Die Minister Buschmann und Lindner plädieren für eine Absenkung der Asylbewerberleistungen. Die Clooney Foundation übergibt Rechercheergebnisse zur Ukraine an den GBA. Bundespräsident Steinmeier äußert Sympathien für eine neue Rechtsform.
Thema des Tages
Asyl/Sozialleistungen: In einem Gastbeitrag für die WamS fordern Bundesfinanzminister Christian Lindner und Bundesjustizminister Marco Buschmann (beide FDP) eine Absenkung der Leistungen für Asylbewerber:innen, um so finanzielle "Pull-Faktoren“ zu reduzieren. Die Finanzierung von Festnetzanschlüssen, Kulturveranstaltungen und Zeitungsabos sei nicht verfassungsrechtlich vorgegeben. Bei Menschen, die sich weigern, in den nach den Dublin-Regeln zuständigen EU-Staat zurückzukehren, könne die Leistung zudem auf die Erstattung der notwendigen Reisekosten in den zuständigen Staat abgesenkt werden.
Die Mo-taz (Christian Rath) hat sich den vom Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 2012 und einem Beschluss von 2021 vorgegebenen Rahmen für die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angeschaut. So dürfe das Leistungsniveau für Asylsuchende nicht unter das Existenzminimum abgesenkt werden, um Ausländer:innen abzuschrecken, nach Deutschland zu kommen, Allerdings habe der Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Existenzminimums. Das Existenzminimum sei aber einheitlich zu gewähren, eine Differenzierung nach physischem und sozialem Existenzminimum sei nicht zulässig.
Natürlich wüssten die zwei von der FDP, dass jeder zweite Asylerstantragsteller minderjährig ist, kommentiert Constanze von Bullion (Mo-SZ). Weniger Mittel für Freizeit und Kultur, heiße hier: mehr Isolation. Man könne, statt zu provozieren, aber auch Dringlicheres anpacken, meint die Autorin, Arbeitsverbote für Migranten etwa. Erst wenn die fielen und die Menschen für sich selbst einstehen könnten, dürften staatliche Leistungen entfallen.
Asyl/Arbeitspflicht: Warum er meint, dass "die aktuelle Debatte zur Arbeitspflicht für Asylsuchende neben der Sache liegt", erläutert der wissenschaftliche Mitarbeiter Julian Seidl im Verfassungsblog. Die Idee einer "Arbeitspflicht" finde sich bereits im geltenden Recht, hier bestehende Umsetzungsschwierigkeiten ließen sich nicht auf legislatorischer Ebene kompensieren. Außerdem setze eine "Arbeitspflicht", die mittels Kürzungen der Existenzsicherung durchgesetzt werden soll, den Zugang der Betroffenen zum Arbeitsmarkt voraus. Eine "Arbeitspflicht“ für diejenigen zu fordern, die nicht arbeiten dürfen, sei in seiner Widersprüclichkeit geradezu sinnbildlich für die aktuelle migrationspolitische Diskussion.
Rechtspolitik
Verantwortungseigentum: Auf Zuspruch des Bundespräsidenten trifft die von der Ampelkoalition geplante Unternehmensform des Verantwortungseigentums. "Ihr Grundanliegen, verantwortlichem Unternehmertum eine Form zu geben, hat meine Sympathie", sagte Steinmeier zur Eröffnung einer Konferenz von Initiator:innen und Unterstützer:innen des Projekts. Die Idee, Kapital im Unternehmen zu binden und damit dauerhaft dem Unternehmenszweck zu dienen, "statt im Quartalstakt maximale Renditeansprüche einiger weniger zu erfüllen", sei "geradezu prädestiniert", um die vielfältigen Herausforderungen für die Wirtschaft zu erfüllen, wird Steinmeier in der Sa-FAZ (Katja Gelinsky) zitiert. Die Rechtsform der Verantwortungsgemeinschaft ist allerdings weiter umstritten. Unterstützung findet das Projekt zum Beispiel beim Verband deutscher Unternehmerinnen, skeptisch ist der Bundesverband der Deutschen Industrie.
