Die Polizei darf die Zimmer von Geflüchteten ohne richterlichen Beschluss betreten, um sie abzuschieben, entschied das BVerwG. Das Urteil sorgt bei den Klägern für Enttäuschung, für Juristen hält es Antworten auf essenzielle Fragen parat.
Dass am Donnerstag in Leipzig eine wichtige Entscheidung fallen würde, hatte sich schon morgens auf dem Vorplatz des Bundesverwaltungsgerichts angedeutet, wo einige Menschen sich solidarisch mit den Klägern versammelten. Slogans wie "Camp = Prison" und "no more camps, we want homes" waren zu sehen. Es ging um Kernfragen zum Grundrechtsschutz von Asylbewerbern, die jedenfalls zu Beginn des Asylverfahrens verpflichtet sind, in einer sogenannten Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) zu wohnen.
Das Bundesverwaltungsgericht entschied nun, dass diese Zimmer Wohnungen im Sinne des Grundgesetzes (GG) seien. Doch zugleich hielt es für zulässig, dass Polizeivollzugsbeamte die Zimmer ohne Durchsuchungsbeschluss zur Nachtzeit betreten, um die Abschiebung zu vollstrecken. Denn das bloße Betreten und Hineinblicken stelle keine Durchsuchung im Sinne des Art. 13 Abs. 2 GG dar.
Der Kläger Alassa Mfouapon – unfreiwillig bekannt geworden durch die gescheiterte Abschiebung eines Mitbewohners in der LEA Ellwangen im April 2018 – ist mit seiner Revision gescheitert. Entsprechend resigniert zeigte er sich nach der Verkündung: "Das Urteil gibt Polizisten bei der Abschiebung zu viele Freiheiten. Sie können praktisch tun, was sie wollen."
Abschiebung im Schlafzimmer
Mfouapon hat viele Geschichten zu erzählen: wie er über das Mittelmeer nach Europa flüchtete, wie er zum Mittelpunkt einer öffentlichen Hetzjagd wurde und von BILD-Reporterin „Steffi“ bloßgestellt wurde – oder aber davon, wie er mittlerweile eine Ausbildung abgeschlossen hat und als Mediengestalter arbeitet.
Mfouapon sollte im Juni 2018 Italien überstellt werden, aufgrund des Dublin-Systems, d.h. allein deshalb, weil er dort erstmals in der EU angekommen war und Deutschland daher nicht für seinen Asylantrag zuständig ist.
In den frühen Morgenstunden des 20. Juni betraten die Polizeivollzugsbeamte das Mfouapon zugeteilte Zimmer in der LEA im baden-württembergischen Ellwangen. Doch sie fanden ihn nicht dort, sondern erst im Toilettenbereich auf dem Flur. Ihm wurde der Vollstreckungsauftrag zur Abschiebung vorgehalten, aber kein Durchsuchungsbeschluss. Es gab auch keinen. Wäre das erforderlich gewesen? Darum drehte sich die Verhandlung vor dem BVerwG am Donnerstag. Im Kern ging es um die Frage, ob das Betreten eines LEA-Zimmers durch die Polizei eine Wohnungsdurchsuchung ist.
Wohnung ja, Durchsuchung nein
In diesem Wort stecken zwei Voraussetzungen: Wohnung und Durchsuchung. Die erste bejahten die Richter in Leipzig noch. Eine Wohnung sei ein privater Rückzugsort. Das könne man bei einem Zimmer in LEA nicht grundsätzlich verneinen. Auch Flüchtlinge hätten das "Recht, in Ruhe gelassen zu werden", brachte der Vorsitzende Richter schon während der mündlichen Verhandlung klar zum Ausdruck. Zimmer in einer LEA, in denen bis zu zwei Personen leben, seien durch Art. 13 GG als Wohnung in vollem Umfang grundrechtlich geschützt.
Allerdings sei das Betreten eines LEA-Zimmers zum Zweck der Überstellung eines Ausreisepflichtigen keine Durchsuchung im Sinne des Art. 13 Abs. 2 GG.
Mfouapons Rechtsanwalt Roland Meister definierte eine Durchsuchung unter Verweis auf das Bundesverfassungsgericht als "zielgerichtetes Suchen nach einer Person oder nach Sachen". Das sei vorliegend klar der Fall. Sarah Lincoln, Prozessbevollmächtigte in beiden Verfahren und Fallkoordinatorin bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), ergänzte, dass Mfouapon ja zunächst durch Wände und Tür verborgen gewesen war. Die Wohnung müsse erst betreten werden, um den Raum einzusehen. Genau vor diesem Betreten zum Zweck des Auffindens solle der Bewohner geschützt werden.
Das Gericht folgte jedoch der Auffassung des Landes Baden-Württemberg, dass die Kombination aus bloßem Betreten und dem prüfenden Sich-Umsehen nicht für eine Durchsuchung reiche. Einen Bewohner der LEA in dem ihm zugeteilten Zimmer zu vermuten, sei keine Suche nach etwas Verborgenem. Es müssten weitergehende Suchmaßnahmen hinzutreten, um eine Durchsuchung anzunehmen. Das hatte der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg auch so gesehen.
