Er gilt als Jahrhundertprozess. Einen guten Teil der NSU-Morde hat das Gericht schon aufgearbeitet. Doch welche Rolle Beate Zschäpe in der rechtsextremen Terrorzelle spielte, ist immer noch unklar.
Stück für Stück, wie aus vielen kleinen Puzzleteilen, entsteht vor dem Oberlandesgericht (OLG) München ein Bild des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU): ein Bild der Terrorgruppe, der Taten, des Umfelds. Seit 71 Tagen verhandelt der Staatsschutzsenat.
Weitgehend aufgearbeitet hat das Gericht die Morde der sogenannten Ceska-Serie: Mit der Pistole aus tschechischer Produktion erschossen die Rechtsterroristen neun Geschäftsleute ausländischer Herkunft. Die Bilder der blutigen Taten ähneln sich, die Geschichten der Opfer auch: Männer, die aus der Türkei oder Griechenland kamen und mit großem Fleiß versuchten, sich hier ein Leben aufzubauen - mal mit mehr, mal mit weniger Glück.
Neunmal zerschossene Leben, neunmal ratlose Angehörige, die selbst ins Visier der Ermittlungen gerieten. Und immer wieder Ermittler, die auch im Nachhinein keine Fehler eingestehen wollen, so als ginge es vor Gericht in erster Linie darum, eine falsch verstandene Berufsehre zu verteidigen.
Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl zeigt hingegen immer mehr Geschick im Umgang mit den Angehörigen, gibt ihnen und ihrem Schmerz Raum in dem Verfahren. Am ergreifendsten war wohl der Appell der Mutter des in Kassel ermordeten Halit Yozgat, die sich direkt an die Hauptangeklagte Beate Zschäpe wandte: "Jeder kann Straftaten begehen, aber ich bitte Sie um Aufklärung", sagte sie. Seit dem Mord im April 2006 habe sie nie mehr als zwei Stunden schlafen können. "Denken Sie bitte immer an mich, wenn Sie sich ins Bett legen. Denken Sie daran, dass ich nicht schlafen kann." Doch Zschäpe schwieg.
Zschäpes Umfeld
Mittlerweile ist der Prozess in eine neue Phase getreten: Das Gericht versucht, das Umfeld des NSU auszuleuchten. Erstaunlich ist, wie sich die drei an unterschiedliche Milieus anpassen konnten. Da sind die Nachbarn aus der Frühlingsstraße in Zwickau, die fast jeden Tag bei Alkohol und Zigaretten im Keller beisammensaßen, ein Kreis, in dem sich keiner daran störte, dass auf dem Fernseher ein Bild von Adolf Hitler stand.
Zschäpe saß öfter mit in dieser Runde und trank Prosecco - weit häufiger, als es nötig gewesen wäre, um die Fassade der Gruppe aufrechtzuerhalten. Man kann vermuten, dass sie sich in der dumpfen Kellergesellschaft wohlfühlte.
Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hingegen hielten Abstand: "Mal Guten Tag und Guten Weg, und das war's", sagte ein Nachbar. Das passt zu dem eher elitären Auftreten, das die beiden schon vor ihrem Untertauchen 1998 in der rechten Jenaer Szene hatten. Mundlos habe irgendwann nicht mehr mit ihm gesprochen, berichtet Zschäpes Cousin, habe ihn als "Assi" beschimpft - weil der Cousin der Sauf- und Partyfraktion angehörte, während Mundlos sich "so nach oben gesteigert" hatte, immer politischer wurde.
Verhandlungstermine bis Ende 2014
Eine ganz andere Seite lernten hingegen die Urlaubsfreunde kennen, die Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt im Sommer auf einem Campingplatz an der Ostsee trafen. Über Jahre hielten sie Kontakt zu den Familien: ein Informatiker-Paar, ein Bauingenieur und eine Drogistin, beide Paare mit Kindern - grundbürgerliche Menschen, denen noch immer das Erschrecken darüber anzumerken ist, mit wem sie es in Wirklichkeit zu tun hatten. Und gerade Mundlos - der dort als "Max" auftrat - zeigte sich sehr kontaktfreudig, suchte immer wieder das Gespräch und kannte sich gut genug mit Computern aus, dass auch die Informatiker ihn für einen Experten hielten.
Das Bild von kontaktgestörten Killern, die sich nur dank Zschäpe in menschlicher Gesellschaft bewegen konnten - es wurde durch die Aussagen der Urlaubsfreunde korrigiert. Das Innenleben des Trios wird das Gericht noch eine Weile beschäftigen. Zschäpes Rolle innerhalb der Gruppe dürfte mitentscheidend sein, ob sie - wie angeklagt - als Mittäterin an den Attentaten verurteilt wird oder nur als Gehilfin.
Noch ist das Bild des NSU bruchstückhaft, und einige Tatkomplexe sind noch überhaupt nicht zur Sprache gekommen: die beiden Bombenanschläge in Köln zum Beispiel, und die Banküberfälle, mit denen die drei ihr Leben im Untergrund finanzierten. Das Gericht hat schon jetzt Verhandlungstermine bis Ende 2014 angesetzt.
Im Januar will sich das Gericht mit dem wohl rätselhaftesten Anschlag des Trios befassen: dem Attentat auf eine Polizeistreife in Heilbronn. Laut Anklage schossen Mundlos und Böhnhardt zwei Polizisten, die in ihrem Streifenwagen Pause machten, von hinten in den Kopf. Die Beamtin Michèle Kiesewetter starb noch am Tatort, ihr Kollege überlebte schwer verletzt. Er soll als Zeuge gehört werden.
Das Interesse im Verhandlungssaal hat übrigens auch nach mehr als einem halben Jahr kaum nachgelassen - noch immer müssen an manchen Tagen Zuschauer draußen warten.
dpa/cko/LTO-Redaktion
NSU-Prozess: . In: Legal Tribune Online, 27.12.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10480 (abgerufen am: 15.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag