Die juristische Presseschau vom 10. März 2021: EuGH zu Ruf­be­reit­schaft / EuGH zu Fra­ming / Legal Tech in der Anwalt­schaft

10.03.2021

Der EuGH nennt Kriterien für die Einstufung von Rufbereitschaft als Arbeitszeit. Außerdem setzt der EuGH auch urheberrechtliche Grenzen für sogenanntes Framing. Legal Tech-Insider schildern die Legal Tech-Praxis der Anwaltschaft.

Thema des Tages

EuGH zu Rufbereitschaft: Die Rufbereitschaft eines Bechäftigten ist als Arbeitszeit zu werten, wenn der rufbereite Arbeitnehmer ganz erheblich in der Ausübung seiner Freizeit beeinträchtigt wird. Dies entschied der Europäische Gerichtshof im Fall eines Offenbacher Feuerwehrmannes und eines slowenischen Technikers. Als Kriterien nannte der EuGH die Reaktionszeit (wie schnell muss der Beschäftigte einsatzbereit sein) und die Häufigkeit und Dauer der Einsätze. Über die Einstufung der konkreten Fälle müssen nun die nationalen Gerichte entscheiden. Den Fall des Feuerwehrmannes, der binnen 20 Minuten in Arbeitskleidung und mit Einsatzfahrzeug in der Stadt sein muss, hatte das Verwaltungsgericht Darmstadt vorgelegt. Für die Frage, ob und wie Rufbereitschaft zu vergüten ist, mache die EU-Arbeitszeitrichtlinie keine Vorgaben, so der EuGH. Dies richte sich nach nationalem Recht, Tarifverträgen oder Arbeitsverträgen. Es berichten Welt (Laurin Meyer), BadZ (Christian Rath) LTO und tagesschau.de (Bernd Wolf). 

Christian Rath (BadZ) hält die vom EuGH angeführten Kriterien für "durchaus brauchbar", wenngleich Detailfragen noch zu klären seien. Detlef Esslinger (SZ) zeigt sich in seinem Kommentar verwundert darüber, dass überhaupt die Idee vertreten worden sei, bei einer Einsatzpflicht innerhalb von 20 Minuten sei von Freizeit auszugehen.

Rechtspolitik

Gerichtskosten am Sozialgericht: Am vergangenen Freitag lehnte der Bundesrat einen hessischen Gesetzentwurf ab, nach dem Vielklägern an Sozialgerichten eine Gebühr auferlegt worden wäre. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Marje Mülder fasst auf dem Verfassungsblog die Gründe für den Entwurf und die gegen ihn angemeldete Kritik zusammen. Als Alternativen führt der Beitrag die Auferlegung einer Missbrauchsgebühr oder aber erleichterte gerichtliche Abweisungsmöglichkeiten auf.

Verbandssanktionen: In einem Gastbeitrag für den Recht und Steuern-Teil der FAZ bestreitet Rechtsanwalt Alexander Reuter die Verfassungskonformität des geplanten Verbandssanktionengesetzes. Die geplanten Unternehmensstrafen träfen mit den Anteilseignern "die Falschen" und verletzten obendrein deren persönliche Freiheit im vermögensrechtlichen Bereich. Manager als "die waren Übeltäter" könnten "sich ins Fäustchen lachen". Denn selbst bei einem Fall wie Wirecard wäre lediglich das Unternehmen und somit "ein Blatt Papier beim Notar" haftbar.

Justiz

EuGH zu Framing: Das als Framing bezeichnete Einbinden fremder Inhalte auf der eigenen Internetseite stellt eine Urheberrechtsverletzung dar, wenn gezielt Mechanismen umgangen werden, die eben dieses Framing verhindern sollen. Dies stellte der Europäische Gerichtshof in einer Vorabentscheidung klar. Zugrunde lag ein Streit zwischen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz als Trägerin der Deutschen Digitalen Bibliothek und der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst. Es berichten FAZ (Constantin van Lijnden), SZ (Wolfgang Janisch), tagesschau.de (Gigi Deppe) und der Rechtsanwalt Andreas Biesterfeld-Kuhn auf LTO. Letzterer kommt zu dem Ergebnis, die Entscheidung sei angesichts der bisherigen "nutzerfreundlichen" Rechtsprechung des EuGH zwar überraschend, bei tieferem Blick aber keineswegs widersprüchlich.

