Ein junger Afghane darf trotz fehlender Flüchtlingseigenschaft nicht nach Afghanistan abgeschoben werden. Angesichts der dortigen prekären Lebensverhältnisse seien die Anforderungen eines Abschiebungsverbots regelmäßig erfüllt, so der VGH.
Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg hat die Bundesrepublik Deutschland in einem Urteil (v. 22.02.2023, Az. A 11 S 1329/20) verpflichtet, festzustellen, dass ein junger, alleinstehender und erwerbsfähiger Afghane nicht nach Afghanistan abgeschoben werden darf. Dagegen hat er die Klage des Afghanen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes abgewiesen. Es handelt sich um das erste Urteil des VGH nach dem Machtwechsel in Afghanistan und daher um eine Grundsatzentscheidung, wie das Gericht selbst bekanntgegeben hat.
Der Afghane hat nach Angaben des Gerichts sein Herkunftsland verlassen, ohne dort asylrechtlich relevanter Verfolgung ausgesetzt gewesen zu sein. Er habe deshalb keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes, so das Gericht. Rückkehrern aus dem westlichen Ausland drohe nicht allein schon deshalb eine Verfolgung durch die Taliban oder die afghanische Aufnahmegesellschaft, weil sie aus Afghanistan ausgereist sind, längere Zeit in einem nicht muslimisch geprägten Land gelebt und dort einen Asylantrag gestellt haben. Etwas anderes sei nur anzunehmen, wenn besondere, individuell gefahrerhöhende Umstände vorliegen.
Jedoch ist der VGH trotz fehlenden Flüchtlingsstatus des Mannes zu dem Ergebnis gekommen, dass der Afghane nicht abgeschoben werden darf. Derzeit seien angesichts der prekären Lebensverhältnisse in Afghanistan die hohen Anforderungen an ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in Verbindung mit Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) regelmäßig erfüllt - und zwar auch im Fall eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland.
Ausnahme vom Abschiebeverbot: Tragfähiges, soziales Netzwerk - hier aber nicht vorhanden
Abgeschoben werden dürfe in so einem Fall nur, wenn in der jeweiligen Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen, so der VGH weiter. Derartige Umstände könnten nach Auffassung des Gerichtshofs insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er hinreichende finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt.
Der in diesem Fall klagende Mann verfüge in seiner Heimat jedoch gerade nicht über ein solches Netzwerk, weshalb diese Ausnahme vom Abschiebeverbot nicht greife. Er habe auch keinen Kontakt zu Personen, die ihn vom Ausland aus alimentieren. Ebenso wenig verfüge er über relevantes Vermögen. Daher hat der VGH die Bundesrepublik Deutschland mit dieser Entscheidung verpflichtet, festzustellen, dass zugunsten des Klägers ein nationales Abschiebungsverbot besteht.
Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wurde nicht zugelassen. Die Nichtzulassung kann jedoch noch durch Beschwerde zu eben jenem angefochten werden.
lp/LTO-Redaktion
VGH Baden-Württemberg entscheidet Grundsatzfrage: . In: Legal Tribune Online, 07.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51247 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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