Straßenverkehr: Wie die Bundesregierung das Straßenverkehrsrecht so ändern will, dass, wie es im Koalitionsvertrag heißt, "neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden", beschreibt LTO (Max Kolter). Nachdem im Juni Verkehrsminister Volker Wissing einen Entwurf für Änderungen im Straßenverkehrsgesetz vorlegte, der einen Tag später von der Bundesregierung beschlossen wurde, passierten vor wenigen Tagen die Änderungsvorschläge zur Straßenverkehrsordnung das Kabinett. Allerdings gibt es deutliche Kritik: Es sei kein großer Wurf, sondern unübersichtliches Flickwerk", heißt es beispielsweise von der Deutschen Umwelthilfe (DUH).
Recht auf Reparatur: Der Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments hat seinen Bericht zum Kommissionsentwurf für ein "Recht auf Reparatur", beschlossen, in dem eine Reihe von Änderungen vorgeschlagen werden. So sollen sich Verbraucher künftig für eine Reparatur auch direkt an den Hersteller statt zunächst an den Händler wenden können. Nach der Reparatur sollen Hersteller wie Werkstätten ein Jahr lang haften. Trotz der vorgeschlagenen Änderungen sei man aber "von einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft nach wie vor meilenweit entfernt", kommentiert Maximilian Voigt von der Open Knowledge Foundation Deutschland auf netzpolitik.org.
Vorratsdatenspeicherung: Anlässlich zweier aktueller Prozesse gegen IS-Terroristen plädiert Reiner Burger (FAS) für die Wiederbelebung der Vorratsdatenspeicherung. Im Kampf gegen die Feinde der offenen Gesellschaft gelte es, alle rechtsstaatlichen Mittel auszuschöpfen, deshalb müsse Deutschland endlich auch nutzen, was der Europäische Gerichtshof in Sachen Vorratsdatenspeicherung schon vor drei Jahren möglich gemacht habe.
Abschiebung: bild.de (Elias Sedlmayr/Peter Tiede) schildert den politischen Dissens in der Familie Lauterbach. Während Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im Kabinett dem Entwurf für ein Rückführungsverbesserungsgesetz zustimmte, kritisierte seine Tochter Rosa-Lena Lauterbach das Vorhaben auf dem Verfassungsblog. Vater Lauterbach: "Meine Tochter ist alt genug und weiß, was sie tut. Sie ist eine ausgezeichnete Juristin und Verfassungsrechtlerin, auf die ich ungeheuer stolz bin."
Justiz
GBA – Ukraine: In der Hoffnung, dass in Deutschland entsprechende Strafverfahren eröffnet werden, hat die Clooney Foundation for Justice der Bundesanwaltschaft Recherchen über mutmaßliche Kriegsverbrechen in der Ukraine übergeben. Es geht um den wahllosen Beschuss einer Ferienanlage in der Region Odessa, bei dem 22 Zivilisten getötet wurden, um Folter und Ermordung von vier Zivilisten in der Region Charkiw sowie um Mord, Folter und Vergewaltigung durch russische Soldaten im Umland von Kiew. Weil sich die Täter aber nicht in Deutschland aufhalten, ist die Bundesanwaltschaft nicht zu Ermittlungen verpflichtet. Sa-SZ (Ronen Steinke) und spiegel.de (Ann-Dorit Boy) berichten.
BVerfG – Bundestags-Wahlrecht/Fünf-Prozent-Klausel: Rechtsanwalt Sebastian Roßner widmet sich auf LTO der von Mehr Demokratie koordinierten Massen-Verfassungsbeschwerde gegen die Reform des Bundestagswahlrechts. Die Klage zeige beachtliche Argumente gegen ein Fortbestehen der Fünf-Prozent-Klausel auf. Der Autor kommt zum Ergebnis, dass der Gesetzgeber seine vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Überwachungspflicht verletzt habe, weil er bei der Wahlrechtsreform nicht geprüft habe, ob die Fünf-Prozent-Klausel weiterhin erforderlich sei, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu sichern.
BGH zu Informationspflichten beim Immobilienverkauf: Die Rechtsanwält:innen Andrea Leufgen und Florian Wagner erklären im FAZ-Einspruch, was die Entscheidung des Bundesgerichtshofes aus dem September zu den Aufklärungspflichten des Verkäufers im Rahmen einer Due Dilligence-Prüfung für die Praxis bedeutet. Das Urteil zu einem Immobiliengeschäft sei auf M&A-Transaktionen übertragbar. Mehr Rechtssicherheit habe der BGH allerdings nicht geschaffen, so die Autor:innen, weil er auf eine Vielzahl von Einzelumständen abstellte.
