Die juristische Presseschau vom 5. Oktober 2023: Auf­takt beim Tandler-Pro­zess / BVerfG zu expe­ri­men­tellem Heil­ver­such / BGH zu beA-Sorg­faltspf­licht

05.10.2023

Der Prozess gegen Andrea Tandler wegen Steuerhinterziehung bei Maskendeals hat begonnen. Krankenkassen müssen Heilversuche ohne wissenschaftliche Evidenz nicht bezahlen. BGH lässt (per beA) falsch versandten Schriftsatz nicht gelten.

Thema des Tages

LG München I – Andrea Tandler: Am Landgericht München I hat der Prozesses gegen Andrea Tandler, die Tochter des früheren bayerischen Finanzministers Gerold Tandler (CSU), begonnen, die sich wegen Steuerhinterziehung verantworten muss, Tandler hatte während der Pandemie Maskendeals vermittelt und soll die dafür erhaltene Provisionen von über 48 Millionen Euro nicht ordnungsgemäß versteuert haben. Tandler und ihr Geschäftspartner Darius N. sollen 8,7 Mio Euro Einkommensteuer, 6,6 Mio Euro Schenkungssteuer und 8,2 Mio Euro Gewerbesteuer hinterzogen haben. In ihrem Statement am ersten Verhandlungstag sagte Tandler, dass sie "diese Geschäfte nach bestem Wissen und Gewissen abgewickelt" habe. Sie habe gewollt, "dass alles steuerlich korrekt gehandhabt wird.“ Aber es sei eine hektische Zeit gewesen, in der "Fehler passiert sein können". Darius N. sei ihr Geschäftspartner, kein Lebenspartner. Er habe voll mitgearbeitet, sie habe ihm nichts geschenkt und daher keine Schenkungssteuer hinterzogen. Die Maskendeals seien von München aus eingefädelt worden, aber die berufliche Zukunft hätten Tandler und N. im steuergünstigeren Grünwald gesehen. Für den Prozess hat das Gericht bislang sechs Wochen eingeplant. Es berichten FAZ (Karin Truscheit), SZ (Annette Ramelsberger), taz (Dominik Bauer), spiegel.de (Julia Jüttner) und LTO.

Rechtspolitik

Polizeigesetz Berlin: Die Berliner Regierungsfraktionen von CDU und SPD haben sich auf eine Novelle des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG) geeinigt, berichten FAZ (Markus Wehner) und taz (Erik Peter). Unter anderem sieht der Entwurf vor, dass der Unterbindungsgewahrsam von 48 Stunden auf bis zu sieben Tage bei Terrorgefahr und bis zu fünf Tage bei drohenden Sexualtaten und Geiselnahmen verlängert werden soll. Für Klima-Aktivist:innen würde sich nichts ändern. Polizist:innen sollen Bodycams auch in Privaträumen einsetzen dürfen, wenn es um häusliche Gewalt geht. Zudem sollen Bürger:innen die Aufnahmen verlangen können, um mögliches Fehlverhalten der Beamt:innen zu dokumentieren.

Cannabis: Angesichts der geplanten Teil-Legalisierung von Cannabis beschreibt die SZ (Ronen Steinke) beispielhaft ein Gerichtsverfahren, wie es nach geltendem Recht beim Besitz einer kleinen Menge Cannabis abläuft. 180 000 solcher Verfahren wegen kleiner und kleinster Mengen von Cannabis führen Strafverfolger:innen in Deutschland Jahr für Jahr durch. Wenn die Neuregelung in Kraft tritt, werde sich die Anzahl der gerichtlichen Strafverfahren wegen cannabisbezogener Delikte "stark verringern", erhofft sich die Regierung. Bis dahin allerdings, so heißt es im Text, werde "gegen Kiffer weiter prozessiert. So, als wäre alles beim Alten, als gäbe es die Legalize-it-Pläne da draußen gar nicht."

Asyl: Reinhard Müller (FAZ) meint, dass die Versorgung von Asyl-Antragsteller:innen mit Sachleistungen, wie es derzeit insbesondere von der FDP vorgeschlagen wird, verfassungsrechtlich möglich und auch kein Problem der Menschenwürde sei. Es sei das gute Recht des Staates, dadurch Missbrauch zu verhindern und Anreize zu senken.

