BVerfG verhandelte über AfD-Organklage gegen Merkel-Äußerung und lehnte Befangenheitsantrag ab. Bei der Nutzung von IT-Sicherheitslücken für Staatstrojaner soll es Grenzen geben. Leipziger Juristenfakultät diskutiert Umbenennung.
Thema des Tages
BVerfG – Neutralitätspflicht von Merkel: Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelte über zwei Organklagen der AfD. Die AfD glaubt, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel im Februar 2020 ihre Pflicht zur Neutralität verletzt hat, als sie bei einem Staatsbesuch in Südafrika die Thüringen-Krise kommentierte. Merkel nannte es "unverzeihlich", dass der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU, AfD und FDP zum Thüringer Ministerpräsident gewählt worden dar. Das Ergebnis müsse "rückgängig gemacht werden". In diesen Äußerungen Merkels sah die AfD ihre Chancengleichheit verletzt. Die Kanzlerin habe Amtsautorität und staatliche Ressourcen benutzt, um Parteipolitik zu betreiben. Für die Kanzlerin und die Bundesregierung argumentierte Rechtsprofessor Klaus Ferdinand Gärditz, dass Merkel sich als Parteipolitikerin geäußert habe oder (hilfsweise) keine Rechte der AfD verletzt habe oder (hilfsweise) ihre Äußerungen gerechtfertigt waren, u.a. indem sie das Ansehen Deutschlands in der Welt verteidigte. FAZ (Marlene Grunert), SZ (Wolfgang Janisch), Welt (Thomas Vitzthum), spiegel.de (Dietmar Hipp) und LTO (Christian Rath) fassen die Hintergründe des Verfahrens zusammen und berichten ausführlich über die Verhandlung. Die Entscheidung des Zweiten Senats soll in einigen Wochen oder Monaten verkündet werden, wobei sich der Ausgang des Verfahrens in der Verhandlung noch nicht abgezeichnet habe.
Zum Auftakt der mündlichen Verhandlung hatte der Zweite Senat einen Befangenheitsantrag der AfD gegen alle Richter des Zweiten Senats abgelehnt, schreibt LTO. Die AfD hatte moniert, dass die Senatsmitglieder kurz vor der Verhandlung von der Bundesregierung zu einem Abendessen eingeladen worden waren. Das Gericht lehnte den Antrag als "unzulässig" ab, weil die vorgebrachte Begründung "gänzlich ungeeignet" sei, die Besorgnis der Befangenheit auszulösen. Ein "Dialog der Staatsorgane" sei nicht verboten, solange nicht über konkrete Verfahren gesprochen werde.
Die Richter sollten den Mut zu einer grundsätzlichen Neubewertung der Frage aufbringen, was Amtsträger dürfen und was nicht, meint Thomas Vitzthum (Welt) in einem separaten Kommentar, sonst drohe eine weitere Verklausulierung des politischen Diskurses und der politischen Kommunikation. Reinhard Müller (FAZ), findet es richtig, dass das Verfassungsgericht sich auch mit der Frage seiner Kontakte zu anderen Verfassungsorganen befassen musste. Kontaktsperren können nicht die Lösung sein, aber gerade der unbefangene Betrachter habe Anspruch auf eine überzeugende Antwort.
Rechtspolitik
Polizeigesetz Bayern: Nach Vorschlägen einer Expertenkommission hat der bayerische Landtag das Polizeiaufgabengesetz entschärft. Allerdings blieb auch die neue Fassung heftig umstritten, wie LTO berichtet. Das Änderungsgesetz sieht unter anderem vor, dass die Polizei künftig weniger Befugnisse bei einer sogenannten "drohenden Gefahr" hat. Ferner sollen die Begriffe drohende und konkrete Gefahr besser voneinander abgegrenzt werden. Die Opposition kritisiert, dass die Definition der "drohenden Gefahr" schwammig bleibe. Die SPD kündigte an, gegen die Neuregelungen klagen zu wollen. FDP-Politiker wollen ihre Verfassungsbeschwerden aufrecht erhalten.
