Die juristische Presseschau vom 3. bis 4. Oktober 2023: Arbeits­ver­bote für Asyl­be­werber auf­heben? / BVerfG vor Ent­schei­dung zu Poli­zei­kosten / Neue Spuren im Siri­us­fall

04.10.2023

Sollen Asylbewerber künftig generell arbeiten dürfen?  Im Streit über die Polizeikosten von Fußballspielen droht der Deutschen Fußballliga auch am BVerfG eine Niederlage. Im Umfeld des berühmten Sirius-Mordfalls gab es weitere Todesfälle.

Thema des Tages

Asyl: Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag Katharina Dröge forderte, alle Arbeitsverbote für Geflüchtete aufzuheben. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai und Kanzler Olaf Scholz (SPD) argumentierten ähnlich. Die CDU/CSU lehnte den Vorschlag ab. Es berichtet die SZ (Roland Preuß), die auch die aktuelle Rechtslage darstellt. Bisher dürfen Asylbewerber:innen in den ersten drei Monaten nicht arbeiten, anschließend entscheide die Ausländerbehörde. Wenn das Asylverfahren nach neun Monaten nicht erledigt ist, bestehe in der Regel ein Anspruch auf eine Arbeitserlaubnis, außer bei Antragssteller:innen, die aus sicheren Herkunftsstaaten stammen oder ihre Identität verschleiern. 

In einem separaten Kommentar kritisiert Roland Preuß (SZ) die Forderung der Grünen. Wenn jeder, der Deutschland erreicht und einen Asylantrag stellt, sofort arbeiten dürfte, wäre dies eine Werbung für die Asylantragstellung und entwerte die neuen Wege zu legaler Einwanderung nach Deutschland.

In einer ganzseitigen Übersicht stellt die FAZ (Helene Bubrowski/Thomas Gutschker u.a.) "Stellschrauben der Asylpolitik" dar und prüft folgende Vorschläge auf ihre Stichhaltigkeit: Obergrenzen, finanzielle Anreize senken, faire Verteilung der Flüchtlinge, deutsche Grenzen kontrollieren, EU-Außengrenzen kontrollieren, aussichtslose Antragsteller:innen für Schnellverfahren intervenieren, mehr "sichere Herkunftsstaaten", Rückführungsabkommen, Asylverfahren in Drittstaaten auslagern. 

Rechtspolitik

Chatkontrolle: Den Stand der Debatte um die Chatkontrolle, die in der geplanten "EU-Verordnung zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern" enthalten ist, erläutert die SZ (Jannis Brühl u.a.) in Frage-und-Antwort-Form. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) lehne den Kommissionsvorschlag immer noch wegen des "anlasslosen und massenhaften Scannens privater Kommunikation" ab und habe jetzt auch Innenministerin Nancy Faeser (SPD) überzeugt. In Brüssel werbe die Bundesregierung für eine Aufspaltung des Entwurfs. So könnten Berichts- und Löschpflichten von Plattformen eingeführt werden, das "client-side-scanning" auf den Geräten der Nutzer:innen solle erst einmal verschoben werden.

EuGH: In einem englischsprachigen Beitrag für den Verfassungsblog freuen sich die Rechtsprofessoren Joseph Weiler und Daniel Sarmiento, dass ihr bereits vor drei Jahren unterbreiteter Vorschlag zur Schaffung einer "gemischten" Berufungsinstanz innerhalb des Europäischen Gerichtshofs nun von einer deutsch-französischen Regierungskommission aufgegriffen wurde. Die "Mixed Chamber" wäre aus Mitgliedern des EuGH sowie Mitgliedern der jeweiligen Obergerichte oder Verfassungsgerichte der EU-Mitgliedstaaten zusammengesetzt und für Kompetetenzstreitigkeiten zuständig.

Betriebsratsvergütung: Eine von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) eingesetzte Juristenkommission hat vorgeschlagen, die Vergütung von Betriebsräten in Betriebsvereinbarungen zu regeln. Würden dort die Maßstäbe der Vergütung transparent dargelegt, ließen sich die Vereinbarungen nur noch bei grober Fehlerhaftigkeit anfechten. Die entsprechende Ergänzung des Betriebsverfassungsgesetzes müsse nun zunächst innerkoalitionär beraten werden. Die Neuregelung war erforderlich geworden, nachdem der Bundesgerichtshof im vergangenen Januar die Vergütung hypothetischer Sonderkarrieren von Betriebsräten tendenziell als strafrechtlliche Untreue einstufte, erinnert das HBl (Frank Specht).

