Ein prominenter Unternehmer wehrte sich gegen Presseberichte über seinen Täuschungsversuch, der ihn einst das juristische Examen kostete - zunächst mit Erfolg. So weit geht das Recht auf Vergessen aber nicht, entschied nun das BVerfG.
Wer von sich aus gern die Öffentlichkeit und den Kontakt zu Medien sucht, darf sich hinterher nicht beschweren, wenn auch über unliebsame Begebenheiten aus der eigenen Vergangenheit berichtet wird. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gibt nämlich keinen Anspruch darauf her, von der Presse irgendwann nicht mehr mit solchen Details belästigt zu werden, entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit einem am Donnerstag veröffentlichtem Beschluss (v. 23.06.2020, Az. 1 BvR 1240/14).
Objekt der streitgegenständlichen Berichterstattung war der Hamburger Unternehmer und Politiker Ulrich Marseille, Gründer und bis August 2011 Vorstandsvorsitzender der Marseille-Kliniken AG, ebenso Spitzenkandidat der sogenannten Schill-Partei bei der Landtagswahl von Sachsen-Anhalt 2002. Marseille war 1983 wegen eines Täuschungsversuchs vom Ablegen des ersten juristischen Examens ausgeschlossen worden.
In einem Portrait unter dem Titel "Der Rechtspfleger" hatte das Manager Magazin 2011 über Marseille geschrieben: "Ulrich Marseille (55) hat zwei große Leidenschaften: die Fliegerei und die Juristerei. Einen Pilotenschein besitzt er. Weniger gut ist es um seinen rechtswissenschaftlichen Abschluss bestellt. Vom Staatsexamen wurde er wegen Täuschungsversuchs ausgeschlossen." Der Artikel, in dem es u. a. um die geschäftlichen Aktivitäten des Unternehmers ging, schilderte im Anschluss dessen immer wieder auftretenden rechtlichen Schwierigkeiten, etwa dass er jüngst in einem Strafprozess wegen Bestechung einer Krankenkassengutachterin zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt worden sei. Zum Ende kam der Artikel dann wieder auf die strafgerichtlichen Verurteilungen zurück und warf die Frage auf, ob Marseille nun möglicherweise wegen Unzuverlässigkeit ein Entzug seines Pilotenscheins drohe.
Der Unternehmer klagte gegen diese Darstellung vor dem Landgericht (LG) Hamburg, welches dem Magazin untesagte, über den täuschungsbedingten Ausschluss vom Staatsexamen zu berichten, da dieser geeignet sei, sich abträglich auf das Ansehen Marseilles auszuwirken und kein ausreichendes Berichtsinteresse mehr bestehe. Marseille werde in dem Artikel als ein Mensch dargestellt, dem unredliche Methoden nicht wesensfremd seien. Der Bezug zwischen dem Jahrzehnte zurückliegenden Täuschungsversuch und seinen gegenwärtigen rechtlichen Angelegenheiten sei nicht hinreichend klar, fand das Gericht.
BVerfG äußert sich zur Reichweite des Rechts auf Vergessen
Die dagegen gerichtete Berufung wies das Oberlandesgericht ohne Zulassung der Revision zurück, die Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof scheiterte ebenfalls, sodass dem Verlag nur noch die Verfassungsbeschwerde blieb. Mit dieser hatte er nun Erfolg.
Das BVerfG sah in den Entscheidungen der Zivilgerichte eine Verletzung der Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG), da dem Berichtsinteresse der Presse nicht hinreichend Bedeutung eingeräumt worden sei. Dabei griff die zweite Kammer des Ersten Senats in Karlsruhe die Rechtsprechung des Gerichts zum "Recht auf Vergessen" auf, welches als Ausfluss des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts garantiert, dass für jedermann zugängliche Informationen über eine Person diese im Zeitalter des Internets nicht für unbegrenzte Zeit verfolgen müssen.
Allerdings schließt das nicht aus, dass unliebsame Andekdoten auch nach geraumer Zeit noch einmal von der Presse ausgegraben werden dürfen, so die Kammer. Das Recht auf Vergessen ist nach ihrer Auffassung dann verletzt, wenn außergewöhnlich hartnäckig und in personalisierter Weise über vergangene Geschichten um eine Person berichtet wird, sodass eine dauerhafte öffentliche Prangerwirkung entsteht. Dabei spielt insbesondere das Internet eine Rolle, welches nicht von selbst vergesse und durch seine Breitenwirkung einen solchen Pranger-Effekt verstärken könne. Zudem kann das Berichtsinteresse, das naturgemäß mit dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abgewogen werden muss, mit Zeitablauf abnehmen.
Wer die Öffentlichkeit sucht, ist weniger schutzbedürftig
Aus dem bloßen zeitlichen Abstand heraus lasse sich aber kein Recht auf Vergessen ableiten, so das BVerfG. Auch bei einer aktuellen Berichterstattung könne nämlich Anlass bestehen, die Dinge noch einmal aufzurollen, so das BVerfG. Anderenfalls könnte über Fehltritte, Ansichten oder Äußerungen von öffentlich bekannten Personen, die diese als Heranwachsende oder in früheren Lebensphasen charakterisieren, regelmäßig nicht berichtet werden.
Zudem spiele auch das Verhalten der betroffenen Person eine Rolle. Jemand, der sich aktiv in die Öffentlichkeit begebe, könne nicht in derselben Weise verlangen, dass sein vergangenes Verhalten vergessen werde, wie etwa eine Privatperson, die nichts mehr dazu beigetragen habe, wieder öffentlich präsent zu sein. Marseille sei indes stets öffentlich tätig gewesen und habe die Öffentlichkeit auch gesucht, heißt es im Beschluss. Es sei auch nicht erkennbar, dass er durch die Berichterstattung in die Gefahr einer sozialen Ausgrenzung gerate. Allein dass ein Pressebericht dazu geeignet ist, das soziale Ansehen oder den Respekt gegenüber dem Betroffenen zu mindern, genügt nach Auffassung der Kammer nicht, um das Persönlichkeitsrecht zu verletzen.
Zum Berichtsinteresse stellte das BVerfG außerdem klar, dass dieses nicht von Gerichten bestimmt werde. Es obliege vielmehr der Presse selbst, zu entscheiden, was berichtenswert ist. Rechtlich erforderlich sei dabei allein, dass die Einbeziehung eines Umstands in den jeweiligen Bericht nicht objektiv ohne jeden Anknüpfungspunkt sei. Dass dies hier nicht der Fall sei, hätten die Gerichte nicht dargelegt.
An der Entscheidung wirkte noch der scheidende Richter Johannes Masing mit, dessen Amtszeit eigentlich bereits am 1. April endete und der seitdem nur noch geschäftsführend im Amt ist und von Ines Härtel, Rechtsprofessorin von der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, beerbt wird. Masing war in seiner Amtszeit vor allem für die Themen Meinungs- und Pressefreiheit, Persönlichkeitsrechte und Datenschutz zuständig und hat als Berichterstatter an den Entscheidungen zum "Recht auf Vergessen" mitgewirkt.
BVerfG zum Pressebericht über prominenten Unternehmer: . In: Legal Tribune Online, 09.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42149 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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