Der Hinweis auf dem Zeugnis dreier Legastheniker, dass ihre Rechtschreibung nicht benotet wird, ist verfassungswidrig – aber nur in ihrem speziellen Fall. Grundsätzlich könne so ein Vermerk nämlich sogar geboten sein, so das BVerfG.
Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben – damit haben in Deutschland 3,4 Millionen Legastheniker:innen zu kämpfen. Schüler:innen, die von dieser Lese-Rechtschreibstörung betroffen sind, können daher in manchen Bundesländern einen sogenannten Notenschutz beantragen. Dieser sorgt dafür, dass die Rechtschreibleistung nicht in die Benotung einfließt. Der Knackpunkt: Dieser Notenschutz findet dann in einem entsprechenden Vermerk Einzug in das Zeugnis, ebenso wie die festgestellte Legasthenie.
Dieser Vermerk kann verfassungsrechtlich angemessen und sogar geboten sein, entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am Mittwochmorgen (Urt. v. 22.11.2023, Az. 1 BvR 2577/15, 1 BvR 2578/15, 1 BvR 2579/15). In den Fällen dreier Abiturienten aus Bayern jedoch hatte die Verfassungsbeschwerde trotzdem Erfolg. Die Karlsruher Richter beanstandeten die damalige bayerische Verwaltungspraxis. Sie diskriminiere Legastheniker in besonderem Maß: Zeugnis-Hinweise auf eine Nichtbenotung der Rechtschreibung seien in Bayern nur im Fall von Legasthenie erfolgt, nicht aber, wenn eine andere Behinderung oder eine Ermessensentscheidung der Lehrkraft Grund für die Nichtbenotung war.
Die Beschwerdeführer hatten im Sommer 2010 im Freistaat ihr Abitur abgelegt. Den Legasthenie-Vermerk in ihren Abschlusszeugnissen hatten sie als ungerecht, stigmatisierend und diskriminierend empfunden und dagegen geklagt. Vor dem bayerischen Verwaltungsgerichtshof hatten sie zunächst mit Erfolg gehabt, das Bundesverwaltungsgericht hob diese Entscheidung jedoch später auf. Das BVerfG gab den Betroffenen nun Recht und ließ die Urteile des BayVerwGH wieder aufleben.
Die Richter des Ersten Senats sahen Legastheniker in dreifacher Hinsicht benachteiligt: erstens "gegenüber den Schülerinnen und Schülern, bei denen die Rechtschreibleistungen bewertet wurden"; zweitens "gegenüber Schülerinnen und Schülern mit anderen Behinderungen" und drittens "gegenüber allen anderen Schülerinnen und Schülern", bei denen die Rechtschreibung und andere Prüfungsleistungen jeweils nicht bewertet wurden, ohne dass dies im Zeugnis vermerkt wurde.
Die erste Benachteiligung hält das BVerfG für geboten, die übrigen beiden Benachteiligungen hingegen seien unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten nicht zu rechtfertigen. Das heißt: Wird der Notenschutz in Anspruch genommenen, darf oder muss die Schulverwaltung ggf. einen Vermerk auf die Nichtbenotung ins Zeugnis aufnehmen. Dies darf aber nicht auf Fälle der Legasthenie beschränkt sein, sondern muss in allen Fällen erfolgen, in denen die Rechtschreibung oder andere Prüfungsleistungen wegen einer Behinderung oder aus anderen Einzelfallerwägungen nicht bewertet wurden.
Aus Transparenzgründen grundsätzlich gerechtfertigt
Die erste Benachteiligung hält das BVerfG nicht nur für gerechtfertigt, sondern im Abiturzeugnis aus Gründen der Transparenz für Hochschulen und Arbeitsmarkt sogar für geboten. Alle Schülerinnen und Schülern sollen die gleiche Chance bekommen, entsprechend ihren erbrachten schulischen Leistungen und Fähigkeiten Zugang zu Ausbildung und Beruf zu finden. Das schreibe das Grundgesetz vor.
"Der Umstand, dass das Abschlusszeugnis eine einheitliche Qualifikation vermittelt, erweckt den Anschein, dass sich alle Prüfungsteilnehmer der Bewertung sämtlicher Kenntnisse und Fähigkeiten unterziehen mussten, die an sich Bestandteil der durch das Zeugnis dokumentierten Qualifikation sind", urteilte das BVerfG. Daher müsse auch eine differenzierte Notengebung – wie im Fall der Nichtbewertung der Rechtschreibung – genau erfasst und offengelegt werden.
Benachteiligung gegenüber Schülern mit anderen Behinderungen unzumutbar
Die Benachteiligung gegenüber Schüler:innen mit anderen Behinderungen hingegen sei unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten nicht zu rechtfertigen, so das BVerfG. Auch bei dieser Vergleichsgruppe war die Benotung bestimmter Leistungen unterblieben – einen Zeugnishinweis gab es nach der bayrischen Verwaltungspraxis jedoch nicht. Anders als heute existierte zum damaligen Zeitpunkt keine gesetzliche Grundlage für den Notenschutz und den Zeugnisvermerk in Bayern. Dies änderte sich 2016: mit Erlass des Art. 52 des bayrischen Schulgesetzes sowie neuen Paragraphen in der Bayrischen Schulordnung. Die Zeugnisbemerkungen benachteiligten die legasthenen Schüler:innen auch gegenüber solchen Schüler:innen in unzumutbarer Weise, bei denen aus anderen Gründen von der Bewertung der Rechtschreibleistung abgesehen wurde – zum Beispiel in naturwissenschaftlichen Fächern. Mit der Anbringung der Vermerke allein bei Legastheniker:innen habe die bayrische Verwaltungspraxis die verfassungsrechtlichen Vorgaben verfehlt.
Das Urteil des BVerfG dürfte an die Bundesländer ein klares Signal senden: Wird der Notenschutz in Anspruch genommenen, darf oder muss die Schulverwaltung ggf. einen Vermerk auf die Nichtbenotung ins Zeugnis aufnehmen. Dies darf aber nicht auf Fälle der Legasthenie beschränkt sein, sondern muss in allen Fällen erfolgen, in denen die Rechtschreibung oder andere Prüfungsleistungen wegen einer Behinderung oder aus anderen Einzelfallerwägungen nicht bewertet wurden.
Für die drei legasthenen Schüler ging es gut aus. Mit Aufhebung der Urteile des Bundesverwaltungsgerichts werden die Urteile des BayVerwGH rechtskräftig. Danach ist den drei legasthenen Beschwerdeführern nun ein Abiturzeugnis ohne Zeugnisbemerkung auszustellen.
Dieser Artikel wird am Tag der Urteilsverkündung fortlaufend aktualisiert.
BVerfG zum Hinweis auf Lese-Rechtschreibstörung: . In: Legal Tribune Online, 22.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53218 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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