Überstellungspflicht nach Dublin ist dringende Gefahr
Damit steht nur fest, dass das Betreten der LEA-Zimmer keinen richterlichen Beschluss erfordert. Weiterhin wehrte sich Mfouapon gegen die konkreten Umstände der Abschiebung, insbesondere die Uhrzeit. Rechtsanwältin Lincoln sah in ihrem Schlusswort "kein Bedürfnis für einen Zugriff im Schlafzimmer".
Nach Auffassung des BVerwG sei eine Abschiebung zur Nachtzeit jedoch vom Verwaltungsvollstreckungsgesetz des Landes Baden-Württemberg (VwVG) gedeckt, das keine Differenzierung zwischen Tag- und Nachtzeit vornimmt. Diese Rechtsgrundlage genüge dem in Art. 13 Abs. 7 GG vorgesehenen Gesetzesvorbehalt. Dieser lässt Eingriffe in die Unverletzlichkeit der Wohnung "auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung" zu. Nur worin sollte eine solche Gefahr liegen?
Das BVerwG sah sie in der Pflicht der Bundesrepublik zu Mfouapons Überstellung nach Italien selbst. Das heißt: Der Umstand, dass Mfouapon nach dem Dublin-System nach Italien verbracht werden muss, reicht schon aus, damit Polizeibeamte ohne richterlichen Beschluss sein Zimmer in der LEA betreten dürfen.
Die Richter führten an, dass es sich bei der Dublin-Überstellung um eine "begleitete Ausreise" handele, bei der die Vorgaben des Zielstaats – hier Italien – eingehalten werden müssten. Die so begründete Gefahr sei auch "dringend", denn mildere Mittel verblieben den Vollzugsbeamten nicht. Insbesondere die Abschiebungshaft sei kein solches.
Gegen die Hausordnung können Bewohner nicht vorgehen
In einem zweiten, verbundenen Verfahren wies das BVerwG einen Normenkontrollantrag gegen die frühere Hausordnung der LEA Freiburg ab. Die Antragsteller hatten damit begehrt, einzelne Bestimmungen der Hausordnung für unwirksam zu erklären, welche dem privaten Sicherheitsdienst in der LEA anlasslose Taschen- und Zimmerkontrollen zu Tag- und Nachtzeiten gestattet hatten. Laut GFF sind solche Regelungen in Hausordnungen bundesweit eher Regel als Ausnahme.
Hierüber entschied das BVerwG am Ende nicht in der Sache, da es den Antrag bereits als unzulässig verwarf. Nach Auffassung der Richter waren die Antragsteller in doppelter Hinsicht zu spät dran. Denn erstens wohnen sie seit längerem nicht mehr in der LEA Freiburg und zweitens hat die Einrichtung ihre Hausordnung inzwischen geändert. Ein nachgelagertes Rechtsschutzinteresse verneinten die Richter.
In der Sache ließ der Vorsitzende Richter Dr. Robert Keller allerdings recht deutlich durchblicken, dass die damaligen gesetzlichen Regelungen, die Grundlage für die Hausordnung waren, nicht bestimmt genug waren, um derart weitgehende Eingriffe in Art. 13 GG zu legitimieren, wie sie die Hausordnung vorsah.
Klagen gegen jede einzelne Kontrolle?
Für die Antragsteller, die vor dem VGH noch teilweise Recht bekamen, eine Niederlage. "Ich bin schockiert darüber, dass es nach dem Urteil kaum möglich ist, gegen derartige Hausordnungen zu klagen", sagte Emmanuel Annor, einer der Antragsteller. Damit spricht er ein Problem an, das auch in der Verhandlung erörtert worden war. Da ein privater Sicherheitsdienst die Kontrollen durchführte, wozu ihn die Hausordnung ermächtigte, sei rechtlich unklar, welcher Rechtsweg eröffnet ist und gegen wen genau Klage erhoben werden muss. Der Staat solle Verantwortung für die Kontrollen übernehmen, forderte Annor.
GFF-Anwältin Lincoln sieht in Zusammenschau der beiden Verfahren dennoch einen Lichtblick: "Dadurch, dass nun feststeht, dass die Zimmer Wohnungen sind und es für deren Betreten eine dringende Gefahr braucht, können auch die in vielen Hausordnungen gestatteten anlasslosen Zimmerkontrollen nicht rechtmäßig sein."
Allerdings verbleibe eine prozessuale Hürde: Wenn nachgelagerte Normenkontrollen unzulässig sind, müsse für jede mögliche Kontrollsituation eine gesonderte Klage erhoben werden. Das heißt: eine Klage gegen eine Taschenkontrolle, eine gegen Zimmerkontrolle in Anwesenheit des Betroffenen, einmal in dessen Abwesenheit – und alles jeweils zur Tages- und zur Nachtzeit. Das sei praktisch kaum möglich, zumal nicht für Geflüchtete in einer Erstaufnahmeeinrichtung.
Alassa Mfouapon hat schon angekündigt, nach Karlsruhe vors Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Auch Emmanuel Annor will diesen Schritt mit seinem Anwalt besprechen.
BVerwG zum Betreten von Flüchtlingsunterkünften: . In: Legal Tribune Online, 15.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52008 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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