Entgegen der Ansicht einiger Mitgliedstaaten hat sich der EuGH am Dienstag in zwei Verfahren über Vorabentscheidungsersuchen für zuständig erklärt und Urteile gefällt. In dem einen Verfahren ging es um den Anwendungsbereich der EU-Grundrechtecharta und das Verbot der Doppelbestrafung, in dem anderen um die Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls.
Ein schwedisches Gericht hatte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vorgelegt, ob gegen einen Angeschuldigten ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung eingeleitet werden darf, wenn wegen derselben Tat bereits steuerliche Sanktionen gegen ihn festgesetzt wurden oder ob dies gegen das Verbot der Doppelbestrafung nach der EU-Grundrechtecharta verstoße.
Neben fünf Mitgliedstaaten hielt auch die Europäische Kommission diese Vorlage für unzulässig. Der EuGH sei nach Art. 51 der Grundrechtecharta nur zuständig, wenn die steuerlichen Sanktionen und das Strafverfahren auf der Durchführung von Unionsrecht beruhten. Dies sei aber nicht der Fall.
Mitgliedstaat darf Tat steuerlich und strafrechtlich sanktionieren
Die Luxemburger Richter schlossen sich dieser Auffassung nicht an. Ein Mitgliedstaat, der gegen einen Bürger steuerliche Sanktionen verhänge und ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung aufgrund unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer einleite, führe damit unionsrechtliche Vorschriften über die Mehrwertsteuer und die finanziellen Interessen der Union aus.
In der Sache entschied der EuGH, dass das Verbot der Doppelbestrafung einen Mitgliedstaat nicht daran hindere, einen Verstoß gegen steuerliche Erklärungspflichten sowohl steuerlich als auch strafrechtlich zu ahnden. Die steuerliche Sanktion dürfe allerdings keinen strafrechtlichen Charakter haben. Welcher Natur eine Sanktion ist, hänge zum einen von der rechtlichen Einordnung und der Art der Tat im innerstaatlichen Recht ab, zum anderen von der Art und Schwere der Sanktion selbst.
Der EuGH sprach sich außerdem gegen eine Praxis der schwedischen Gerichte aus, nationale Vorschriften, die gegen die Grundrechtecharta verstoßen, nur dann nicht anzuwenden, wenn sich der Verstoß klar aus der Charta oder der Rechtsprechung ergebe. Dies verstoße gegen das Unionsrecht, wenn die nationalen Gerichte nicht gleichzeitig die Befugnis haben, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem EuGH die Vereinbarkeit der nationalen Vorschrift mit der Charta umfassend zu prüfen (Urt. v. 26.02.2013, Az. C-617/10).
Bundesregierung hält EuGH nicht für zuständig
Die deutsche Regierung hatte die Vorlagefrage nicht als unzulässig gerügt, sich allerdings in einem anderen Verfahren geäußert, in dem der EuGH ebenfalls am Dienstag ein Urteil gesprochen hat. Inhaltlich ging es in diesem Verfahren um die Auslieferung eines Mannes von Spanien an Italien zur Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls. Vorgelegt hatte die Sache das spanische Verfassungsgericht. Es wollte wissen, ob die Auslieferung davon abhängig gemacht werden könne, dass eine Verurteilung des Mannes in Abwesenheit durch ein italienisches Gericht rechtlich überprüft werden könne.
Die Bundesregierung hatte gerügt, dass der EuGH nicht zuständig sei, weil der dem Verfahren zugrunde liegende europäische Rahmenbeschluss zur Stärkung der Verfahrensrechte im Strafverfahren zeitlich gar nicht auf die Auslieferung des Mannes anwendbar sei. Der Haftbefehl sei vor der Annahme des Rahmenbeschlusses ausgestellt worden und auch die Entscheidung über die Auslieferung sei zeitlich vorangegangen.
Vorlegendes Gericht entscheidet über Erforderlichkeit seiner Fragen
Weder der Generalanwalt noch die Richter schlossen sich dieser Auffassung an. Nur das vorlegende Gericht habe die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung und die Erheblichkeit der vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher sei der EuGH grundsätzlich gehalten, über ein Vorabentscheidungsersuchen zu entscheiden, wenn es die Auslegung des Unionsrechts betrifft. Die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der von den nationalen Gerichten vorgelegten Fragen könne nur ausnahmsweise widerlegt werden, wenn die erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stehe, wenn Probleme hypothetischer Natur seien oder der EuGH nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfüge, die für eine Beantwortung der vorgelegten Fragen erforderlich sind. Dies sei aber nicht der Fall gewesen.
Nach seinem Wortlaut gelte der Rahmenbeschluss auch für Entscheidungen, die vor seiner Annahme ergangen sind. Außerdem seien Verfahrensvorschriften, anders als materiell-rechtliche Normen, nach ständiger Rechtsprechung auf alle bei ihrem Inkrafttreten anhängigen Rechtsstreitigkeiten anwendbar.
In der Sache entschieden die Luxemburger Richter, dass Spanien grundsätzlich verpflichtet ist, den Haftbefehl zu vollstrecken. Zwar sei die Verurteilung in Abwesenheit des Mannes erfolgt, er habe aber in Kenntnis der anberaumten Verhandlung einen Strafverteidiger beauftragt und sei von diesem tatsächlich vertreten worden. Sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren sowie mit seine Verteidigungsrechten seien daher nicht verletzt (Urt. v. 26.02.2013, Az. C-399/11).
cko/LTO-Redaktion
EuGH-Urteile zu Grundrechtecharta und Haftbefehl: . In: Legal Tribune Online, 26.02.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8224 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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