EU-Vertragsverletzungsverfahren/EZB-Urteil: Rechtsanwalt Daniel Reichert-Facilides schlägt im Verfassungsblog eine Lösung des Konfliktes um den Geltungsvorrang von europäischem Recht vor, der sich durch die EZB-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes manifestiert hatte. So soll bei einem unlösbaren Konflikt zwischen dem Grundgesetz und dem Unionsrecht die Anordnung einer Volksbefragung über den Austritt als einzige prozessual zulässige Rechtsfolge vorgesehen werden. Eine solche Vorgabe würde dem Demokratieprinzip ebenso gerecht wie dem völkerrechtlich legitimierten Autonomieanspruch des Unionsrechts, so der Autor.
Justiz
BVerfG zu IT-Sicherheitslücken: Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde der Gesellschaft für Freiheitsrechte GFF und des Stuttgarter Chaos Computer Clubs gegen das baden-württembergische Polizeigesetz als unzulässig abgewiesen. Die Beschwerdeführer hatten sich insbesondere gegen die in der Gesetzesnovelle von 2017 enthaltene Möglichkeit gewandt, per Quellen-TKÜ die Kommunikation auf IT-Geräten zu überwachen. Es fehle ein Verbot, hierbei IT-Sicherheitslücken zu nutzen. Die Karlsruher Richter haben nun zwar eine Schutzpflicht des Staates für die Sicherheit informationstechnischer Systeme bestätigt, wenn Behörden von Sicherheitslücken Kenntnis haben. Die Verfassungsbeschwerde wurde aber abgelehnt, weil eine Verletzung dieser Schutzpflicht nicht hinreichend dargelegt und der Rechtsweg nicht ausgeschöpft worden war. SZ (Wolfgang Janisch), taz.de (Christian Rath), LTO (Markus Sehl), spiegel.de (Patrick Beuth) und netzpolitik.org (Daniel Wydra) berichten ausführlich über die Entscheidung.
BGH zu Dieselskandal/VW: Erstmals hat der Bundesgerichtshof eine klare zeitliche Grenze für die Nachlieferung eines vom Dieselskandal betroffenen Fahrzeugs gesetzt, schreiben FAZ (Carsten Germis), SZ, Welt und spiegel.de. Wer ein entsprechendes Neufahrzeug gekauft habe und es später in einen Ersatzwagen des Nachfolgemodells tauschen wolle, müsse seinen Anspruch innerhalb von zwei Jahren ab Vertragsabschluss angemeldet haben, so das Karlsruher Gericht.
OLG Frankfurt/M. zur Zulassung von Arzneimitteln: Auch eine inhaltlich falsche Entscheidung des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) über die Zulassungspflichtigkeit eines Produktes bindet die Zivilgerichte, hat das Oberlandesgericht Frankfurt/M. festgestellt. Es sei gerade Sinn der Feststellung durch das BfArM, dass eine fachlich kompetente Verwaltungsbehörde eine abschließende Entscheidung treffe, die von den Zivilgerichten – unabhängig von der Rechtmäßigkeit – zugrundezulegen sei, so das Gericht laut LTO.
LG Essen – Sterbehilfe: Ein Intensivmediziner muss sich ab Mitte August vor dem Landgericht Essen verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, drei Leben von Coronapatienten durch Abschalten der Apparate beendet zu haben, obwohl es noch Therapiemöglichkeiten gab. Die Zeit (Simon Langemann) erläutert ausführlich die Hintergründe des Falles.
VG Koblenz zu Brautfrisur: Für die Anfertigung von Brautfrisuren gegen Bezahlung bedarf es einer Eintragung in die Handwerksrolle, weil es sich dabei um ein zulassungspflichtiges, dem Friseurhandwerk zuzuordnendes Handwerk handelt. Das hat laut LTO das Verwaltungsgericht Koblenz entschieden.
Recht in der Welt
Ungarn/Polen – Überwachungs-Software "Pegasus": Dass die Pegasus-Affäre insbesondere mit Blick auf Polen und Ungarn zeige, wie sehr die Freiheit in EU-Staaten unter Druck stehe, schreibt die Zeit (Heinrich Wefing). Es bestehe der Verdacht, dass in den beiden Ländern die Spähsoftware Pegasus gegen unabhängige Journalistinnen und Juristen im eigenen Land eingesetzt wurde. Wenn die EU diesen Kampf nicht aufnehme, gebe sie sich selbst auf, und all die Menschen in den betroffenen Ländern, für die Europa immer noch ein Versprechen und eine Hoffnung sei, so der Autor.
