Was tun, wenn man ein rechtliches Problem hat, aber kein Geld für einen Anwalt? In Hamburg haben Ratsuchende eine Adresse: Die ÖRA. Und das schon seit nunmehr fast 100 Jahren. Diese Rechtsberatung ist auch bundesweit etwas ganz Besonderes.
"Jemand hat mal gesagt: 'Wir sind die Feuerwehr unter den Juristen. Wir löschen die Brände'", erzählt Friederike Klose. Die 57-Jährige ist die Leiterin der Öffentlichen Rechtsauskunft und Vergleichsstelle Hamburg (ÖRA). "Hauptaufgabe der ÖRA ist die Rechtsberatung außerhalb gerichtlicher Verfahren für Menschen, die sich - salopp gesagt - keinen Anwalt leisten können." Das sei schon seit fast 100 Jahren so. Genauer gesagt, seit dem 4. Oktober 1922. Die ÖRA ist eine echte Hamburgensie. Rechtsberatung gibt es zwar bundesweit, aber in dieser Form nur in der Hansestadt.
Rechtsberatung im Wohlfahrtsamt
"In Hamburg gab es schon im frühen 20. Jahrhundert soziale Bestrebungen, wie man die Armen darin unterstützt, zu ihrem Recht zu gelangen", sagt die Juristin, die 2019 vom Justizvollzug in die ÖRA-Leitung wechselte. Schon vor mehr als 100 Jahren habe es in der Stadt die ersten Rechtsberatungsvereine gegeben.
"Der größte wurde vom jungen Gerichtsassessor Hannes Kaufmann betrieben, der sich sehr dafür engagiert hat, dass die Stadt die Sozialfürsorge auch in diesem Bereich übernimmt." Und damit habe er sich schließlich auch durchgesetzt. "Zwei Jahre nach Gründung des Hamburgischen Wohlfahrtsamtes - dem Vorläufer der Sozialbehörde - wurde die Rechtsberatung Teil dieses Amtes", sagt Klose. Und das ist sie auch noch heute.
In fast allen anderen Bundesländern ist die Rechtsberatung anders geregelt: Ratsuchende, die sich keinen Anwalt leisten können, müssen erst zum Amtsgericht gehen. "Dort werden die Einkommens- und Vermögensverhältnisse geprüft und dann bekommt man einen Beratungshilfeschein und muss sich einen Anwalt suchen, der einen berät", sagt Klose. "Das ist mitunter nicht ganz leicht, weil die Anwälte daran nicht viel verdienen."
Bei der ÖRA laufe es anders. "Schon in den Rechtsberatungsvereinen hatten sich Juristinnen und Juristen ehrenamtlich engagiert. Und diese Tradition trägt bis in die heutige Zeit. Das heißt, in der ÖRA arbeiten noch immer Rechtsanwälte und Richter aus allen Fachbereichen für eine geringe Aufwandsentschädigung. Und das macht die ÖRA auch so besonders."
Ehrenamtliche Beratung gegen geringe Aufwandsentschädigung
Das weiß auch Tatjana Tkatschenko zu schätzen. Die 32 Jahre alte Spätaussiedlerin aus Kirgistan in Zentralasien ist mit ihrer Tante Svetlana Frizorger in die ÖRA gekommen. Es geht um einen Klassiker: Ein kaputtes Handy und eine Versicherung, die nicht zahlen will.
Viele, viele Male habe sie deshalb schon für ihre Tante, die nur schlecht Deutsch spricht, bei der Versicherung angerufen und E-Mails geschrieben. "Wir kommen einfach nicht weiter", sagt Tkatschenko. Aus eigener Erfahrung wisse sie, dass ein Schreiben von der ÖRA in so einem Fall helfen kann. "Ich glaube, dass das mit einem Brief von der ÖRA wieder alles geregelt wird."
Constanze Leptien-Köpp berät die beiden Frauen - ehrenamtlich. Sie ist freigestellte Richterin am Landgericht und kennt solche Fälle. "Bis zu einem gewissen Grad empfinde ich es auch immer als ärgerlich, wie vielleicht wegen der sprachlichen Barriere oder der rechtlichen Unkenntnis lange, lange mit solchen Damen umgegangen wird", sagt die 52-Jährige. "Und wir müssen dann nur einmal kurz etwas raushauen - und dann ist die Sache geklärt."