Justiz

BVerfG zu Kosten für experimentelle Therapie: Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass eine Krankenkasse die Medikamentenkosten eines schwer kranken Kindes für eine experimentelle Therapie, zu der es keine wissenschaftlichen Daten gibt, nicht übernehmen muss. Eine entsprechende Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, berichtet spiegel.de. Zwar dürften lebensbedrohlich Erkrankte nicht grundsätzlich von Behandlungen jenseits der Schulmedizin ausgeschlossen werden, für eine Kassenbezahlung sei aber "eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf" erforderlich, so die Karlsruher Richter:innen.

BGH zu falschem Schriftsatz per beA: Der Bundesgerichtshof hat Ende August eine Entscheidung des OLG Brandenburg bestätigt, mit der die Berufung eines Anwalts wegen Fristversäumung abgewiesen wurde. Grund war, dass aus seiner Kanzlei per beA statt der korrekten Berufungsbegründung ein völlig anderer Schriftsatz eingereicht worden war, der mit dem Verfahren in keinerlei Zusammenhang stand. Der BGH erinnerte in seiner Entscheidung auch daran, dass anhand eines zuvor sinnvoll vergebenen Dateinamens, der die Verwechslung mit anderen Dateien ausschließe, auch zu prüfen sei, ob sich die automatisierte Eingangsbestätigung auf die Datei mit dem Schriftsatz beziehe, dessen Übermittlung erfolgen sollte. Der verwendete Dateiname "Berufungsschriftsatz.pdf" war nach Ansicht des BGH alles andere als geeignet, eine Verwechslung auszuschließen. LTO (Hasso Suliak) berichtet.

BGH zu Prüfpflicht des Insolvenzverwalters: Insolvenzverwalter müssen die Konten eines Schuldners in angemessener Zeit darauf überprüfen, ob ein Grund für die Anfechtung von verdächtigen Zahlungen vorliegt. Wenn sie dies nicht für die letzten drei Jahre tun, handeln sie in der Regel grob fahrlässig. Über diese Entscheidung des Bundesgerichtshofes berichtet beck-aktuell (Joachim Jahn). 

LG München I – Ex-Wirecard-Chef Braun: Im Prozess gegen den früheren Wirecard-Vorstandschef Markus Braun vor dem Landgericht München I hat am Mittwoch der frühere Aufsichtsratsvorsitzende Thomas Eichelmann ausgesagt. Zu Beginn seiner auf zwei Tage angesetzten Zeugenvernehmung habe Eichelmann berichtet, dass es in dem Kontrollgremium zwar Ärger über Braun gegeben habe, er beschuldigte Braun allerdings keiner Straftat. SZ (Stephan Radomsky), LTO und spiegel.de (Martin Hesse) berichten.

LG Hamburg zu Till Lindemann/Shelby Linn: Weil er kein Rechtsmittel eingelegt hat, ist die Unterlassungsverfügung, die der Rammstein-Sänger Till Lindemann gegen die nordirische Konzertbesucherin Shelby Lynn beantragt hatte, rechtskräftig abgelehnt. Theoretisch möglich bleibe für Lindemann noch die Möglichkeit, eine Klage im Hauptsacheverfahren zu erheben, erklärt LTO (Felix W. Zimmermann). Wahrscheinlich sei dies aber nicht, denn hätte Lindemann eine schnelle gerichtliche Klärung der höheren Instanz erreichen wollen, wäre dies mit der sofortigen Beschwerde möglich gewesen.

LG Berlin – Vergewaltigung einer Ukrainerin: Der Prozess gegen einen ehemaligen Pornodarsteller, dem die Vergewaltigung einer geflüchteten Ukrainerin vorgeworfen wird, muss neu beginnen. Auf seinen Wunsch hatte seine Wahlverteidigerin das Mandat niedergelegt. Er fühlte sich schlecht beraten, weil sie ihm ein Geständnis empfohlen hatte, nachdem das Gericht bei einem Geständnis eine Bewährungsstrafe in Aussicht stellte, um der Ukrainerin eine Aussage vor Gericht zu ersparen. Doch der Angeklagte will nicht gestehen und die Ukrainerin will auch vor Gericht aussagen. spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet.

AG München – Durchsuchungen im Umfeld von Fridays for Future: Eine Kreativ-Agentur und ein Bühnentechniker haben beim Amtsgericht München Beschwerde gegen Durchsuchungen und die Sicherstellung von Kundendaten eingelegt. Die Durchsuchungen erfolgten im Zuge des Ermittlungsverfahrens der Generalstaatsanwaltschaft München gegen die Letzte Generation im Mai 2023. Die Agentur und der Techniker hatten allerdings keine Zahlungen von der Letzten Generation erhalten, sondern von Fridays for Future. Beide Organisationen nutzten den gleichen Zahlungsdienstleister Elinor. LTO (Christian Rath) berichtet.

