Von einem "Meilenstein im Völkerrecht" bis zur Hoffnung, dass das Regime in Syrien bald sein Ende findet: Das Urteil des OLG Koblenz fand unter Menschenrechtsaktivisten, Politikern und Opfern des Bürgerkriegs Anerkennung.
Unter anderem Politiker und Menschenrechtsorganisationen begrüßten den Urteilsspruch im ersten Strafprozess um Staatsfolter in Syrien. Das Koblenzer Oberlandesgericht (OLG) verhängte am Donnerstag eine lebenslange Haftstrafe gegen den Syrer Anwar R. und sprach ihn unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig (Urt. v. 13.1.2022, Az. 1 StE 9/19). Der 58-Jährige war nach Auffassung der Richterinnen und Richter in einem Gefängnis des Allgemeinen Geheimdienstes in der syrischen Hauptstadt Damaskus als Vernehmungschef für die Folter von mindestens 4.000 Menschen verantwortlich. Politik und Menschenrechtsorganisationen begrüßten den Urteilsspruch.
Amnesty International nannte das Urteil ein "wichtiges Signal im Kampf gegen Straflosigkeit". Der Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation des deutschen Ablegers, Markus N. Beeko, erklärte: "Das Gericht in Koblenz hat eindeutig und formal die unmenschlichen Haftbedingungen, systematische Folter, sexualisierte Gewalt und Tötungen in Syrien festgestellt."
Der im April 2020 begonnene Prozess ist somit am 108. Verhandlungstag zu Ende gegangen - noch ist das Urteil aber nicht rechtskräftig. Das Verfahren mit mehr als 80 Zeuginnen und Zeugen sowie einer Reihe von Folteropfern als Nebenklägerinnen und Nebenkläger hatte international Aufsehen erregt. Der Angeklagte hatte sich selbst als unschuldig bezeichnet. Daher hatte seine Verteidigung auf Freispruch plädiert. Die Bundesanwaltschaft hatte lebenslange Haft und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld gefordert, was eine Haftentlassung nach 15 Jahren nahezu ausgeschlossen hätte. Letzteres stellte das Gericht nicht fest.
Koblenzer Urteil "Pionierarbeit"
Nach Überzeugung des Koblenzer OLG-Staatsschutzsenats hatte Anwar R. die Verbrechen gegen die Menschlichkeit 2011 und 2012 in der Anfangsphase des syrischen Bürgerkrieges begangen. Das Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht erlaubt es, auch hierzulande mögliche Kriegsverbrechen von Ausländern in anderen Staaten zu verfolgen. Anwar R. wurde nach seiner Flucht nach Deutschland von Folteropfern erkannt und 2019 in Berlin festgenommen worden. Amnesty International äußerte die Hoffnung, dass weitere Prozesse nach dem Weltrechtsprinzip angestrengt werden.
Bundesjustizminister Marco Buschmann sieht das Koblenzer Urteil als "Pionierarbeit" und hofft auf Gerichte in anderen Staaten. Der Richterspruch in Koblenz verdiene es, weltweit wahrgenommen zu werden, sagte der FDP-Politiker am Donnerstag. "Ich würde es begrüßen, wenn andere Rechtsstaaten diesem Beispiel folgen. Wer Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, darf nirgendwo sichere Rückzugsräume finden." In den Foltergefängnissen des Assad-Regimes sei entsetzliches Unrecht geschehen. "Hierauf in der Sprache des Rechts eine Antwort zu geben, ist die Verantwortung der gesamten Staatengemeinschaft."
Die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen, Lamya Kaddor, sagte nach dem Urteilsspruch: "Die lebenslange Haftstrafe für einen höherrangigen Folterknecht des syrischen Regimes ist ein Meilenstein des Völkerrechts und ein weiterer Schlag des Rechtsstaats gegen Straflosigkeit von Kriegsverbrechern." Anwar R. sei nun "seiner gerechten Strafe zugeführt" worden. Kaddor verwies auf weitere Haftbefehle gegen hochrangige syrische Verantwortliche, die in Deutschland vorliegen. Sie hatte am Mittwoch in ihrer ersten Rede als Abgeordnete im Bundestag gesagt: "Ich stehe hier als Deutsche und Tochter syrischer Einwanderer, deren Eltern es nie für möglich gehalten hätten, ihr Kind an dieser Stelle sprechen zu hören."
