In einer Dezembernacht 1988 überwinden zwei Brüder aus der DDR die DDR-Grenze. Die Flucht nach West-Berlin gelingt nur knapp. Einer der Brüder ist seitdem traumatisiert. Das BVerwG entschied nun, dass er rehabilitiert werden kann.
Die zur Verhinderung eines Grenzübertritts an der früheren Grenze der DDR ausgelösten Grenzsicherungsmaßnahmen waren rechtsstaatswidrig. Eine infolge dieser Maßnahmen erlittene gesundheitliche Schädigung kann verwaltungsrechtlich rehabilitiert werden. Das hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig am Mittwoch entschieden (Urt. v. 24.07.2019, Az. 8 C 1.19).
Geklagt hatte ein Mann, der zusammen mit seinem Bruder im Dezember 1988 nach West-Berlin geflohen ist. Sie überwindeten die stark gesicherte DDR-Grenze bei Teltow-Sigridshorst am südwestlichen Stadtrand. Die dramatische Erfahrung habe einen der Männer traumatisiert, sagt Anwalt Thomas Lerche. Er beantragte für den heute 56-Jährigen beim brandenburgischen Innenministerium eine Entschädigung. Die Behörde lehnte ab. Auch eine Klage vor dem Verwaltungsgericht (VG) Potsdam blieb ohne Erfolg.
"Die Brüder haben mehrere Stunden in geduckter Haltung im Schlamm im Sperrgebiet gewartet", sagt der Rechtsanwalt, der den DDR-Flüchtling vor Gericht vertritt. In den frühen Morgenstunden hätten sie Metallgitterzäune mit Hilfe von Bolzenschneidern überwunden. Mit Leitern seien beide dann über weitere Zäune geklettert. Zum Schutz vor dem Stacheldraht hatten sie sich demnach mehrere Lagen Kleidung übergezogen. Sie hätten auch Alarm ausgelöst, doch wegen des Nebels seien sie zunächst nicht entdeckt worden.
Der damals 26-Jährige blieb aber mit seiner Kleidung im letzten Zaun der Grenzanlage hängen. Zwei Wachen hätten ihn mit Maschinengewehren bedroht, jedoch nicht geschossen. "Er litt Todesangst", so der Anwalt. Der gelernte Rohrverleger konnte sich befreien, rannte in die sogenannten "Andrews Barracks", eine nahe Kaserne des US-Militärs. Körperlich unverletzt kam der Flüchtling in das Notaufnahmelager Marienfelde.
Grenzsicherungsmaßnahmen richteten sich gegen Betroffene
Zwölf Stunden dauerte die Flucht. Die seelischen Beeinträchtigungen forderten seinen Mandanten bis heute heraus, so sein Anwalt: Er sei misstrauisch, reizbar, ihn überkämen plötzlich Wutanfälle, er habe Alpträume. Darum fordert er für den früheren Flüchtling eine Rehabilitierung und Grundrente auch wegen der psychischen Erkrankung.
Das VG Potsdam hatte bei seiner Ablehnung argumentiert, die Grenzsicherung der DDR habe sich nicht individuell gegen den Flüchtenden gerichtet. Vielmehr dürfte sie abstrakt generell gegen die gesamte DDR-Bevölkerung gerichtet gewesen sein. Zudem bestehe kein Anspruch auf berufliche Rehabilitierung, da keine Nachteile erkennbar seien.
Das BVerwG sah das aber anders. Die zur Verhinderung eines bestimmten Grenzübertritts ausgelösten Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR waren nach Auffassung der Leipziger Richter hoheitliche Maßnahmen, die sich konkret und individuell gegen den Betroffenen - hier den Kläger - richteten. "Sie waren rechtsstaatswidrig, weil sie in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit und der Verhältnismäßigkeit verstießen und Willkürakte im Einzelfall darstellten", so das BVerwG in einer Mitteilung.
Der Kläger habe darüber hinaus schlüssig dargelegt, dass die ausgelösten Grenzsicherungsmaßnahmen bei ihm zu einer gesundheitlichen Schädigung geführt haben können, die noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirkt. Die abschließende Entscheidung über Folgeansprüche obliege laut Gericht aber dem zuständigen Versorgungsamt.
acr/LTO-Redaktion
mit Materialien der dpa
BVerwG zu Gesundheitsschäden durch DDR-Grenzsicherung: . In: Legal Tribune Online, 24.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36677 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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