In der jüngsten Ausgabe der NJW ist ein brisanter Leserbrief abgedruckt: Der Luftangriff bei Kundus und der damalige Kommandeur seien in der Öffentlichkeit verzerrt dargestellt, meinen zwei BGH-Richter.
Zwölf Jahre nach einem viel diskutierten Luftangriff im afghanischen Kundus haben zwei Richter des III. Zivilsenats am Bundesgerichtshof (BGH) eine falsche Darstellung des Sachverhalts bemängelt. "Leider hat sich in der Öffentlichkeit das Bild festgesetzt, auf Anordnung des deutschen örtlichen Kommandeurs sei ohne Vorwarnung in eine Menschenmenge bombardiert worden, wobei über 100 Personen ums Leben gekommen seien, darunter viele Zivilisten und insbesondere Kinder", schreiben Ulrich Herrmann und Harald Reiter in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW). "Diese Darstellung ist hinsichtlich der Opferzahl und -eigenschaft sowie der angeblich unterbliebenen Warnung schlicht falsch und beruht letztlich wohl auf einem Propagandaerfolg der Taliban."
In der Berichterstattung über den Fall sei es unterblieben, öffentlich zugängliche Quellen zu nutzen, "die ein zuverlässiges Bild vom Sachverhalt vermitteln", heißt es weiter. In dieser gewiss als ungewöhnlich einzustufenden Wortmeldung fassen sie den Sachstand aus ihrer Sicht zusammen, aber über Umstände hinaus, auf die es für ihre eigene Entscheidung in der Sache rechtlich angekommen sei. "Sie [Die Umstände] sind jedoch für die politische Bewertung und für das Ansehen der Bundeswehr von hoher Relevanz, weshalb uns eine Klarstellung geboten erscheint", so die beiden BGH-Richter.
US-amerikanische Kampfflugzeuge hatten in der Nacht zum 4. September 2009 zwei von den Taliban gekaperte Tanklaster bombardiert. Angeordnet hatte dies der deutsche Oberst Georg Klein (heute Brigadegeneral). Er befürchtete, dass die Fahrzeuge als rollende Bomben benutzt werden könnten. An der Stelle hatten sich zunächst aber auch Bewohner aus der Umgebung versammelt, um abgezapften Treibstoff zu holen.
Zwei Tage nach dem Angriff 2009 hatte allerdings auch der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) gesagt, ein Bericht des Gouverneurs von Kundus habe 56 Tote und zwölf Verletzte ausgewiesen. Eine vom damaligen Präsident Afghanistans, Hamid Karsai, eingesetzte Untersuchungskommission berichtete eine Woche später, es habe 99 Tote gegeben, darunter 69 Taliban-Kämpfer und 30 unschuldige Zivilisten. Zahlenangaben in dieser Größenordnung wurden seitdem vielfach wiederholt.
Muss man BGH-Richter sein, um den "richtigen" Sachverhalt zu kennen?
Vor sämtlichen deutschen Gerichten inklusive dem Bundesverfassungsgericht sowie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind von Afghanen angestrengte Verfahren ohne Erfolg geblieben. Hierzu gehört auch ein Verfahren vor dem Senat, dem die Autoren des Leserbriefs angehören. Auch ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein durch den Generalbundesanwalt wurde eingestellt.
Bemerkenswerterweise schreiben die BGH-Richter, der "richtige" Sachverhalt sei ihrem Senat zuverlässig bekannt. "Die beiden Kampfflugzeuge kreisten lärmend von 1:08 Uhr bis zum Bombenabwurf um 1:49 Uhr in nur 360 m Höhe (!) über der Szenerie." Von den zu Beginn gut 100 Menschen vor Ort habe sich daraufhin der Großteil umgehend in Richtung des Dorfs entfernt. Vor den Bombenabwürfen hätten sich noch 30 bis 40 Personen im Bereich der Tankfahrzeuge befunden, "und dies waren sicherlich keine Zivilisten mehr, geschweige denn Kinder". Danach hätten immerhin mehr als zehn Personen zu den abgestellten Fahrzeugen rennen können.
"Dies alles ist deutlich auf den Infrarotaufnahmen aus den Flugzeugen zu sehen. Diese Aufnahmen sind in öffentlicher Verhandlung des Landgerichts Bonn vorgeführt und ausgewertet worden", so die BGH-Richter. Und: "Eine entsprechende, auf sachverständiger Grundlage erstellte Auswertung der Videos ist auch in der im Internet abrufbaren Einstellungsverfügung des Generalbundesanwalts in dem gegen den Kommandeur geführten Ermittlungsverfahren enthalten."
Dort sei auch ausgeführt, dass Spuren von lediglich 12 bis 13 getöteten Personen gefunden worden seien. "Es ist sehr ärgerlich, dass diese öffentlich zugänglichen Quellen, die ein zuverlässiges Bild vom Sachverhalt vermitteln, von der Allgemeinpresse ungenutzt blieben. Menschlich höchstbedauerlich ist, dass der seinerzeitige Kommandeur in der Öffentlichkeit deshalb weiterhin in einem völlig falschen Licht steht."
jb/LTO-Redaktion
Mit Materialien der dpa
Leserbrief von BGH-Richtern: . In: Legal Tribune Online, 06.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45676 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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