"Vergangenheit als Waffe gegen Feinde"
Der bekannte Menschenrechtsaktivist Omar al-Schughri (26), der in Syrien selbst Opfer von Folter wurde, sagte der dpa: "Der symbolische Wert des Urteils ist ein Beweis dafür, wie ein Trauma uns antreibt, Dinge wieder aufzubauen, von denen wir nie dachten, dass sie jemals erreicht werden könnten. Unsere Vergangenheit ist eine Waffe gegen unsere Feinde." Das Urteil werde nicht das gebrochene Herz jeder Mutter heilen, deren Sohn unter Folter getötet worden sei, und auch nicht Opfer zu ihren Familien zurückbringen. "Aber es gibt uns die Hoffnung, dass das Regime fallen und wir frei sein werden."
Der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes (DRB), Sven Rebehn, teilte mit: "Die Arbeit der deutschen Justiz im Bereich des Völkerstrafrechts gilt international als vorbildlich." Das Koblenzer Urteil sende ein wichtiges Signal an die Täter und ihre Opfer. "Kriegsverbrecher müssen in Deutschland mit einer Strafverfolgung rechnen." Es sei extrem aufwendig, im Ausland verübte Verbrechen vor deutschen Gerichten aufzuklären. "Umso wichtiger ist es, dass die neue Bundesregierung sich jetzt vorgenommen hat, die Bundesanwaltschaft und die zuständigen Gerichte für diese bedeutende Aufgabe weiter zu verstärken."
Markus N. Beeko von Amnesty sagte weiter, die Ermittlungen und die Beweisaufnahme im Fall Anwar R. seien eine wertvolle Basis für den nächsten Prozess nach dem Völkerstrafgesetzbuch zu Syrien. Der startet am 19. Januar vor dem Oberlandesgericht Frankfurt gegen einen syrischen Arzt. Ihm wird vorgeworfen, in den Jahren 2011 und 2012 in einem Militärkrankenhaus und einem Gefängnis des Militärischen Geheimdienstes im syrischen Homs Menschen gefoltert und ihnen schwere körperliche sowie seelische Schäden zugefügt zu haben.
Der in Syrien geborene Schriftsteller Rafik Schami sagte der Zeitung Rheinpfalz: "Hier hat ein Land gezeigt, wie man von der eigenen Geschichte lernen kann, und solchen kaltblütigen Mördern gezeigt, dass sie, auch wenn sie flüchten, bestraft werden können."
"Prozess offenbart Handlungsbedarf des Gesetzgebers"
Susann Aboueldahab vom Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung, internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Georg-August-Universität Göttingen von Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos und und Fin-Jasper Langmack vom Institut für Friedenssicherungsrecht der Universität Köln begrüßen das Urteil ebenfalls. Die Feststellungen seien nicht nur zur Etablierung der Wahrheit über die Verbrechen wichtig. "Gerade die Feststellung eines Angriffs gegen die Zivilbevölkerung i.S.d. § 7 VStGB in Syrien ab Ende April 2011 kann auch in künftigen Prozessen Verwendung finden", so Abdoueldahab und Langmack.
Gleichzeitig offenbare der Prozess aber auch Handlungsbedarf: "Die psychische Gesundheit von Zeug:innen wurde kaum geschützt, viele brachen während ihrer Vernehmung zusammen. Der Gesetzgeber sollte hier die Möglichkeit zur Beiordnung psychosozialer Prozessbegleitung nach § 406g StPO schaffen, indem er die Verbrechen nach dem VStGB in den Katalog des § 397a I StPO aufnimmt", sagten Abdoueldahab und Langmack.
Schließlich ignorierte das OLG Koblenz konstant die historische Dimension des Verfahrens: "Seine Weigerung, Journalist:innen Zugang zur existierenden arabischen Übersetzung zu gewähren und das Verfahren auf Tonband aufzuzeichnen, ist unverständlich. Sie erschwerte die Verbreitung, Verarbeitung und Erforschung der Verfahrensinhalte und nahm dem Prozess viel seiner Wirkung. Damit hat das Gericht unwiederbringlichen Schaden angerichtet. Auch hier sollte der Gesetzgeber tätig werden, er könnte zum Beispiel das gerichtliche Ermessen bei Tonbandaufzeichnungen nach § 169 II 1 GVG begrenzen."
dpa/pdi/LTO-Redaktion
Reaktionen auf Urteil des OLG Koblenz im Staatsfolterprozess: . In: Legal Tribune Online, 13.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47200 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag