Die Koalition will bald die Wiederaufnahme zuungunsten von Freigesprochenen zulassen. Das BVerfG bestätigt die Sechs-Monats-Frist für Corona-Genesene. Und Steuer- und Sozialbetrug werden sehr unterschiedlich bestraft.
Thema des Tages
Wiederaufnahme: Am heutigen Montag werden im Rechtsausschuss des Bundestages Sachverständige zu einem Gesetzentwurf der Regierungskoalitionsfraktionen befragt, mit dem die Möglichkeiten von Wiederaufnahmeverfahren nach einem Freispruch erweitert werden sollen. Der Vorschlag für ein "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" sieht vor, § 362 Strafprozessordnung (StPO) um eine Nr. 5 zu ergänzen, wonach zuungunsten eines wegen Mordes, Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen Angeklagten und später Freigesprochenen auch eine Wiederaufnahme möglich sein soll, wenn es neue Tatsachen oder Beweise gibt, die dringende Gründe für eine Verurteilung bilden. Im Interview mit LTO (Markus Sehl) erläutert Rechtsprofessor Jörg Eisele, warum seiner Ansicht nach eine Weiterentwicklung des "ne bis in idem"-Grundsatzes verfassungsrechtlich möglich ist und er auch keine Bedenken gegen eine rückwirkende Anwendung der geplanten Neuregelung hat.
Im Editorial des Verfassungsblogs weist Maximilian Steinbeis darauf hin, dass es keine Abwägung zwischen "ne bis in idem" und materieller Gerechtigkeit brauche, weil der Gesetzgeber sich bereits seit langem in Art. 103 III GG zugunsten der Rechtskraft ausgesprochen habe: Die materielle Ungerechtigkeit, dass ein rechtskräftig freigesprochener Mörder frei herumlaufe, habe der Rechtsstaat danach auszuhalten. Auch der wissenschaftliche Mitarbeiter Laurenz Eichhorn meint im Verfassungsblog, dass der vorgeschlagene Gesetzentwurf mit dem Grundgesetz unvereinbar ist. Im Übrigen ziehe der Gesetzgeber offenbar noch nicht einmal in Erwägung, dass auch ein Freispruch nach ordnungsgemäßem Prozedere materiell gerecht sein könnte.
Als "Bruch fundamentaler Prinzipien", bezeichnet Jost Müller-Neuhof (Tsp) das Vorhaben. Schwer erträglich sei die Gedankenlosigkeit, mit der dies geschehe. Mit dem neuen Gesetz werde der Freispruch nach einem Mordvorwurf zu einem Freispruch unter Vorbehalt, Freigesprochene müssten erwarten, jederzeit wieder vor Gericht zu kommen. Das könnte auch "unerträglich" sein – dann nämlich, wenn sie unschuldig sind.
Rechtspolitik
IMK – Login-Falle: Angesichts zunehmender Hetze in sozialen Netzwerken diskutierten die Innenminister:innen auf ihrer Frühjahrskonferenz über Identifizierungspflichten. Als Alternative zu Vorratsdatenspeicherung und Klarnamenpflicht kam erstmals das Konzept der Login-Falle zur Sprache, wie die Sa-taz (Christian Rath) berichtet. Dabei würden Netzwerkbetreiber verpflichtet, beim nächsten Login nach einem Hassposting die aktuelle IP-Adresse des Hetzers zu registrieren und sofort der Polizei zu übermitteln.
Corona – Infektionsschutzgesetz: Wie die Welt (Ricarda Breyton) erfahren hat, sollen Einreisebestimmungen, die das Bundesgesundheitsministerium per Verordnung festgelegt hat, auch nach Ende der epidemischen Lage nationaler Tragweite weitergelten. Eine entsprechende Änderung des Infektionsschutzgesetzes soll in dieser Woche vom Bundestag beschlossen werden. Kritik daran kommt von der FDP und auch Verfassungsrechtler mahnen, den Bundestag stärker einzubinden. Die Entscheidungsfindung in der Regierung sei vergleichsweise intransparent, so dass bei zu großer und vor allem zu langer Ermächtigung der Regierung Repräsentationsdefizite aufkommen könnten, wird der Göttinger Rechtswissenschaftler Alexander Thiele zitiert.
