SG Hannover zur sozialen Teilhabe: Berufs­ge­nos­sen­schaft muss Sexualas­sis­tenz bezahlen

14.07.2022

Laut dem SG Hannover muss die Berufsgenossenschaft die Kosten für eine Sexualassistenz für einen schwerbehinderten Mann übernehmen. Selbstbestimmte Sexualität sei Voraussetzung für eine wirksame und gleichberechtigte Teilhabe, so das SG.

Die Berufsgenossenschaft muss für einen nach einem Unfall schwerbehinderten Mann die Kosten einer sogenannten Sexualassistentin im Rahmen eines persönlichen Budgets übernehmen. Das entschied das Sozialgericht (SG) Hannover am Montag, wie am Donnerstag bekannt wurde (Urt. v. 11.07.2022, Az. S 58 U 134/18). Der 1983 geborene Kläger hatte demnach im Dezember 2003 auf dem Heimweg von seinem Ausbildungsort einen schweren Verkehrsunfall. Dabei erlitt er unter anderem ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit Ataxie, also eine Störung der Bewegungskoordination, und Sprachstörungen. 

Auch lag er im Wachkoma und es kam zu ausgeprägter Lähmung von Armen und Beinen und einem sogenannten hirnorganischen Psychosyndrom, also psychischen Veränderungen. Im April 2005 wurde der Mann entlassen - hilfebedürftig im Alltag, etwa bei An- und Ausziehen, Körperpflege und Nahrungsaufnahme. Der Unfall wurde als Arbeitsunfall anerkannt. Seit September 2006 erhält er eine Verletztenrente, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 Prozent wurde festgestellt, zudem ein Grad der Behinderung von 100 Prozent. 

Teilhabe umfasse auch seelisches Befinden

Die Berufsgenossenschaft schloss mit ihm nach Gerichtsangaben einen Budgetvertrag und bewilligte ein persönliches Budget für Sexualbegleitung durch zertifizierte Dienstleisterinnen von März 2016 bis Februar 2018. Seinen Folgeantrag auf ein weiteres Budget ab März 2018 lehnte sie ab. Die Berufsgenossenschaft begründete dies damit, dass die Befriedigung des Sexualtriebs nicht zur Heilbehandlung oder Pflege zähle. Es gehe auch nicht um Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, weil die Befriedigung sexueller Bedürfnisse durch Prostituierte diese nicht ermögliche.

Das Sozialgericht gab dagegen der Klage des Mannes statt: Leistungen zur sozialen Teilhabe nach § 39 Sozialgesetzbuch (SGB) VII beschränkten sich nicht darauf, Kontakte zur Außenwelt zu knüpfen oder Hilfsmittel zur Bewältigung des täglichen Lebens bereitzustellen. Sie sollten auch das seelische Befinden verbessern und das Selbstbewusstsein des Behinderten verbessern. Sexuelle Bedürfnisse zählten zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen und könnten daher im Rahmen von Teilhabeprozessen auch indirekt eine große Rolle spielen, nämlich für die persönliche Entwicklung und das seelische Befinden. Selbstbestimmte Sexualität sei daher die Voraussetzung für eine wirksame und gleichberechtigte Teilhabe.

dpa/acr/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

SG Hannover zur sozialen Teilhabe: . In: Legal Tribune Online, 14.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49054 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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