Das BVerfG hat vielen Rentnern in Deutschland mitunter hohe Sozialabgaben erspart. Den Sozialversicherungsträgern gehen damit aber möglicherweise bis zu eine Milliarde Euro verloren.
Es ist eine Entscheidung, die den Staat viel Geld kosten wird: Nach einem am Dienstag veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) müssen Rentner auf Zahlungen aus Pensionskassen unter bestimmten Voraussetzungen keine Sozialversicherungsabgaben leisten (Beschl. v. 27.06.2018, Az. 1 BvR 100/15, 1 BvR 249/15).
Zwei Rentner hatten sich über die Höhe ihrer Auszahlungen gewundert, die aus einem Lebensversicherungsvertrag über eine Pensionskasse ihres ehemaligen Arbeitgebers stammten. Diese waren geringer ausgefallen als erwartet, da auf die Auszahlungen die vollen Sozialversicherungsbeiträge fällig wurden. Dagegen zogen sie vor Gericht, wo sie jedoch bis einschließlich zum Bundessozialgericht (BSG) keinen Sieg erringen konnten.
Nun entschied das BVerfG, dass die volle Beitragspflicht in Fällen wie denen der beiden Rentner verfassungswidrig sei. Sie verstoße gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG), nach dem nicht nur Gleiches nicht ungleich, sondern auch Ungleiches nicht gleich behandelt werden darf. Letzteres war in dem Fall die Krux.
Betriebliche Pensionen vs. Private Versicherungen
Verglichen hatte man nämlich den Fall der Beschwerdeführer - also von Personen, die mit einer betrieblichen Altersvorsorge einer Pensionskasse ihres Arbeitgebers abgesichert sind - und dem anderer Arbeitnehmer, die privat eine Lebensversicherung als Altersvorsorge* abgeschlossen haben.
Ersteres ist vor allem ein Modell, das viele große Arbeitgeber, darunter Banken und Industriekonzerne, verwenden. Sie richten eigene Pensionskassen ein, um ihren Angestellten eine private Altersvorsorge zu bieten - oft zu durchaus lukrativen Konditionen. Zudem sparen sie somit etwaige Provisionen, die externe Versicherer verlangen würden, um ihre Angestellten abzusichern. In diese Kassen zahlen sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer ein. Auszahlungen, welche die Angestellten nach Ruhestandseintritt erhalten, sind dann allerdings sozialversicherungspflichtig, während von Auszahlungen aus privaten Lebensversicherungen keine Abgaben geleistet werden müssen*.
So weit ist die Praxis aber auch nach der Entscheidung des BVerfG unangefochten. Was den Fall besonders machte, war aber die Tatsache, dass die beiden Angestellten nach dem Ausscheiden aus dem Betrieb noch fast 18 bzw. 22 Jahre anderweitig tätig waren, bevor sie in Rente gingen. Mit ihrem früheren Arbeitgeber hatten sie unterdessen vereinbart, dass sie ab da weiter - wenngleich ohne Zuschuss von Firmenseite - in die Pensionskasse einzahlen und bei Ruhestandseintritt die vollen Leistungen erhalten durften. Auch diese Handhabung ist durchaus üblich.
"Pensionskassenmodell wäre praktisch tot gewesen"
Angriffspunkt war nun, dass der Teil der Einzahlungen, die nach dem Ausscheiden aus dem Betrieb geleistet worden waren, in den Augen der beiden Rentner vergleichbar war mit solchen, die andere Angestellte privat an einen Versicherer leisten. Da die Leistungen aus einer privaten Lebensversicherung aber bei Renteneintritt nicht abgabepflichtig waren, fühlte man sich ungerecht behandelt. Dies bestätigten nun auch die Richter in Karlsruhe.
Die 1. Kammer des Ersten Senats gab den Verfassungsbeschwerden statt. Die bisher getroffene Unterscheidung zwischen privater und betrieblicher Altersvorsorge allein nach der auszahlenden Institution (Pensionskasse oder private Versicherung) sei nicht zu rechtfertigen. Löse der Arbeitnehmer nach seinem Ausscheiden die Altersabsicherung aus dem betrieblichen Bezug - zahlt er also weiter ein, ohne Unterstützung durch den Arbeitgeber zu erhalten -, unterscheide sich das Modell nur noch unwesentlich von Einzahlungen auf privat abgeschlossene Versicherungsverträge.