Einsatz von KI am AG Königs-Wusterhausen: Auch beim Amtsgericht Königs-Wusterhausen soll künftig zur Bearbeitung von Fluggastrechteklagen Künstliche Intelligenz eingesetzt werden, schreibt LTO. Das Land Brandenburg will sich an einem hessischen Modellprojekt für KI-Anwendungen bei Fluggastrechte-Verfahren in Frankfurt am Main beteiligen. Die dort eingesetzte Software "FRAUKE" ("Frankfurter Urteils-Konfigurator Elektronisch") soll Richterinnen und Richter mit Textbausteinen und Vorschlägen unterstützen. Wann das Projekt in Brandenburg startet, steht allerdings noch nicht fest.

Recht in der Welt

Frankreich – Klima-Urteil zu Wasserreservoir: Das Verwaltungsgericht Poitiers hat den Bau eines Wasserreservoirs untersagt, u.a. weil das Vorhaben "nicht an den Klimawandel angepasst" sei. Moniert wurden aber auch Verfahrensfehler, etwa eine unzureichende Information der Bevölkerung. Das Urteil gilt als Wende. Noch im April hatte die Justiz die Klagen gegen die Baubewilligung für 16 weitere Mega-Wasserbecken in derselben Region abgewiesen. Die taz (Rudolf Balmer) berichtet. 

Frankreich – Anti-Mobbing-Regeln: Die SZ (Ronen Steinke/Kathrin Müller-Lancé) erläutern die neuen, strengeren Regelungen, mit denen die französische Regierung gegen Mobbing an Schulen vorgehen will. So soll Täter:innen künftig zum Beispiel das Handy abgenommen werden können, außerdem soll es möglich sein, ihre Accounts in sozialen Netzwerken für bis zu einem Jahr zu sperren. Die Maßnahmen seien deutlich schärfer als das, was bislang in Deutschland gelte.

USA – Sam Bankman-Fried: In New York fand der zweite Tag im Betrugsprozess gegen den Gründer der Kryptobörse FTX, Sam Bankmann-Fried, statt. Die Staatsanwaltschaft warf ihm in ihrem Eröffnungsplädoyer vor, sein ganzes Imperium sei auf Lügen aufgebaut gewesen. Die Verteidigung entgegnete, beim rasanten Wachstum des Startups seien nur Dinge "übersehen" worden, "Sam und seine Kollegen haben das Flugzeug gebaut, während sie damit geflogen sind". spiegel.de berichtet. 

Sonstiges

Marschflugkörper für die Ukraine: Anwalt Patrick Heinemann kritisiert auf LTO die rechtliche Begründung von Kanzler Olaf Scholz (SPD), warum Deutschland keine Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefert. Scholz habe gesagt, dass das Vereinigte Königreich und Frankreich "etwas können, was wir nicht dürfen", weshalb sich die Frage nach einer Taurus-Lieferung nicht stelle. Heinemann weist dieses "nicht dürfen" zurück. Es gebe insbesondere keine rechtliche Beschränkung für die Lieferung von Geodaten für die Marschflugklörper. Für die Programmierung der Geodaten seien voraussichtlich auch keine deutschen Soldaten in der Ukraine erforderlich. Und falls doch, müsse der Bundestag eben ein Mandat beschließen.

Seenotrecht: Im Interview mit spiegel.de (Sven Scharf) erläutert Nele Matz-Lück, Professorin für Seerecht, angesichts von Flüchtlingsbooten, die in Seenot geraten, wann Menschen an Bord genommen werden müssen und welche rechtlichen Folgen es haben kann, wenn die Hilfe ausbleibt. Nach internationalem Seerecht sei jeder Kapitän und jede Kapitänin auf hoher See "innerhalb seiner oder ihrer Möglichkeiten verpflichtet, bei Seenot unverzüglich Hilfe zu leisten", das heißt: In dem Moment, in dem man aufgefordert werde, Hilfe zu leisten oder selbst einen Notfall bemerke, müsse getan werden, was erforderlich sei. Also zum Beispiel stoppen, um das Schiff andocken zu lassen oder sich zu der Unglücksstelle zu begeben und das zu tun, was notwendig ist.

 

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LTO/pf/chr

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 5. Oktober 2023: . In: Legal Tribune Online, 05.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52847 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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