Der 1. Senat des BVerwG hat am Dienstag entschieden, dass in den Fällen, in denen ein Ausländer zu seinem bereits in Deutschland lebenden ausländischen Ehepartner nachziehen will, grundsätzlich der Unterhaltsbedarf beider Eheleute sowie der mit ihnen zusammen lebenden minderjährigen Kinder gedeckt sein muss.
Der Entscheidung lag der Fall eines türkischen Staatsangehörigen zugrunde, der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als Ehegatte nach § 30 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) erstrebt. Er heiratete 2002 eine in Deutschland lebende Türkin, mit der er drei Kinder hat. 2005 reiste er mit einem Visum zum Familiennachzug nach Deutschland ein. Nachdem der Kläger für sich, seine Ehefrau und seinen jüngsten Sohn ab September 2006 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) bezogen hatte, versagte das beklagte Land Berlin 2008 dem Kläger die beantragte Aufenthaltserlaubnis.
Das VG Berlin hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen, das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg hat das beklagte Land hingegen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verpflichtet. Es war der Auffassung, dass es für die Sicherung des Lebensunterhalts genüge, wenn der Unterhaltsbedarf des nachziehenden Ausländers selbst gedeckt sei. Das sei hier der Fall, denn das Einkommen des Klägers reiche mittlerweile für seinen eigenen Bedarf aus, wenn auch nicht für den der Ehefrau und des minderjährigen Sohnes.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat das Urteil des OVG aufgehoben und entschieden, dass ein Anspruch auf Familiennachzug in der Regel voraussetzt, dass jedenfalls der Lebensunterhalt der familiären Bedarfsgemeinschaft - hier: des Klägers, seiner Ehefrau und des minderjährigen Sohnes - ohne Inanspruchnahme öffentlicher Sozialleistungen bestritten werden könne. Das sei hier nicht der Fall, vielmehr beziehe die Familie weiterhin Sozialleistungen nach dem SGB II. Dass es auf den Unterhaltsbedarf der Bedarfsgemeinschaft ankomme, ergebe sich daraus, dass das Aufenthaltsgesetz insoweit auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen verweise, die bei erwerbstätigen Personen nach den Regeln des SGB II zu ermitteln seien (§ 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG).
Dieser Verweis umfasse grundsätzlich auch die dortigen Regeln über die Hilfebedürftigkeit und die Bedarfsgemeinschaft im Sinne von § 9 Abs. 2 SGB II. Dass der Gesetzgeber beim Familiennachzug von einer Gesamtbetrachtung der Familie ausgehe, bestätige auch die Regelung, nach der beim Familiennachzug Beiträge der Familienangehörigen zum Haushaltseinkommen zu berücksichtigen seien (§ 2 Abs. 3 Satz 4 AufenthG). Die Einkünfte des Nachziehenden dienten daher nicht der vorrangigen Deckung seines eigenen Bedarfs.
Da es sich bei der Sicherung des Lebensunterhalts um eine Regelerteilungs-voraussetzung handele (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), bleibe allerdings zu prüfen, ob hiervon eine Ausnahme zu machen sei. Dies sei insbesondere der Fall, wenn höherrangiges Recht wie der Schutz von Ehe und Familie oder die unionsrechtlichen Vorgaben der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG) es geböten. Hierbei sei neben dem Grad der Integration der Familie in Deutschland auch zu berücksichtigen, wie hoch der verbleibende Anspruch der Familie auf Sozialleistungen sei und in welchem Umfang der Nachziehende zum Familienunterhalt beitrage.
In diesem Zusammenhang hat der Senat ausgeführt, dass bei der Berechnung des Unterhaltsbedarfs im Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie der Freibetrag für Erwerbstätige (§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II) nicht zu Lasten des Ausländers anzurechnen sei. Insoweit entsprach der Senat der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urt. v. 16.11.2010, Az. 1 C 20.09).
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BVerwG: . In: Legal Tribune Online, 16.11.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1952 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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