Die juristische Presseschau vom 28. bis 30. August 2021: EU-Kom­mis­sion zöger­lich bei Polen und Ungarn / Prantl sieht BVerfG schwächeln / Strache ver­ur­teilt

30.08.2021

EU-Abgeordnete beklagen Zögern der Kommission bei Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus. Heribert Prantl kritisiert das BVerfG zum 70. Geburtstag. Der österreichische Ex-Vizekanzler H.-C. Strache wurde wegen Bestechlichkeit verurteilt.

Thema des Tages

EU-Rechtsstaatlichkeit: In Brüssel spitzt sich die Auseinandersetzung zwischen Parlamentsabgeordneten und der EU-Kommission über den weiteren Umgang mit Polen und Ungarn zu. Die Abgeordneten seien sauer auf die Kommissionschefin, schreibt die Mo-SZ (Björn Finke), weil von der Leyen mit einem Brief die Aufforderung des Parlaments abbügelte, endlich den neuen Rechtsstaatsmechanismus zu nutzen und Verfahren gegen Länder wie Polen und Ungarn zu eröffnen, die zur Sperrung von EU-Geldern führen können. Am heutigen Montag stehe das Schreiben auf der Tagesordnung der Fraktionsvorsitzenden. Die Abgeordneten könnten als nächsten Schritt eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg einreichen, heißt es im Text.

Durch die für Dienstag erwartete Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtes über die Frage, ob das polnische Recht Vorrang vor dem europäischen Recht genießt, drohe eine weitere Eskalation, meint Björn Finke (Mo-SZ) in einem separaten Kommentar. Es werde Zeit, dass die Kommission endlich Zuschüsse kappe und es sei richtig, dass das Parlament Druck mache.

Rechtspolitik

Corona – 2G: Im FAZ-Einspruch kritisiert der emeritierte Rechtsprofessor Alexander Blankenagel die Hamburger 2G-Regelung, wonach Dienstleister den Zugang zu ihren Einrichtungen auf Geimpfte und Genesene beschränken können. Hier werde ein faktischer Impfzwang eingeführt, obwohl die Impfung (wie der Autor behauptet) "nicht besonders effektiv" sei – im Gegensatz zu sehr genauen PCR-Tests. Außerdem finde hier, so der Vorwurf des Autors, eine "neue Form der Flucht ins Privatrecht" statt. Nicht die Stadt Hamburg verordne die 2G-Regel, sondern sie versuche, durch das In-Aussicht-Stellen von geschäftlichen oder anderen Vorteilen private Unternehmen dazu zu bewegen, ihre Dienstleistungen ausschließlich Geimpften und Genesenen anzubieten. Offenkundiger Grund für dieses Manöver der Stadt sei die manifeste Rechtswidrigkeit einer entsprechenden Rechtsverordnung durch die Stadt selbst.

Europäische Staatsanwaltschaft: Warum sich Slowenien bei der Benennung ihrer Delegierten Europäischen Staatsanwälte so schwertut, erläutert der in den Niederlanden lehrende Rechtsprofessor Jure Vidmar im Verfassungsblog (in englischer Sprache).

Justiz

70 Jahre BVerfG: Heribert Prantl (Sa-SZ) sieht das Bundesverfassungsgericht "schwächeln". Der Mut lasse nach, die Raffinesse der Entscheidungen schwinde, die Kraft zu politischer Wegweisung gehe dahin. Als Beweis führt er mehrere aktuelle Entscheidungen an: So lese sich die zweite Hartz-IV-Entscheidung wie eine Distanzierung zur "fulminanten" ersten und der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan lenke den Blick darauf, dass das Verfassungsgericht die verfassungsrechtlichen Probleme, die die Auslandseinsätze mit sich brächten, bis zum heutigen Tag habe schleifen lassen. In Europa-Fragen habe sich das Gericht "komplett verrannt". 

BGH zu NSU: In seinem Revisionsbeschluss zum NSU-Prozess kritisierte der Bundesgerichtshof die Urteilsgründe des Oberlandesgerichts München als zu lang, schreibt spiegel.de. Die "vielfache Wiederholung der nämlichen Mitteilung für jede einzelne Tat" führe "zu einem sachlich nicht gebotenen und der Lesbarkeit abträglichen außergewöhnlichen Umfang der Urteilsgründe", so die Karlsruher Richter. Die Wiederholungen machten aber die "Entscheidung nicht rechtsfehlerhaft".

OLG Düsseldorf – Bierkartell: Über den Auftakt im neuen Prozess um das Bierkartell berichtet Rechtsprofessor Rupprecht Podszun im D'Kart Antitrust Blog. Es geht um ein 62-Mio-Euro-Bußgeld, das das Bundeskartellamt gegen die Carlsberg Brauerei verhängt und das das Oberlandesgericht Düsseldorf später auf null reduziert hatte. Der Bundesgerichtshof hat diese Entscheidung dann aufgehoben und das Verfahren an das OLG zurückverwiesen, das jetzt zunächst 33 Verhandlungstage terminiert hat.