Corona – gefälschte Impfpässe: Der Spiegel (Jan Friedmann/Dietmar Hipp) widmet sich ausführlich den Diskussionen um gesetzliche Nachbesserungen zur besseren strafrechtlichen Verfolgung von Impfausweis-Fälschungen. Mehrere Bundesländer hatten sich auf der Justizministerkonferenz in der vergangenen Woche dafür ausgesprochen. Im Beitrag werden die praktischen Probleme der Strafverfolger dargestellt.
Hamas-Flagge: Wie WamS und Mo-SZ melden, haben sich die Regierungsfraktionen darauf geeinigt, dass künftig die Hamas-Flagge verboten sein soll. Durch eine Ergänzung des § 86 Strafgesetzbuch (StGB) sollen Propagandamittel auch von solchen Organisationen verboten werden, die auf der EU-Terrorliste geführt werden.
Umgangsrecht von Großeltern: Die FDP beklagt, dass sich die Bundesregierung bei Fragen nach dem Handlungsbedarf rund um das Umgangsrecht von Enkelkindern mit ihren Großeltern "einfach weggeduckt" habe, schreibt die Mo-Welt (Sabine Menkens). Bisher liege es bei den Familiengerichten zu entscheiden, ob ein Umgang mit den Großeltern dem Kindeswohl diene, wenn sich beispielsweise die Eltern getrennt haben. Allerdings habe der BGH 2017 entschieden, dass der Umgang der Großeltern mit dem Kind regelmäßig nicht seinem Wohl diene, "wenn die – einen solchen Umgang ablehnenden – Eltern und die Großeltern so zerstritten sind, dass das Kind bei einem Umgang in einen Loyalitätskonflikt geriete".
EU-Warenkaufrichtlinie und Pferde: Wie sich die neue EU-Warenkaufrichtlinie auf den Pferdehandel auswirkt, erläutert die Mo-SZ (Gabriele Pochhammer). Der Bundestag wird in dieser Woche voraussichtlich das entsprechende Umsetzungsgesetz in Zweiter und Dritter Lesung beraten.
Justiz
BVerfG zu Corona-Genesenen: Das Bundesverfassungsgericht hat, wie LTO meldet, die Verfassungsbeschwerde eines Mannes, der im Frühjahr 2020 an Corona erkrankt war und jetzt vergeblich versucht hatte, Lockerungen für sich geltend zu machen, als unzulässig abgelehnt. Als genesen gelten nach der Covid-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung grundsätzlich nur Menschen, deren Infektion weniger als sechs Monate zurückliegt.
BVerfG – Equal Pay: Wie LTO (Joschka Buchholz) berichtet, hat das ZDF jetzt offiziell bestätigt, dass die ZDF-Journalistin Birte Meier schlechter bezahlt wird als Männer in vergleichbaren Positionen. Die Auskunft hatte sich Meier vor dem Bundesarbeitsgericht erstritten. Weil das BAG aber zugleich ihren Anspruch auf Equal Pay ablehnte, hatte Meier Verfassungsbeschwerde eingelegt. Nach Ansicht der Klägerin hätte das BAG entweder das Unionsrecht anwenden oder die Sache dem Europäischen Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens vorlegen müssen.
BGH zu Online-Partnervermittlung: Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, so LTO, dass Online-Plattformen wie Parship oder ElitePartner – anders als klassische Partnerschaftsvermittlungsinstitute – einen einklagbaren Anspruch auf Vergütung haben. Dieser Anspruch gelte jedoch nur zeitanteilig und da im zu entscheidenden Fall die Kundin ihren auf zwölf Monate abgeschlossenen Vertrag bereits nach einem Tag kündigte, wurde der Anspruch entsprechend gekürzt.