In einem separaten Kommentar begrüßt Frank Specht (HBl) das Vorhaben als überfällig. Die BGH-Entscheidung habe Rechtsunsicherheit geschaffen und untergrabe so auch das Vertrauen in die Effektivität betrieblicher Mitbestimmung.

Schriftform bei Gewerbemieten: Die Anwälte Marc Alexander Häger und Caner Ertasoglu kritisieren auf LTO den von der Bundesregierung (in einem Eckpunktepapier für ein "Bürokratieentlastungsgesetz") geplanten Wegfall des bisherigen Schriftformerfordernisses für Mietverträge über Gewerberäume. Die Idee greife zwar auf eine bereits länger anhaltende rechtspolitische Diskussion über die Notwendigkeit der Formstrenge auf, durch die Unsicherheiten über die Geltung von Kündigungsfristen der üblicherweise langfristig angelegten Verträge vermieden werden sollen. Dies lasse sich aber auch auf naheliegendere Weise erreichen, so die ausführliche Darstellung der Problematik.

Justiz

BVerfG – Polizeikosten bei Hochrisikospielen: Die Welt berichtet in ihrem Sport-Teil über die bevorstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die von der Deutschen Fußball-Liga erhobene Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des BVerwG, das Gebührenbescheide für Polizeikosten bei Hochrisikospielen der Fußball-Bundesliga als rechtmäßig einstufte. Das im Ausgangsfall beklagte Land Bremen zweifle nicht an der Aussichtslosigkeit der Verfassungsbeschwerde, mittlerweile habe sich auch die Bundesrechtsanwaltskammer in einem Gutachten dieser Rechtsauffassung angeschlossen. Die DFL als Organisation der Profivereine der ersten und zweiten Liga beharre dagegen auf dem Standpunkt, dass die Herstellung von Sicherheit im öffentlichen Raum eine staatliche Kernaufgabe sei. 

EuG zu Amazon und DSA: Der Online-Händler Amazon hat am Gericht der Europäischen Union eine einstweilige Verfügung erwirkt, nach der das Unternehmen bestimmte Anforderungen des Digital Services Act der EU vorläufig nicht erfüllen muss. Amazon habe bestritten, eine "sehr große Onlineplattform" im Sinne der EU-Verordnung zu sein, so die FAZ (Michael Hanfeld). Es bleibe nun vorläufig von der Pflicht befreit, in einer einzurichtenden Datenbank öffentlich zu machen, wie das Unternehmen seine Werbung verwaltet und welche Einnahmen es hierbei erzielt.

BGH zu Informationspflichten beim Immobilienverkauf: Die Mitte September verkündete Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu Aufklärungspflichten beim Verkauf von Immobilien ist Thema eines Gastbeitrags von Rechtsanwalt Maximilian Findeisen in der FAZ. Er legt dar, wie künftig "Datenräume" gestaltet werden müssen, in denen Vertragsinformationen für den Käufer digital bereitgestellt werden. 

OLG Brandenburg – Bushido/Abou-Chaker wg. Wohnungen: Das Oberlandesgericht Brandenburg verhandelt am heutigen Mittwoch über einen weiteren Zivilrechtsstreit zwischen dem Musiker Bushido und seinen vormaligen Geschäftspartner Arafat Abou-Chaker. In der Berufung muss über Abfindungsansprüche Abou-Chakers wegen einer von Bushido unternommenen Auflösung einer GbR befinden, die 2010 zum Erwerb von Wohnungen in einer Gemeinde unweit Berlins gegründet worden sei. Dies berichtet bild.de (Axel Lier).

LG München I – Andrea Tandler: Ab dem heutigen Mittwoch muss sich die Unternehmerin Andrea Tandler am Landgericht München I gegen den Vorwurf der Steuerhinterziehung verteidigen. Nach dem Vorbericht von spiegel.de (Jürgen Dahlkamp) hat die Verteidigung Tandlers eine mehrstündige Erklärung angekündigt, hierbei werden alle Argumente vorgetragen. 

