfolglos geltend gemacht, zu viele Zinsen gezahlt zu haben. Die FAZ (Marcus Jung) berichtet.

GBA – Hamas-Überfall/Fotografen: Gegen Fotografen, die Bilder des Terrorangriffs der Hamas am 7. Oktober angefertigt und verbreitet haben, ist vom früheren Bundesanwalt Hans-Jürgen Förster und dem früheren Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle für NS-Verbrechen Thomas Walter Strafanzeige beim Generalbundesanwalt erstattet worden. Die Anzeigenerstatter beriefen sich auf "während der Tatausführungen" angefertigte Fotos und schliessen hieraus auf einen hinreichenden Anfangsverdacht wegen Beihilfe zu Mord und Geiselnahme. Die FAZ (Michael Hanfeld) berichtet im Medien-Teil.

StA-Podcast: LTO stellt "strafstation.berlin" vor, einen Podcast der Berliner Staatsanwaltschaft. Deren Pressesprecher, Oberstaatsanwalt Sebastian Büchner stellt zweiwöchentlich bestimmte Aufgabenbereiche der Anklagebehörde vor und lässt hierzu Mitarbeitende zu Wort kommen. In einem weiteren Teil "Tutorials" werden darüber hinaus strafprozessuale Probleme und deren Aufbereitung in der Examensklausur behandelt.

Digitale Klagen: Das gegenwärtig in der Pilotphase befindliche Angebot "Mein Justizpostfach", mit dem zukünftig auch Private digital mit Gerichten kommunizieren sollen, hat bereits ein erstes Datenleck aufzuarbeiten. netzpolitik.org (Esther Menhard) berichtet, dass ein Verzeichnis personenbezogener Daten über den Zeitraum eines Monats öffentlich einsehbar gewesen sei.

Verfassungsbeschwerde: Am Beispiel des Falls von Friedbert Mühldorfer, der sich als Funktionär der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die Reform des bayerischen Verfassungsschutzgesetzs wandte, beschreibt der SWR-RadioReportRecht (Ann-Kathrin Jeske) Inhalt und Ablauf des Verfahrens am Bundesverfassungsgericht und lässt hierzu auch die in diesem Jahr aus dem Amt geschiedene Verfassungsrichterin Susanne Baer zu Wort kommen.

Recht in der Welt

USA – Supreme Court: Die Mitglieder des Supreme Courts der USA haben sich erstmals in der Gechichte des Gerichts einen Verhaltenskodex gegeben. Die Maßnahme folgt auf mehrere Enthüllungen über die Annahme von Urlaubseinladungen und andere ethisch fragwürdige Verhaltensweisen von Richter:innen, erklären FAZ (Sofia Dreisbach) und LTO (Louis Strelow). Sanktionen für Fehlverhalten sehe der Kodex nicht vor. Hierin gleiche er den 2018 vom Bundesverfassungsgericht verabschiedeten Verhaltensleitlinien.

Juristische Ausbildung

Jura-Bachelor: An einigen deutschen Universitäten ist es bereits jetzt möglich, im Rahmen des regulären Jurastudiums auch einen Bachelor-Abschluss zu erwerben. Dieser eigne sich besonders für jene, die nach internationaler Karriere streben. Darüber hinaus biete er aber auch Sicherheit, um nach einem Durchfallen beim Examen nicht gänzlich ohne Abschluss dazustehen. LTO-Karriere (Sabine Olschner) stellt die Bachelor-Modelle der Viadrina-Universität Frankfurt/O., der Universität Trier und der Freien Universität Berlin vertieft vor.

Sonstiges

BRAK-Präsident Wessels im Interview: Im vergangenen Monat wurde Ulrich Wessels zum zweiten Mal als Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer gewählt. Im Interview mit beck-aktuell (Tobias Freudenberg/Monika Spiekermann) spricht er über die vor ihm liegenden Herausforderungen und nennt hierbei insbesondere die Anhebung der Rechtsanwaltsvergütung, die Fachkräftegewinnung von Kanzleien, technische Verbesserungen des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs und erklärt seinen Widerstand gegen Fremdinvestoren bei der Anwaltschaft.

Linksfraktion im Bundestag: Die Bundestagsfraktion der Linken hat mitgeteilt, sich am 6. Dezember auflösen zu wollen. Dieser Schritt folgt der Ankündigung Sahra Wagenknechts, gemeinsam mit anderen Abgeordneten aus der Linkspartei austreten zu wollen. Die verbliebenen Linke-Abgeordneten dürften die Legislaturperiode wohl als parlamentarische Gruppe fortsetzen. Ob dies auch den Wagenknecht-Abgeordneten möglich ist, hängt von der Entscheidung der Bundestagsmehrheit ab. Die Fraktionsauflösung sei mit der Auflösung einer Gesellschaft vergleichbar, so Rechtsprofessor Alexander Thiele gegenüber LTO.

Leistungsschutzrecht und KI: Bei dem Versuch, digitale Inhalte zu monetarisieren, stehen Presseverlagen neue Herausforderungen durch KI-Systeme bevor, konstatiert die Habilitandin Viktoria Kraetzig im Recht und Steuern-Teil der FAZ. Das sogenannte Leistungsschutzrecht auf Grundlage der erst vor wenigen Jahren in Kraft getretenen EU-Richtlinie über das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt biete gegenüber dem KI-basierten "Auslesen" von Vertragsinhalten keinen wirksamen Schutz, solange die KI-Texte wörtliche Kopien vermeiden.

Rechtsgeschichte - Auschwitz-Prozess: Ab dem heutigen Mittwoch ist im Streamingdienst Disney+ die fünfteilige Serie "Deutsches Haus" abrufbar. Sie verarbeitet den vor 60 Jahren begonnenen Frankfurter Auschwitz-Prozess entlang des Schicksals einer fiktionalen Gerichtsdolmetscherin. Die FAZ (Bert Rebhandl) zeigt sich in einer Besprechung angetan von einer "Dramaturgie, die ohne überdeutliche Didaktik dem Gegenstand mit möglichst vielen Facettierungen gerecht zu werden versucht," zeit.de (Matthias Dell) hält den "weitgehend gleichförmigen" Erzähltakt für bemerkenswert, betont aber, dass der Prozess nur als Staffage für die Darstellung "privater Irrungen und Wirrungen der handelnden Personen" diene.

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/mpi/chr

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 15. November 2023: . In: Legal Tribune Online, 15.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53170 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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