Ungarn – Referendum zu LGBTQ-Gesetz: Das neue ungarische Gesetz, das unter anderem die Darstellung von homosexuellen und heterosexuellen Lebensweisen als normal verbietet und deshalb im In-und Ausland und von der EU-Kommission heftig kritisiert wird, soll den Ungar:innen in einem Referendum vorgelegt werden, berichten FAZ (Niklas Zimmermann/Thomas Gutschker), Welt, spiegel.de und LTO. Auf diese Weise erhofft sich Ministerpräsident Orban eine Bestätigung durch die Bevölkerung. Wann die Abstimmung erfolgen soll, stehe noch nicht fest.
Niederlande – Shell und Klima: Kritisch beleuchtet Rechtsanwalt Michael Neupert im FAZ-Einspruch das niederländische Urteil gegen das Unternehmen Shell. Das Bezirksgericht Den Haag hatte Ende Mai die Shell-Konzernmutter zur deutlichen Verringerung der CO2-Emissionen im Konzern verurteilt. Der Autor wirft den Richtern "judicial activism" vor. Diese Art juristischer Innovation drohe zwei große zivilisatorische Errungenschaften aus den Augen zu verlieren: die Gesetzesbindung und die Rechtssicherheit.
USA – Abtreibungsrecht: Ein Gericht in den USA hat ein fast vollständiges Abtreibungsverbot im Bundesstaat Arkansas blockiert, berichtet spiegel.de. Ein entsprechendes Gesetz habe eigentlich am 28. Juli in Kraft treten sollen, eine gerichtliche Verfügung stoppte das jetzt.
Frankreich – Arbeitszeiterfassung beim Militär: In Frankreich wird über die Auswirkungen einer Entscheidung des EuGH zur Arbeitszeiterfassung beim Militär debattiert. Das Gericht hatte vor wenigen Tagen geurteilt, dass Militärangehörige nicht prinzipiell von der EU-Arbeitszeitrichtlinie ausgenommen seien und Soldaten deshalb künftig bei bestimmten Tätigkeiten ihre Arbeitszeit erfassen müssen und eine Höchstarbeitszeit von 48 Stunden in der Woche nicht überschreiten dürfen. Französische Politiker befürchten nun eine Schwächung der Verteidigung. Bislang hatte Frankreich eine Sonderstellung der Armee in Anspruch genommen, nach der die nationale Sicherheit in der alleinigen Verantwortung des einzelnen Mitgliedstaates verbleibe. Doch der Gerichtshof urteilte, dass dies nicht für militärische Tätigkeiten gelte, die mit Dienstleistungen zusammenhängen, die Verwaltung, Wartung, Instandsetzung, Gesundheit und die Aufrechterhaltung der Ordnung sowie die Verfolgung von Straftaten betreffen, schreibt die FAZ (Michaela Wiegel).
Juristische Ausbildung
"Juristenfakultät" Uni Leipzig: An der Universität Leipzig wird diskutiert, ob die rechtswissenschaftliche Fakultät von "Juristenfakultät" in "juristische Fakultät" umbenannt werden soll. Die Gleichstellungsbeauftragte habe bereits eine Umfrage zur Änderung des Fakultätsnamens durchgeführt, berichtet LTO. Daran hätten sich rund ein Drittel der Fakultätsangehörigen beteiligt: 42 Prozent haben sich danach für eine Umbenennung ausgesprochen, 52 Prozent dagegen.
Sonstiges
Arbeit im Strafvollzug: Correctiv (Timo Stukenberg/Olaya Argüeso) hat untersucht, für welche Firmen in welchem Umfang Strafgefangene tätig werden. Zahlreiche deutsche Unternehmen würden danach von der Arbeit der Strafgefangenen profitieren, zu einem Bruchteil des Mindestlohns, sagen die Autoren. Hinsichtlich der Details seien die Justizbehörden allerdings wenig auskunftsfreudig gewesen, fast alle Ministerien hätten sich geweigert, auch nur ansatzweise Informationen über die Auftraggeber und Konditionen der Gefangenenarbeit preiszugeben. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz soll deshalb die Herausgabe der angefragten Informationen nun auf dem Klagewege nach dem IFG durchgesetzt werden.
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lto/pf
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Die juristische Presseschau vom 22. Juli 2021: . In: Legal Tribune Online, 22.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45538 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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