"Das Pensionskassenmodell wäre damit praktisch tot gewesen" beschreibt der Rosenheimer Rechtsanwalt Dr. Christoph Lindner gegenüber LTO die Folgen, hätte man die bisherige Praxis und Rechtsprechung so beibehalten. Lindner hatte vor dem BVerfG im Auftrag des Sozialverbandes VdK einen der Beschwerdeführer vertreten und kein Verständnis für die in seinen Augen willkürliche Unterscheidung, die bis dato zwischen den Vorsorgemodellen getroffen wurde. "Das BSG hat da bisher streng institutionell angeknüpft. Dabei handelt es sich nach dem Willen des Gesetzgebers um zwei Seiten derselben Medaille."
Lange Jahre sei damit so verfahren worden, "aber jetzt kommt eine große Welle von Versicherten, die in Rente gehen und sich wundern, dass in voller Höhe Sozialversicherungsbeiträge abgehen", sagt Lindner. Und tatsächlich ist die Entscheidung in seinen Augen für viele Versicherte in Deutschland relevant: Bis zu 1,5 Millionen könnten betroffen sein, so Lindner. Nach unterschiedlichen Hochrechnungen könnte sich die Summe, die den Trägern der Sozialversicherung nach der Karlsruher Entscheidung entgehen wird, auf bis zu 1 Milliarde Euro pro Jahr belaufen.
Abgabepflicht auf Pensionen im Grundsatz verfassungsgemäß
Dabei werden den Versicherten nicht einmal alle Sozialabgaben erlassen. Betroffen ist nur anteilig die Auszahlungssumme, die auf den Einzahlungszeitraum nach dem Ausscheiden bei ihrem alten Arbeitgeber entfällt. Die bis dahin erworbene Altersvorsorge ist schließlich nicht mit den Zahlungen an einen privaten Versicherer zu vergleichen und somit abgabepflichtig.
Kritik von Lindner erntete aber auch das BVerfG. Grund dafür ist die lange Zeit, in der die Sache beim Gericht gelegen hatte: "Trotz allem Verständnis für die große Arbeitsbelastung des Gerichts - es ist für mich nicht ersichtlich, warum es dreieinhalb Jahre dauert, um darüber zu entscheiden. Der Fall ist eigentlich nicht überaus komplex und verfahrenstechnisch wenig aufwändig. Mit einer früheren Entscheidung hätte man anderen Gerichten viel Arbeit ersparen können, da dort viele vergleichbare Fälle liegen."
In einem zweiten Beschluss vom 9. Juli ging es vor dem BVerfG dann noch ganz grundsätzlich darum, ob die Versorgungsbezüge der Sozialabgabepflicht unterliegen. Die Vorlage des Sozialgerichts (SG) Osnabrück wies das Gericht aber mit deutlichen Worten zurück. Dabei verwies man auf seine bisherige Rechtssprechung zur grundsätzlichen Beitragspflicht von Versorgungsbezügen zur Kranken- und Pflegeversicherung. Die volle Beitragspflicht der Rente verstoße demnach nicht gegen Art. 3 GG, wenn die Einzahlungen aus dem Arbeitsentgelt geleistet wurden und in der Kranken- und Pflegeversicherung beitragsfrei waren (Az. 1 BvL 2/18). Das hätte das SG auch erkennen müssen, so die Karlsruher Richter.
Mit Materialien von dpa
*Präzisierung am Tag der Veröffentlichung, 16:40 Uhr: In diesem Fall ging es um eine Altersvorsorge in Form einer Lebensversicherung, die entweder privat oder, wie im Fall der Beschwerdeführer, über eine Pensionskasse abgeschlossen werden kann. Genau diese Modelle verglich das BVerfG hier. In einer früheren Version des Artikels war missverständlich lediglich von einem Vergleich betrieblicher Altersvorsorge mit Direktversicherern die Rede.
BVerfG kippt Sozialabgaberegelung für private Vorsorge: . In: Legal Tribune Online, 04.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30737 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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