OLG Hamm zu Haftbedingungen im Ausland: Das Oberlandesgerichts Hamm hat laut LTO klargestellt, dass eine im Senegal erlittene Auslieferungshaft unter schwierigen Bedingungen nicht ohne Weiteres zu einer Unverhältnismäßigkeit eines in Deutschland erlassenen Haftbefehls führt. Die erschwerten Haftbedingungen im Senegal könnten keine Unverhältnismäßigkeit begründen, weil der angeklagte Mann diese jedenfalls durch seine Flucht nach Afrika selbst verursacht habe, so das Gericht.
VGH Hessen zu "Querdenken"-Demonstration: Der hessische Verwaltungsgerichtshof hat in einer Eilentscheidung das Verbot einer Demonstration gegen die Corona-Schutzmaßnahmen bestätigt. Der Gerichtshof begründete seine Entscheidung vor allem mit Verweis auf die Erfahrungen der vorherigen "Querdenken"-Versammlungen, bei denen sich viele Teilnehmer:innen nicht an gerichtliche Auflagen wie die Maskenpflicht gehalten hatten und es zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen war, schreibt LTO.
LSG NRW zu Rentenbescheiden: Das Landessozialgericht von Nordrhein-Westfalen hat die neuen übersichtlichen Rentenbescheide der Deutschen Rentenversicherung beanstandet. Es sei nicht möglich, "den Text eines Bescheides dadurch zu verschlanken, dass man komplexe, für den Laien kaum verständliche Regelungen auf Kosten der Nachvollziehbarkeit weglasse". Es fehle "eine ausreichende Begründung". Außerdem könnten Versicherte nicht nachvollziehen, "aufgrund welcher Berechnungsgrundlagen sich die mitgeteilte Rentenhöhe ergebe" und ob die Einkünfte der Beitragszahler "zutreffend der Ermittlung der Entgeltpunkte zugrunde gelegt worden seien". Die Sa-SZ (Thomas Öchsner) berichtet.
LG Bielefeld zu Samurei-Schwert-Tötung: Das Landgericht Bielefeld hat einen 37-Jährigen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt, weil er seine Freundin mit einem Samuraischwert getötet hatte, meldet spiegel.de. Nach Ansicht der Richter war der 37-Jährige zum Tatzeitpunkt nur eingeschränkt steuerungsfähig, er wurde wegen Totschlags verurteilt.
AG Berlin-Tiergarten – Missbrauch durch Arzt: spiegel.de (Wiebke Ramm) gibt eine Zwischenbilanz des Strafprozesses gegen einen schwulen Kiezarzt, dem sexueller Missbrauch von Patienten vorgeworfen wird. Die Verteidigung sieht eine Verschwörung der Nebenkläger.
StA München/LG München/LG Stuttgart – Wirecard: LTO berichtet über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München zum Wirecard-Skandal, sowie über bereits anhängige Zivilklagen auf Schadensersatz in diesem Zusammenhang. Die Landgerichte München und Stuttgart streiten um die Zuständigkeit für hunderte Schadensersatzklagen, heißt es im Text.
StA München I – KZ-Wachmann Mauthausen: Vor der Anklageerhebung ist laut einer spiegel.de-Meldung ein ehemaliger KZ-Wachmann gestorben, der im September 1944 mindestens 19 Häftlinge erschossen haben soll. Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg hatte Mitte 2020 berichtet, dass der Münchner Fall zu den insgesamt noch 14 Ermittlungsverfahren wegen Verbrechen in den deutschen Konzentrationslagern gehöre.
StA Gera – RA Waldschmidt: Der Spiegel (Julia Jüttner) berichtet über die staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen Rechtsanwalt Dirk Waldschmidt wegen des Verdachts auf bandenmäßigen Rauschgifthandel und Geldwäsche. Der Anwalt verteidigt Rechtsextreme vor Gericht (darunter zeitweise auch Stephan Ernst, den Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke) und ist selbst in der NPD aktiv.