LG München I – Ex-Wirecard-Chef Braun: Das Strafverfahren gegen den früheren Wirecard-Vorstandschef Markus Braun wird am Landgericht München I mit der Vernehmung Thomas Eichelmanns fortgesetzt. Der frühere Aufsichtsratsvorsitzende solle sich zu Einflussnahmen des Angeklagten äußern, so spiegel.de.

VG Münster zum Präsidentenposten am OVG NRW: Das Land NRW hat Beschwerde beim OVG NRW gegen einen Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Münster eingelegt. Das VG hatte das in der vergangenen Woche die Besetzung des Präsidentenpostens am Oberverwaltungsgericht des Landes vorläufig gestoppt und hierbei u.a. die auf Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) zurückgehende "manipulative Verfahrensgestaltung" gerügt. Am morgigen Donnerstag wird sich auch der Rechtsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags mit der Angelegenheit befassen. LTO berichtet.

StA-Statistik: Nach einer Umfrage der Deutschen Richterzeitung verzeichnen die Staatsanwaltschaften einen erheblichen Anstieg unerledigter Fälle. Gegenüber der letzten Erhebung vor zwei Jahren betrug dieser zur Jahresmitte 2023 28 Prozent. Die mit 5,2 Millionen angegebene Anzahl neuer Fälle stelle einen Rekord dar. LTO berichtet.

Recht in der Welt

Spanien – Luis Rubiales: Im Zuge der Vorermittlungen gegen den früheren Fußballverbandschef Spaniens, Luis Rubiales, haben mehrere Mannschaftskameradinnen von Jennifer Hermoso gegenüber dem Ermittlungsrichter angegeben, sie sei sowohl von Rubiales selbst als auch von anderen Funktionären unter Druck gesetzt worden, in einem gemeinsamen Video die Vorwürfe zu entkräften. Eine Entscheidung über oder gegen eine Anklageerhbung sei noch nicht gefallen. spiegel.de berichtet.

Italien – Migration: Ein Zivilgericht im sizilianischen Catania hat auf die Klage eines tunesischen Flüchtlings die neuen verschärften italienischen Regeln zum Umgang mit Migrant:innen für rechtswidrig erklärt, schreibt die SZ (Marc Beise). Die von der neuen Regierung erlassenen Bestimmungen sähen vor, dass Asylbewerber:innen, die aus einem sicheren Drittland kommen und bei denen die Ablehnung des Asylantrags wahrscheinlich ist, ohne Prüfung des Einzelfalls bis zu 18 Monate in Abschiebehaft genommen werden. Nach Einschätzung des Gerichts verstoße dies gegen Unionsrecht und Landesverfassung, weil hierdurch der Anspruch auf individuelle Prüfung des Asylbegehrens verletzt werde. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni habe die Vorsitzende Richterin nach dem Urteilsspruch kritisiert und dürfte nun mehr denn je versucht sein, die von ihr betriebene, sogenannte Justizreform umzusetzen.

Türkei – Osman Kavala: In einem Gastbeitrag für spiegel.de kritisiert Hugh Williamson von Human Rights Watch die Türkei. In der vergangenen Woche hatte das Oberste Berufungsgericht der Türkei das Urteil gegen den inhaftierten türkischen Kulturförderer Osman Kavala zu lebenslanger Haft bestätigt. Der Autor erinnert an die bereits zweifach ergangene Anordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Kavala freizulassen. Die fortlaufende Weigerung der Türkei, dies umzusetzen, sei Gegenstand eines vom EGMR veranlassten Vetragsverletzungsverfahrens.

Armenien – IStGH-Beitritt: Entgegen offener Drohungen seitens der russischen Führung hat das armenische Parlament den Beitritt des Landes zum Statut des Internationalen Strafgerichtshofs beschlossen. Der Beitritt solle eine Ahndung aserbaidschanischer Übergriffe ermöglichen, so zeit.de.