OLG Celle zur Testpflicht im Gericht: Das Oberlandesgericht Celle hat entschieden, dass eine Testpflicht für Beteiligte, Zeug:innen und Zuschauer:innen bei Gerichtsverhandlungen auch für geimpfte Personen rechtmäßig sein kann. Nach Auffassung des OLG seien Gerichte zwar nicht verpflichtet, eine Testpflicht auch für vollständig geimpfte Verfahrensbeteiligte anzuordnen, die Anordnung sei aber auch nicht zu beanstanden. LTO berichtet.

OVG NRW zu Datteln 4: Auch LTO berichtet jetzt über die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen im Streit um den Bebauungsplan für das Steinkohlekraftwerk Datteln 4. Das Gericht erklärte darin den entsprechenden Bebauungsplan für unwirksam, unter anderem, weil die Wahl des Standortes nicht den gesetzlichen Vorgaben entsprochen habe.

LG Bonn zu Maskenkauf: Das Landgericht Bonn hat in einem Rechtsstreit um die Lieferung von Corona-Schutzmasken dem Kläger Recht gegeben und den Bund verpflichtet, dem Unternehmen 15,4 Millionen Euro zu zahlen. Das Bundesgesundheitsministerium hatte das Geld bisher mit der Begründung verweigert, die Masken seien vom TÜV Nord getestet worden und durchgefallen. Das Gericht habe nun festgestellt, dass sich aus den vorgelegten TÜV-Prüfberichten nicht einmal ergab, ob wirklich die Masken des Klägers oder aber anderer Händler getestet worden waren, schreibt der Spiegel (Jürgen Dahlkamp/Sven Röbel).

LG Regensburg zu Tod eines Neugeborenen: Das Landgericht Regensburg hat spiegel.de zufolge eine 25-Jährige wegen fahrlässiger Tötung ihrer neugeborenen Tochter zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte der Frau Totschlag vorgeworfen, ihr konnte aber nach Ansicht des Gerichtes nicht nachgewiesen werden, dass sie das Mädchen umbringen wollte.

LG Wiesbaden/LG Bonn – Cum-Ex/Hanno Berger: Der im Cum-ex-Steuerskandal angeklagte Anwalt Hanno Berger soll nach Deutschland ausgeliefert werden, wo er sich einem Strafverfahren stellen muss. Das Schweizer Bundesamt für Justiz hat, wie spiegel.de und Sa-FAZ (Corinna Budras) berichten, eine entsprechende Verfügung erlassen. Dagegen könnte Berger noch das Schweizer Bundesgericht anrufen.

LG Hannover – VW-Hauptversammlungsbeschlüsse: Die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger hat gegen Beschlüsse der letzten VW-Hauptversammlung Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsklage erhoben. Der Verband wendet sich gegen Vergleiche mit dem früheren Konzernchef Martin Winterkorn, dem einstigen Audi-Chef Rupert Stadler sowie weiteren Ex-Führungskräften, berichtet die Sa-FAZ (Marcus Jung). Für die Anleger:innen sei der Abgasbetrug noch nicht abschließend ausermittelt, zudem sei nicht absehbar, welche weiteren Sanktionen etwa in den USA auf den Konzern und dessen ehemalige Organe zukommen.

VG Berlin zu AfD-"Flügel" im Verfassungsschutz: Das Verwaltungsgericht Berlin hat einem Eilantrag der AfD stattgegeben und vom Berliner Verfassungsschutz verlangt, Passagen zum "Flügel" der AfD wieder aus dem Berliner Verfassungsschutzbericht zu streichen. Zwar bestünden Anhaltspunkte dafür, dass der "Flügel" Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verfolge, jedoch habe das Land Berlin keine Aktivitäten von Anhängern des "Flügels“ in Berlin im Jahr 2020 darlegen können, heißt es laut LTO zur Begründung des Beschlusses.

AG Pasewalk – Cannabis: Nach Auffassung des Amtsgerichts Pasewalk sind die Cannabis-Verbotsvorschriften im Betäubungsmittelgesetz verfassungswidrig. Das Gericht hat sich deshalb mit einer Richtervorlage an das Bundesverfassungsgericht gewandt. Ähnliche Vorlagen gibt es bereits vom Amtsgericht Bernau und vom Amtsgericht Münster, wie LTO (Hasso Suliak) berichtet.

AG Hamburg zu Vorteilsnahme: Eine weitere Beamtin der Hamburger Verwaltung ist jetzt im Zusammenhang mit der Annahme von Tickets für ein Rolling-Stones-Konzert wegen Vorteilsnahme und der Verleitung von Untergebenen zu einer Geldstrafe verurteilt worden, schreibt LTO. Die 56-Jährige habe zwei Freikarten angenommen und geduldet, dass auch vier ihr unterstellte Fachamtsleiter Freikarten annahmen. Sie wurde zu 120 Tagessätzen zu je 115 Euro verurteilt und muss die Kosten des Verfahrens tragen. Die Tickets gehörten zu einem Kontingent von 100 Freikarten, die der damalige Bezirksamtsleiter Harald Rösler (SPD) vom Konzertveranstalter verlangt haben soll.