Auf 30.000 Beratungen pro Jahr kam die ÖRA vor Corona. "Wir sind sehr stolz drauf, dass es im vergangenen Jahr schon wieder 25.000 waren", sagt Klose. Das Spektrum sei riesig. "Es gibt viel Arbeitsrecht, aber auch Familienrecht, Mietrecht, Zivilrecht in allen Formen – ganz viele Telekommunikationsverträge -, Strafrecht, auch die ganzen Straßenverkehrssachen. Das Sozialrecht ist ebenfalls ein großes Feld ebenso wie das Migrationsrecht - vom Asylverfahren bis zum Familiennachzug."
Qualitativ hochwertige Beratung
Er freue sich, "wenn man einkommensschwachen Bürgern helfen kann mit Ergebnissen, die sie ohne Rechtshilfe sicherlich nicht erreichen würden", sagt Klaus Tempke. Jahrzehntelang war er Strafrichter. Und seit Jahrzehnten engagiert sich der 71-Jährige schon bei der ÖRA. "Von 100 Jahren bin ich immerhin schon 36 Jahre mit dabei." In seiner Jugend sei er Pfadfinder gewesen. "Ich mache das nicht jeden Tag, aber einmal die Woche mache ich hier eine gute Tat." Immer mittwochs, seit 36 Jahren. Und seit er im Ruhestand ist, leitet er zusätzlich noch die ÖRA-Bezirksstelle Bergedorf - eine von insgesamt 16.
Für ihn sei das gesellschaftliche Engagement selbstverständlich. "Wenn niemand das Gemeinwesen mit organisiert, dann geht es den Bach runter." Außerdem sei es für ihn als Strafrechtler immer spannend gewesen, auch in anderen Rechtsgebieten tätig zu sein.
Dass die Beratung bei der ÖRA von Richtern und Anwälten ehrenamtlich übernommen wird, komme den Ratsuchenden zugute und sei inzwischen ein echtes Hamburger Markenzeichen. "Die Beratung bei der ÖRA ist qualitativ besser als bei irgendeinem per Zufall aufgelaufenen Wald-und-Wiesen-Anwalt", sagt Tempke.
"Wäschekörbeweise Anträge" von Telekomaktionären
Doch die ÖRA ist nicht nur Rechtsberatung, sie bietet auch Mediationen an und ist Vergleichs- und Gütestelle. Und Letzteres macht sie auch bundesweit bedeutsam.
"Was vielen nicht bekannt ist, ist, dass wir ähnlich wie im Mahnverfahren hier verjährungsunterbrechend tätig sein dürfen", erklärt Leptien-Köpp. Und zwar nicht nur für Hamburger Fälle, sondern bundesweit und unabhängig von der Bedürftigkeit. "Was dazu führt, dass sich eine Klientel an uns wendet, die ganz häufig eben nicht bedürftig ist, sondern bei der es um große Ansprüche geht, wo man versucht, kurz vor der Verjährung noch mal Bewegung in eine Angelegenheit zu bringen." Inzwischen machten Anwaltskanzleien aus ganz Deutschland davon Gebrauch.
Und das kann schon mal zu kuriosen Situationen führen, wie ÖRA-Leiterin Klose zu berichten weiß: "Ende 2003 reichten über 15.000 enttäuschte T-Aktionäre aus dem ganzen Bundesgebiet waschkörbeweise Anträge ein, um ihre Ansprüche gegen die Telekom vor der Verjährung zu sichern."
Die ÖRA stellte das vor bis dato nicht gekannte Probleme. "Es wurden neue Faxgeräte gekauft, um einen fristgerechten Eingang zu ermöglichen. Am Nachtbriefkasten des Gerichts standen Polizisten, um sicherzustellen, dass der Kasten nicht überquillt und die Anträge die ÖRA fristgerecht erreichen", sagt Klose. Es mussten sogar weitere Räume angemietet und neue Berater rekrutiert werden. "Und es hat Jahre gedauert, die Anträge alle sauber abzuarbeiten." Angesichts der nun bald 100-jährigen Geschichte der ÖRA war das aber wohl eher ein Wimpernschlag.
dpa/ast/LTO-Redaktion
100 Jahre ÖRA in Hamburg: . In: Legal Tribune Online, 29.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49465 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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