Gerechte Strafen? In einem Essay befasst sich Ronen Steinke (Sa-SZ) mit der Frage, wann eine Strafe gerecht ist und vergleicht dabei Strafhöhen für Hartz-IV-Betrug und für Steuerbetrug miteinander. Die Diskrepanz sei auffällig: Für Hartz-IV-Betrug gebe es in Deutschland schon bei Schadenssummen von ein paar Tausend Euro sehr ernste Strafen, beim Steuerbetrug sei dagegen nach dem Straftarif des BGH erst bei einer Schadenssumme ab 100 000 Euro eine Freiheitsstrafe auf Bewährung angezeigt.
Recht in der Welt
Belgien – AstraZeneca: Ein belgisches Gericht hat den Pharmakonzern AstraZeneca verpflichtet, bis Ende September 50 Millionen Dosen seines Corona-Impfstoffs an die Europäische Union nachzuliefern. Geklagt hatte die EU-Kommission, wie Sa-FAZ (Werner Mussler), Sa-SZ (Björn Finke) und zeit.de berichten, weil der Hersteller viel weniger Impfstoff geliefert hatte als vertraglich zugesagt.
Polen – Justizreform: Rechtsprofessor Rick Lawson widmet sich im Verfassungsblog (in englischer Sprache) dem weiteren Abdriften des polnischen Rechtssystems von der europäischen Rechtsstaatsidee, das sich in einer aktuellen Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtes niederschlägt. Das Gericht hatte darin dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einen "Mangel an Kenntnis des polnischen Rechtssystems" attestiert und dessen Entscheidung als "non-existent" bezeichnet.
USA – Obamacare: Nun berichtet auch die Sa-FAZ (Majud Sattar) über die Entscheidung des Supreme Court, der am Donnerstag einen dritten Versuch der Republikaner abgewiesen hat, die unter dem früheren Präsidenten Obama beschlossene Gesundheitsreform gerichtlich kippen zu lassen. Der Gerichtshof hat die Klagen gegen das Gesetzespaket mit sieben zu zwei Stimmen abgewiesen.
Sonstiges
EU-Vertragsverletzungsverfahren/EZB-Urteil: Doktorand Benedikt Riedl setzt sich im Verfassungsblog (in englischer Sprache) kritisch mit dem von der EU-Komission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland auseinander. Der Autor hält es für "unklug, rechtlich zweifelhaft und letztlich unbegründet". Er hofft, dass der EuGH letztlich die ultra vires-Kontrolle durch nationale Verfassungsgerichte anerkennt.
EZB und Klimaschutz: Nun berichtet auch die Mo-taz (Christian Rath) über ein Rechtsgutachten im Auftrag von Greenpeace. Die Rechtsanwältin Roda Verheyen kommt darin zum Schluss, dass die Europäische Zentralbank rechtlich verpflichtet ist, bei der Geldpolitik auch klimapolitische Ziele zu verfolgen, insbesondere beim Aufkauf von Unternehmens-Anleihen. Da die EU das Pariser Klimabkommen unterzeichnet habe, sei auch die EZB als Organ der EU daran gebunden, so Verheyen.
Crypto Crime als Beratungsgebiet: Kryptowährungen gewinnen immer mehr an Bedeutung, die Anwälte Thorsten Franke-Roericht und Martin Figatowski stellen deshalb auf LTO Crypto Crime als anwaltliches Beratungsfeld vor und beschreiben dabei die Abgrenzung zu Cyber Crime.
ADG Berlin: Nun berichtet auch die Mo-taz (Susanne Memarnia) über die Bilanz, die Verbände und Beratungsstellen ein Jahr nach Inkrafttreten des Berliner Landesantidiskriminierungsgesetzes gezogen haben. Als "sehr gelungen" werde insbeondere die von der Justizverwaltung eingerichtete Ombudsstelle, die als Anlaufstelle für Betroffene fungiert, bezeichnet.
Heiße Luft: Über "Hitzewallungen vor Gericht" schreibt Martin Rath auf LTO. Es geht um hitzebedingte Solderhöhungen, den Anspruch auf schulisches Hitzefrei und die Frischluftzufuhr in Justizvollzugsanstalten.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/pf
(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)
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Die juristische Presseschau vom 19. bis 21. Juni 2021: . In: Legal Tribune Online, 21.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45253 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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