GenStAin Koppers im Interview: Die Sa-SZ (Verena Mayer/Ronen Steinke) hat anlässlich ihres 60. Geburtstages mit der Berliner Generalstaatsanwältin Margarete Koppers ein Interview über ihren Berufsalltag und ihren juristische Werdegang geführt. Sie habe immer wieder die Dienststelle gewechselt, eigentlich um den Horizont zu erweitern, aber auch, um nicht in eine Tunnelsituation zu geraten, sagte Koppers in dem Gespräch unter anderem.

Recht in der Welt

Österreich – Heinz-Christian Strache: Der frühere österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache wurde vom Wiener Landgericht zu einer Bewährungsstrafe von 15 Monaten wegen Bestechlichkeit verurteilt. Laut Anklage hatte Strache dem befreundeten Eigentümer einer Privatklinik zu einer vorteilhaften Gesetzesänderung verholfen, im Gegenzug sollen Spenden an die FPÖ geflossen sein, deren Vorsitzender Strache damals war. Sa-FAZ (Stephan Löwenstein) Sa-SZ (Cathrin Kahlweit) und spiegel.de berichten.

In einem separaten Kommentar meint Stephan Löwenstein (Sa-FAZ), dass die rechtliche Aufarbeitung der Enthüllungen des Ibiza-Videos erst angefangen habe, weitere Korruptionsermittlungen richteten sich gegen Strache und andere FPÖ-Leute und auch gegen prominentes Personal der ÖVP. Das Urteil sei vor allem erst einmal ein großer Erfolg für die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, schreibt Cathrin Kahlweit (Sa-SZ). Ob es die Berufung überlebe und die Indizienkette vor höheren Instanzen halte, sei eine andere Frage. Auch daran werde sich erweisen, ob es eine Zeitenwende in Österreich gibt – einem Land, in dem politische Korruption immer noch als "Freunderlwirtschaft" verniedlicht werde.

USA – Räumungsmoratorium: Der amerikanische Supreme Court hat das Räumungsmoratorium für Mieter, die mit Mietzahlungen in Verzug geraten sind, für illegal erklärt, schreibt die Sa-FAZ (Winand von Petersdorff-Campen). Der Seuchenschutzbehörde, die die Verlängerung beschlossen hatte, fehlte die entsprechende Kompetenz, so die Richter. Fachleute sprechen von einigen hunderttausend Mietern, die jetzt von Räumungen betroffen seien.

Sonstiges

Kinderpornografie-Scan: Wie die von Apple vorgesehene Überprüfung von Bildern auf kinderpornografische Inhalte rechtlich zu werten ist, erläutern kritisch die Verwaltungsrichterin Kristin Benedikt und der Rechtsprofessor Rolf Schwartmann in der Mo-FAZ. Kinderpornografie sei ein abscheuliches Verbrechen, doch es dürfe nicht als Vorwand missbraucht werden, staatliche Vorratsdatenspeicherung mit Internetkonzernen als Ermittlungshelfer einzuführen, so die Autoren.

Nebeneinkünfte: Rechtsprofessor Arnd Diringer befasst sich in seiner Kolumne in der WamS mit den Nebeneinkünften von Richter:innen und Rechtsprofessor:innen. Er plädiert, um dem bösen Schein mangelnder Objektivität entgegenzuwirken, für eine größere Transparenz, die mögliche Interessenkonflikte sichtbar machen würde.

Visa für Afghan:innen: Juristenorganisationen wie der Deutsche Anwaltverein und die Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen fordern laut LTO eine Vereinfachung des Visaverfahrens für afghanische Staatsangehörige. Über 3.000 afghanische Staatsangehörige hätten im Mai 2021 auf einen Termin zur Vorsprache in den deutschen Visastellen in Neu-Delhi und Islamabad gewartet, hieß es in einer gemeinsamen Pressemitteilung. "Bei den Evakuierungsflügen wurden die Familien von Menschen, die seit Jahren in Deutschland leben und arbeiten, vergessen", kritisierte der Berliner Rechtsanwalt Christoph Tometten.

Model und Juristin: LTO-Karriere (Pauline Dietrich) hat sich mit Ashley Amegan, Model und Juristin, über die Vereinbarkeit ihrer beiden Berufsausrichtungen, ihr Engagement für Menschenrechte und über Diversität im Jurastudium unterhalten.

Rechtsgeschichte – Matthias Erzberger: Martin Rath erinnert auf LTO noch einmal an Leben und Tod des Politikers Matthias Erzberger, der vor 100 Jahren einem rechtsextremen Anschlag zum Opfer fiel. Unter anderem geht der Autor auf eine presserechtliche Notverordnung ein, die nach Erzbergers Ermordung erlassen wurde, um verfassungsfeindliche periodische Druckschriften zu verbieten. Näher beleuchtet werden Detailfragen des Verbots der Deutschen Zeitung. 

 

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/pf

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 28. bis 30. August 2021: . In: Legal Tribune Online, 30.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45860 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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