Laut LSG ist es nachvollziehbar, dass ein Auszubildender bei einem Seminar den Abend verlängern wollte. Seine Wahl, über das Dach zu klettern, sei zwar unvernünftig – aber nicht fernliegend. Der Sturz sei daher ein Arbeitsunfall gewesen.
Ein Auszubildender kletterte eines Abends während eines Seminars über ein Dach, um in das Mädchenzimmer zu gelangen. Er strauchelte jedoch, fiel in die Tiefe und zog sich schwere Verletzungen zu. Rechtlich betrachtet ist das ein Arbeitsunfall, hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg entschieden, wie nun bekannt wurde (Urt. v. 17.12.2021, Az. L 9 U 180/20).
Der klagende 17-Jährige macht eine Ausbildung zum Fachpraktiker Hauswirtschaft. Im Rahmen dessen fand in einer Jugendherberge eine Einführungsveranstaltung für alle Auszubildenden statt, wobei der klagende Auszubildende der einzige Mann war. Als sich am ersten Abend während des Seminars alle in ihre Zimmer verzogen hatten und danach heimlich Alkohol konsumierten – der Auszubildende hatte sich zwei Vodka-O einverleibt –, besuchte er erlaubterweise die Mädchen im Nachbarzimmer. Um 23 Uhr war allerdings Zapfenstreich und alle mussten in ihre jeweiligen Zimmer zurück. Der Anweisung folgte der Mann zunächst auch. Er kündigte den Mädchen aber an, über das Dach in das benachbarte Zimmer zurückzukommen, um den Abend zu verlängern – was diese nicht ernst nahmen.
Der Auszubildende meinte es aber so und öffnete nach einem Kontrollbesuch des Ausbilders das Fenster und kletterte auf das Dach. Er verlor jedoch den Halt und stürzte aus etwa acht Metern Höhe auf den Boden. Dabei zog er sich mehrere Frakturen zu, unter anderem des Beckens und der Wirbelsäule sowie des linken Arms. Nach diversen Operationen verblieb eine massive Bewegungseinschränkung des gesamten linken Arms.
Sturz als typische Folge des Alters?
Die Berufsgenossenschaft (BG) gewährte dem Mann zwar zunächst einen Vorschuss auf die voraussichtlich zu gewährenden Geldleistungen, forderte diesen später aber wieder zurück. Sie lehnte die Anerkennung des Sturzes als Arbeitsunfall nämlich ab. Der Entschluss, durch das Fenster zu den Mädchen zu klettern, stehe grundsätzlich in keinem Zusammenhang mit der Tätigkeit als Teilnehmer der Ausbildung.
Gegen diese Entscheidung der BG zog der Mann vor das Sozialgericht, welches ihm Recht gab und den Sturz als Arbeitsunfall anerkannte.
Das LSG wies die dagegen gerichtete Berufung der BG nun ab. Der Mann sei als Teilnehmer der Ausbildungsmaßnahme während des Einführungsseminars unfallversichert gewesen – und zwar bei allen Verrichtungen im inneren Zusammenhang mit der Ausbildung. Das Klettern über das Dach sei davon erfasst. Der Sturz sei Folge der alterstypischen Unreife und des in dem Alter typischen gruppendynamischen Prozesses, der durch den maßvollen Alkoholgenuss in Gang gesetzt worden sei.
Kletterei unvernünftig - aber nicht fernliegend
Es erscheine nachvollziehbar, dass der junge Mann den Wunsch verspürt habe, den Abend zu verlängern. Zudem hätten die Mädchen mit ihrem Unglauben an die angekündigte Aktion ("Das machst du sowieso nicht!") den Mann in einen gewissen Zugzwang gesetzt. Die Idee, die Konfrontation mit einer Aufsichtsperson auf dem Flur zu vermeiden, sei ebenso naheliegend. Die daher gewählte Lösung, über das Dach zu klettern, sei zwar unvernünftig und leichtsinnig – aber nicht komplett fernliegend, so das LSG.
Der nach der Hausordnung verbotene Alkoholkonsum ändere an dieser Auffassung nichts. Keiner der vernommenen Zeuginnen hätte den Mann als betrunken beschrieben. Besondere Auswirkungen einer Alkoholisierung habe auch das erstversorgende Krankenhaus nicht dokumentiert.
pdi/LTO-Redaktion
LSG BaWü zum gescheiterten Besuch im Mädchenzimmer: . In: Legal Tribune Online, 11.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47513 (abgerufen am: 18.11.2024 )
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