ICSID – Vattenfall: Die Bundesregierung hat die beim Internationalen Schiedsgericht ICSID anhängige Auseinandersetzung zu Entschädigungsansprüchen des Energieversorgers Vattenfall wegen des Atomausstiegs durch einen Vergleich beendet. Dass die so zu zahlenden 1,4 Milliarden Euro* als "verschwendetes Steuergeld" anzusehen sind, behauptet Rechtsanwalt Juan Carlos Boue in einer Gastkolumne für das Hbl. Die Achmea-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs hätte "die Totenglocke für bilaterale Investitionsabkommen und Schiedsverfahren innerhalb der EU geläutet", ihre Auswirkungen hätten auch auch den Energiecharta-Vertrag erfasst. Ein möglicher Sieg Vattenfalls im Schiedsverfahren hätte deshalb nicht vollstreckt werden können.

BVerfG zu Vermögensabschöpfung: Rechtsprofessor Michael Kubiciel geht im FAZ-Einspruch vertieft auf den am vergangenen Freitag ergangenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Vermögensabschöpfung ein. Nachdem der Bundesgerichtshof 2019 die Möglichkeit einer Abschöpfung bei solchen Taten für verfassungswidrig hielt, die zum Zeitpunkt einer Gesetzesänderung im Jahr 2017 bereits verjährt waren, hatte das BVerfG nun entschieden, dass das strafrechtsspezifische Rückwirkungsverbot hier irrelevant sei – die Einziehung sei keine Strafe, vielmehr "Antwort auf eine gegenwärtige Störung der Vermögensordnung". Auch das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot stehe der Möglichkeit nicht entgegen, wenn "überragende Belange des Gemeinwohls" eine Abschöpfung erforderten.

Das Urteil ist auch Thema eines Gastbeitrags von Jürgen Taschke und Daniel Zapf im Recht und Steuern-Teil der FAZ. Die Rechtsanwälte prognostizieren, dass die bisherige "Zurückhaltung" von Staatsanwaltschaften bei der Vermögensabschöpfung nunmehr ein Ende habe. Ankläger könnten sich angesichts handelsrechtlicher Aufbewahrungspflichten in der Regel auf eine ausreichende Dokumentationslage stützen.

BGH zu Rechtsberatung durch Architektin: Einer Architektin kann verwehrt werden, einen Bauherrn in einem Widerspruchsverfahren entgeltlich zu vertreten, entschied der Bundesgerichtshof im Februar. Ein entsprechendes Unterlassungsurteil wurde zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen, dies jedoch wegen Ungenauigkeiten im Klageantrag, so Rechtsanwalt Martin W. Huff auf LTO. Im Übrigen zeichne sich die BGH-Entscheidung durch grundsätzliche Ausführungen zur Antragsbefugnis von Rechtsanwaltskammern und der Erlaubnispflichtigkeit von Rechtsdienstleistungen aus. Demnächst stünden Entscheidungen zu Rechtsdienstleistungen gewerblicher Unternehmen im Bereich des Datenschutzes an.

StGH Nds zu Corona-Parlamentsinformation: Die rot-schwarze Regierung Niedersachsens hat im vergangenen Frühjahr ihre gegenüber dem Landtag bestehende Informationspflicht bei geplanten Änderungen der Corona-Verordnungen verletzt. Dies urteilte der niedersächsische Staatsgerichtshof nach Anträgen von Grünen- und FDP-Fraktion. Aus der landesverfassungsrechtlich vorgesehenen Pflicht erwachsene ein Anspruch auf frühzeitige und vollständige Information über "bedeutsame Regierungsvorhaben", so die FAZ (Marlene Grunert), die auch den Ursprung der Bestimmung erläutert. LTO berichtet ebenfalls.

OVG NRW/OVG SH zu Prüfungsüberwachung: Die Eilentscheidungen der Oberverwaltungsgerichte Münster und Schleswig zur grundsätzlichen Zulässigkeit einer Videoüberwachung bzw. -aufzeichnung von Prüfungsleistungen treffen im Forschung und Lehre-Teil der FAZ auf die Kritik von Rechtsprofessor Rolf Schwartmann. Die Logik etwa der nordrhein-westfälischen Entscheidung erlaubte auch die Installation einer Videokamera "in jedem Hörsaal während der Klausur". Zudem sei beachtlich, dass Prüflinge von ihren Hochschulen künftig Auskunft über gesammelte Daten verlangen und bei Fehlern im Umgang mit solchen Begehren weitere Schadensersatzansprüche geltend machen könnten.

LG Hanau – Sektenmord: Nach Bericht von spiegel.de (Julia Jüttner) befindet das Landgericht Hanau demnächst über die Eröffnung der Hauptverhandlung gegen eine 60-Jährige, der die Staatsanwaltschaft die 1988 erfolgte Tötung ihres damals vierjährigen Sohnes vorwirft. Die Angeschuldigte bewegt sich bis heute in Sektenzusammenhängen. Die Leiterin der Gruppe war im vergangenen September zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt worden.

GenStA München – Abgeordnetenbestechung/Nebentätigkeiten: Zu den Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft München gegen den vormals der CSU angehörenden Bundestagsabgeordneten Georg Nüßlein bringt die FAZ (Corinna Budras u.a.) eine Übersicht zu den wichtigsten Fragen und erklärt hierbei auch die rechtlichen Grenzen der Nebentätigkeiten von Parlamentariern.

Cum-Ex/Warburg-Bank/RA Gauweiler: Dem früheren CSU-Politiker Peter Gauweiler widmet die FAZ (Marcus Jung/Hanno Mußler) in ihrem Unternehmens-Teil ein ausführliches Porträt. Der seit längerem wieder hauptberuflich als Anwalt tätige Gauweiler hat nunmehr die Vertretung der Hamburger Privatbank M.M. Warburg in deren verschiedenen Auseinandersetzung zu Cum-Ex-Steuertricksereien übernommen. In dieser Eigenschaft dürfte er sich auch wieder an seinem "Lieblingsgegner", der Deutschen Bank, abarbeiten, die ebenfalls von Cum-Ex-Geschäften profitiert haben soll. Als nächste Aufgabe stehe aber die Vorbereitung der Warburg-Eigner Christian Olearius und Max Warburg auf deren Zeugenvernehmung im Hamburger Untersuchungsausschuss an.

Recht in der Welt

EP – Carles Puigdemont: Das Europäische Parlament hat sich mehrheitlich für die Aufhebung der Immunität mehrerer spanischer Abgeordneter aus Katalonien, unter ihnen Carles Puigdemont, ausgesprochen. Ob die Separatisten damit nun vor einer Auslieferung nach Spanien stehen, sei weiterhin nicht abzusehen, schreibt die taz (Eric Bonse). 

Karin Janker (SZ) kommentiert, dass sich der Konflikt – nicht zuletzt dank eines "sehr gezielten Lobbyings" katalanischer Nationalisten – längst zu einer internationalen Angelegenheit entwickelt habe. Dabei sei das Unabhängigkeitsstreben der Region als "innerspanischer Konflikt" nur durch einen im Land stattfindenden Dialog zu lösen.

Polen – Bürgerrechtskommissar: Die polnische Behörde des Bürgerrechtskommissars wird als eines von wenigen Verfassungsorganen des Landes noch nicht von einem Parteigänger der Regierungspartei PiS geleitet. Eine turnusmäßige Neubesetzung der Leitung scheiterte bislang daran, dass sich die von der Opposition kontrollierte obere Kammer und das Parlament auf keinen Kandidaten einigen konnten, schreibt die SZ (Florian Hassel). Gemäß dem entsprechenden Gesetz von 1987 bleibe damit der bisherige Leiter im Amt. Am heutigen Mittwoch werde das Verfassungsgericht zum Antrag mehrerer PiS-Parlamentarier verhandeln, diese Passage für verfassungswidrig erklären zu lassen.

Brasilien – Lula: Nachdem ein Richter des Obersten Gerichtshofs vorige Woche die Korruptions-Urteile gegen den früheren linken Präsidenten Lula wegen Unzuständigkeit des Gerichts aufgehoben hat, hat inzwischen die Generalstaatsanwaltschaft diesen Richterspruch angefochten. Nun muss die Aufhebung der Urteile vom Plenum des Obersten Gerichtshofs Brasiliens beurteilt werden, schreibt die FAZ (Tjark Brühwiller). Sollte die Entscheidung Bestand haben, dürfte eine Kandidatur Lulas bei der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr feststehen. Falls Lula dann gewählt wird, stünde ihm Immunität zu und er würde einem neuen Korruptionsprozess vor dem zuständigen Gericht entgehen. 

USA – Daimler: Nach Meldung von spiegel.de hat ein US-amerikanisches Bundesgericht nun einen zwischen dem Daimler-Konzern und staatlichen Behörden erzielten Vergleich genehmigt. Der Autobauer zahlt nach der Vereinbarung zur Abgeltung möglicher Ansprüche wegen Diesel-Manipulationen gut anderthalb Milliarden US-Dollar.

Ruanda – "Hotel Ruanda": Im Jahr 2004 wurde der Geschichte von Paul Rusesabagina in "Hotel Ruanda" ein filmisches Denkmal gesetzt. In der Gegenwart muss sich der Manager in seiner Heimat gegen den Vorwurf des Mordes und der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verteidigen. In einer Seite Drei-Reportage schreibt die SZ (Bernd Dörries) über den "Heldensturz" Rusesabaginas, der sich nach seiner Hilfe im Bürgerkrieg zu einem Gegner des Präsidenten Paul Kagame entwickelt hat.

Sonstiges

Legal Tech: In einem ausführlichen Interview mit LTO (Pia Lorenz) sprechen Holger Zscheyge und Tobias Heining, aktueller und früherer Präsident der European Legal Tech Association ELTA, über den gegenwärtigen Stand beim anwaltlichen Einsatz von Legal Tech-Tools, nach wie vor bestehende Bedenken, zukünftige Möglichkeiten und die Aufgaben ihres Vereins.

Identitätspolitik: Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Valentina Chiofalo erläutert auf dem JuWissBlog die historische Genese des zuletzt von Wolfgang Thierse (SPD) kritisierten Begriffs der Identitätspolitik, unternimmt eine verfassungsrechtliche Einordnung von Identität und legt dar, wie die Verteidigung "eigener grundrechtlicher Positionen" demokratiefördernd wirken kann.

Das Letzte zum Schluss

Hunger: Appetit zur falschen Zeit ist einem Einbrecher nun zum Verhängnis geworden. Die SZ (Oliver Klasen) berichtet, dass bei einem 2012 verübten Einbruch in Gevelsberg im Ruhrgebiet eine angebissene Wurst liegenblieb. Neun Jahr später führte die so sichergestellte DNA-Spur zu einem in Frankreich einsitzenden Mann.

* (Die Bundesregierung zahlt rund 2,4 Mrd. Euro an die Energieversorger, davon 1,4 Mrd. Euro an Vattenfall), korrigiert am 10.3.21, 8.00 Uhr
 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mpi

(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 10. März 2021: . In: Legal Tribune Online, 10.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44459 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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