USA – Trump/Immobiliengesellschaften: Eine Analyse von zeit.de (Anna Sauerbrey) fasst die in New York gegen Donald Trump verhandelten Vorwürfe von Betrügereien bei der Bewertung seiner Immobiliengesellschaften zusammen. Die Staatsanwaltschaft habe eine Zivilklage gegen Trump erhoben, sodass ihm lediglich eine Geldstrafe von 250 Millionen Dollar droht. Diese könnte – Rechtskraft vorausgesetzt - Trump finanziell in Bedrängnis bringen. Außerdem droht seinen Gesellschaften der Verlust der Geschäftslizenz in New York, so dass sie zB den Trump Tower nicht mehr bewirtschaften dürften.

USA – Sam Bankman-Fried: In New York begann der Strafprozess gegen Sam Bankman-Fried. Dem Gründer der mittlerweile insolventen Kryptobörse FTX wird vorgeworfen, Kundengelder der Börse zugunsten eines Kryptohedgefonds namens Alameda Research verwendet zu haben. Bei einer Verurteilung drohten dem Angeklagten mehr als 100 Jahre Haft. Mit einem Urteil werde Mitte November gerechnet. Vorberichte bringen SZ (Max Muth), HBl (Astrid Dörner) und zeit.de (Julian Heißler).

Sonstiges

Siriusfall: Der sogenannte Siriusfall dient in der juristischen Ausbildung zur Vermittlung der Abgrenzung einer Tötung in mittelbarer Täterschaft und – straffreier – Teilnahme am Suizid. Im persönlichen Umfeld des 1983 vom Bundesgerichtshof rechtskräftig verurteilten Fred G. soll es aber weitere mysteriöse Todesfälle gegeben haben, wie eine dreiteilige True-Crime-Doku im SWR darstellt. Die Doktorandin Katharina Reisch lobt sie auf LTO als spannend und "unglaublich". G. scheine seit Mitte der 1990er Jahren verschollen zu sein.

Wirtschaftskanzleien: Die 100 umsatzstärksten Wirtschaftskanzleien in Deutschland haben ihre Umsätze im Geschäftsjahr 2022/2023 um fast sieben Prozent auf insgesamt fast neun Milliarden Euro gesteigert. Dies berichtet unter Bezugnahme auf Erhebungen des Juve-Verlags die FAZ (Marcus Jung). Auf den drei Spitzenplätzen des Umsatz-Rankings finden sich Freshfields Bruckhaus Deringer, CMS Hasche Sigle sowie Hogan Lovells. Grundsätzlich gehörten "Wirschaftsanwälte" zu "den klaren Gewinnern der "anlassbezogenen hohen Nachfrage" nach kompetenter Rechtsberatung, ihnen sei es am ehesten gelungen, auch höhere Honorare durchzusetzen.

Lieferkettensorgfaltspflicht und LKW-Streik: Ein Forschungsprojekt der Hans-Böckler-Stiftung unter Leitung der Politikprofessorin Sonja Buckel und der Juristin Carolina Alves Vestena stellt auf dem Verfassungsblog Bezüge des jüngst beendeten Streiks von osteuropäischen LKW-Fahrern in Hessen und dem Anfang des Jahres in Kraft getretenen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz vor. Den Streikenden sei es gelungen, ihren Beitrag in internationalen Lieferketten sichtbar zu machen und damit auch Einfluss auf die Anwendung des neuen Gesetzes auszuüben.

Networking für Introvertierte: Klassische Networking-Events sind für introvertierte Menschen kraftraubende Herausforderungen. Wie es trotzdem gelingen kann, karrierefördernde Netzwerkerfolge zu erzielen, verrät Rechtsanwältin Anja Schäfer auf LTO-Karriere.

Das Letzte zum Schluss

Bedingt abwehrbereit: Nach einem Bericht von spiegel.de ist der Finanzpolizei im italienischen Rimini ein Schlag gegen eine Bande von Öldieben gelungen. Ermittlungen gegen 46 Verdächtige hätten ergeben, dass diese Ende des vergangenen Jahrzehnts eine Kerosin-Leitung der NATO im französisch-belgischen Grenzgebiet angezapft haben. So seien 800.000 Liter Flugzeugkraftstoff erbeutet worden. Mit Diesel oder Öl vermischt, sei das flüssige Gold dann an PKW-Tankstellen verkauft worden.

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/mpi/chr

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 3. bis 4. Oktober 2023: . In: Legal Tribune Online, 04.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52835 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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