BSG zu überlangen Verfahren: Eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer sei nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Kläger eine Vielzahl weiterer Klagen erhoben haben. Das hat das Bundessozialgericht am Donnerstag entschieden. Auch das Prozessverhalten ihrer Prozessbevollmächtigten in sie nicht betreffenden anderen Verfahren müssten sich die Klägerinnen nicht zurechnen lassen. Die Anwälte führten insgesamt 667 Prozesse beim Ausgangsgericht. beck-aktuell (Joachim Jahn) berichtet über die Entscheidung.
GBA – Umsturzpläne/Reuß: Wie der Spiegel erfahren hat, erwägt der Generalbundesanwalt im Verfahren gegen die Reichsbürger-Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß, Anklage vor drei verschiedenen Gerichten zu erheben. In Frage kämen dabei die Oberlandesgerichte in Frankfurt/M., Stuttgart und München. Hintergrund sei die Größe des Ermittlungskomplexes, der die Kapazitäten eines einzelnen Gerichts überlasten könnte.
LG Bonn – Cum.Ex/Christian Olearius: Am 6. November wird der Cum-Ex-Prozess gegen den Miteigentümer der Privatbank M.M. Warburg Christian Olearius fortgesetzt. Die FAS (Marcus Jung) fasst ausführlich noch einmal die Hintergründe und den bisherigen Verlauf des Verfahrens zusammen.
LG Bielefeld zu Videoverhandlung: Weil er vorher nicht geprüft hatte, ob bei einer Videoverhandlung nicht nur die Ton- sondern auch die Bildübertragung funktioniert, hat ein Anwalt vom Landgericht Bielefeld ein Versäumnisurteil kassiert. Säumnis sei bereits dann anzunehmen, wenn eine Partei zwar den Ton, aber von Anfang an kein Bild in den Sitzungssaal übertragen könne, so das Gericht laut beck-aktuell. Der Anwalt habe dies verschuldet, er hätte – als Teil seiner berufsbedingten Sorgfalt – sicherstellen müssen, dass Ton und Bild übertragen werden.
LG München I zu Bergrettungskosten: Erfolglos hat eine Wanderin ihren Begleiter auf Zahlung hälftiger Rettungskosten verklagt, die entstanden waren, weil die Klägerin sich geängstigt hatte, kurz vor Einbruch der Dunkelheit eine Felswand hinabzusteigen und deshalb ein Rettungshelikopter gerufen wurde. Das Gericht lehnte eine vertragliche Haftung ab: Eine rein private gemeinsame Freizeitveranstaltung wie eine privat durchgeführte gemeinsame Bergtour sei für sich genommen nicht geeignet, eine vertragliche Haftung zu begründen, im Vordergrund stünde vielmehr der soziale Kontakt. Auch einen Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB sah das Gericht nicht. Die beiden Wanderer seien Mitglieder einer "Gefahrengemeinschaft" gewesen, in der sie die Entscheidungen gemeinsam getroffen hätten und in der der Beklagte keine Gesamtverantwortung für "die Gruppe" übernommen habe. LTO (Louis Strelow) berichtet.
LG Berlin zu Mord wegen Rente: Betroffen berichtet Verena Mayer (Sa-SZ) in ihrer Kolumne "Vor Gericht" über den Prozess um den Mord an einem Rentner durch einen Bekannten, den das Landgericht Berlin 2017/2018 führte. Der Tod des alten Mannes blieb zehn Jahre unentdeckt – der Mörder ließ sich in dieser Zeit die Rente auszahlen, zahlte Miete und gab die Steuererklärung für den Getöteten ab. Dass der Tod niemandem sonst auffiel, sage auch etwas über den Umgang der Gesellschaft mit alten Menschen, beklagt Mayer.
Recht in der Welt
Israel – Hamas-Angriff: Auf beck-aktuell untersucht Rechtsprofessor Pierre Thielbörger, ob, und wenn ja in welchen rechtlichen Grenzen, Israel im Rahmen seines Selbstverteidigungsrechts gegen die Hamas im Gaza-Streifen vorgehen dürfe. Er meint, dass das Aushungernlassen der Zivilbevölkerung sowie das Abschneiden der lebensnotwendigen Wasser- und Stromversorgung als besonders unmenschliche Kriegshandlung gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen.
Ob das Recht zur Selbstverteidigung des Staates Israel dem Notwehrrecht aus § 32 StGB entspreche, untersucht Ex-Bundesrichter Thomas Fischer in seiner spiegel.de-Kolumne. "Im Grundsatz ja, im Konkreten allerdings fast gar nicht", so Fischer. Mit Notwehr habe weder der terroristische Angriff vom 7. Oktober noch der auf die Hamas zielende Vernichtungsplan der israelischen Regierung zu tun. Die Bombardierungen seien keine "Nothilfe" im Sinne von § 32 StGB zu Befreiung der Geiseln, sondern Kriegshandlungen, für welche nicht die Regeln des individuellen Strafrechts, sondern die Regeln des Kriegsvölkerrechts gelten.
USA – Panama Papers: In das New Yorker Verfahren zur Klage eines anonymen Informanten, der sich vom Bundeskriminalamt hintergangen fühlt, komme jetzt Bewegung, berichtet die WamS (Benjamin Stibi). "John Doe" fordert für die von ihm übergebenen Informationen im Zusammenhang mit den so genannten Panama Papers die ihm seiner Meinung nach zustehenden Erfolgsprovisionen. Das Gericht wolle nun die Bundesrepublik anhören, bevor es über die Zulässigkeit der Klage entscheide. Das besondere an dem Verfahren: Der Kläger will komplett anonym bleiben, was bereits Probleme im Zusammenhang mit der Zustellung der Klage an den Klagegegner, also die Bundesrepublik, aufwirft.
Sonstiges
Pro-palästinensische Demonstrationen: In Maximilian Steinbeis (Verfassungsblog) wundert sich in seinem Editorial über die Debattenverschiebung bei der Frage, was im Zusammenhang mit Protest und der Repression des Protestes grundrechtlich erlaubt und was verbietbar ist. Plötzlich seien sich offenbar weite Teile der Politik und der öffentlichen Meinung darin einig, dass die Antwort auf die Frage, wie weit der Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit reiche, nicht in bestimmten benennbaren Normen des Grundgesetzes zu suchen und zu finden ist, sondern in etwas, das sich „Staatsräson“ nenne. Steinbeis erinnert aus diesem Anlass an das grundsätzliche Verbot von Sondergesetzen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit.
Die Forderung, pro-palästinensische Äußerungen pauschal zu verbieten und der Ruf nach einem Straftatbestand, der die Leugnung des Existenzrechts Israels verbietet, sei Ausdruck von Ratlosigkeit, kommentiert Jost Müller-Neuhof (tagesspiegel.de). Die Verbotsroutinen bei Pro-Palästina-Demos ließen bereits jetzt daran zweifeln, ob Behörden (und Gerichte) das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit hinreichend gewichteten.
Linksfraktion im Bundestag: Die Auswirkungen der Übertritte mehrerer Bundestagsabgeordneter der Linksfraktion im Bundestag von der Partei Die Linke zum Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) beleuchtet der wissenschaftliche Mitarbeiter Jannik Klein im Verfassungsblog. Er widmet sich dabei insbesondere der Frage, ob der Bundestag den Fraktionsstatus aberkennen dürfte oder dieser möglicherweise bereits automatisch erloschen sei. Er spricht sich gegen ein automatisches Erlöschen aus, weil die Abwägung, ob trotz einer fehlenden Homogenität der Fraktionsstatus zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Bundestages erhalten bleiben soll, allein vom Parlament getroffen werden sollte. Das heiße im Ergebnis, dass der Bundestag der Linksfraktion den Fraktionsstatus schon jetzt aberkennen dürfe, dazu aber nicht verpflichtet sei. Spätestens mit dem Unterschreiten der Fraktionsmindeststärke von 37 Abgeordneten ende der Fraktionsstatus aber automatisch.
Rechtsgeschichte – BAG-Richterin Meier-Scherling: Martin Borowsky vom Verein Justizgeschichte erinnert auf LTO an Anne-Gudrun Meier-Scherling, die 1955 als erste Richterin ans Bundesarbeitsgericht gewählt wurde. Bereits seit Schülerzeiten links engagiert, habe ihr Herz als Juristin für das Familien- und Sozialrecht und für die Verteidigung schutzbedürftiger Menschen geschlagen. In der NS-Zeit wurde sie misstrauisch beäugt, da sie "des Marxismus verdächtig" gewesen sei. 1950 flieht sie aus der damaligen DDR in den Westen.
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LTO/pf/chr
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Die juristische Presseschau vom 28.bis 30 Oktober 2023: . In: Legal Tribune Online, 30.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53014 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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