BGH zu Häufigkeitsdefinitionen im Aufklärungsgespräch: "Zu Risiken und Neben­wir­kungen..."

von Maximilian Amos

19.03.2019

Was genau bedeutet "gelegentlich", wenn es um medizinische Risiken geht? Häufig? Oder doch eher selten? Und müssen sich Ärzte bei der Aufklärung auf Beipackzettel-Definitionen stützen? Ein Patient sah das so, scheiterte damit vor dem BGH.

"Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker." Diesen Satz kennt in Deutschland so ziemlich jeder, der schon einmal eine Mediamenten-Werbung im Fernsehen gesehen hat. Dass er bei einer solchen Werbung einzublenden und aufzusagen ist, schreibt sogar das Heilmittelwerbegesetz (HWG) in § 4 Abs. 5 explizit vor. Doch was, wenn diese anscheinend Quellen sich widersprechen? Diese Erfahrung musste ein von Gelenkbeschwerden geplagter Patient machen, dessen Fall kürzlich vom Bundesgerichtshof (BGH) entschieden werden musste (Urt. v. 29.01.2019, Az. VI ZR 117/18). Er war der Meinung, sein Arzt hätte sich bei der Aufklärung genau an die Definitionen aus Beipackzetteln für Arzneimittel halten müssen.

Natürlich erhält ein Patient zu einem künstlichen Kniegelenk in dem Sinne keinen Beipackzettel. Allerdings war der Mann der Meinung, sei Arzt hätte ihm die Risiken der anstehenden Knie-OP anhand der Häufigkeitsdefinitionen des Medical Dictionary for Regulatory Activities (MedDRA) erklären müssen. Diese finden sich in allen Medikamenten-Beipackzetteln und unterscheiden die Häufigkeit von "Sehr häufig" (Nebenwirkung bei mehr als einem Fall pro 10 Behandelten) bis hin zu "Einzelfälle" (äußerst selten).

Der Mann, der an einer Arthrose im rechten Kniegelenk litt und deshalb ein künstliches eingesetzt bekommen hatte, verlangte von dem Krankenhaus, in dem er operiert worden war, Schadensersatz  wegen angeblicher Behandlungs- und Aufklärungsfehler in Höhe von 50.000 Euro. Zudem wollte er abstrakt festgestellt wissen, dass es ihm zum Ersatz aller Folgeschäden verpflichtet sei.

Was heißt "gelegentlich"?

Zur obligatorischen Aufklärung vor der OP hatten die behandelnden Mediziner einen Aufklärungsbogen verwendet, in dem es u. a. hieß:

"Trotz größter Sorgfalt kann es während oder nach dem Eingriff zu Komplikationen kommen, die u. U. eine sofortige Behandlung erfordern (...). Zu nennen sind: (...)im Laufe der Zeit gelegentlich Lockerung oder extrem selten Bruch der Prothese; ein Austausch der Prothese ist dann erforderlich. (...)."

Dies entspricht allerdings eben nicht den Häufigkeits-Definitionen, wie sie den Arznei-Beipackzetteln zu entnehmen sind. Denn nach den Kriterien des MedDRA meint "gelegentlich" eine Häufigkeit von 0,1 bis 1 Prozent, also einer bis zehn von tausend Fällen. Das im späteren Gerichtsverfahren festgestellte tatsächliche Risiko einer solchen Lockerung liegt aber bei etwas mehr als acht von 100 Fällen, was nach dem MedDRA aber "häufig" bedeutet hätte.

So kam es, wie es kommen musste: Etwa zwei Jahre nach dem Eingriff wurde der Mann wieder im Krankenhaus vorstellig, da er zunehmende Belastungsschmerzen des operierten Kniegelenks bemerkte. Eine Untersuchung ergab, dass sich das künstliche Gelenk gelockert hatte, weshalb es durch ein neues Implantat ersetzt werden musste.

Mit seiner Klage gegen das Krankenhaus scheiterte der Patient in den ersten beiden Instanzen, bevor es zum BGH ging. Doch auch der VI. Zivilsenat hatte wenig übrig für die Ansicht des Mannes, die Mediziner hätten sich an die Beipackzettel-Definitionen halten. Es bestehe kein Grund zu der Annahme, dass hier irgendetwas verharmlost worden wäre, fanden die Karlsruher Richter und wiesen die Klage ab.

BGH zieht allgemeinen Sprachgebrauch vor

Zwar müsse ein Patient vor einem Eingriff "im Großen und Ganzen" über Chancen und Risiken der Behandlung aufgeklärt werden. Das erfordere aber keine punktgenauen Angaben in Prozent oder einer anderen feststehenden Definition. Doch diese Deutung war bis dahin keineswegs eindeutig. So hatten bspw. eine Oberlandesgerichte sowie Stimmen in der Literatur gefordert, man müsse sich an die Häufigkeitsdefinitionen halten, wie sie aus Beipackzetteln bekannt seien. Aufgrund ihrer Erfahrung mit Arzneimitteleinnahme würden Patienten Risikohinweise so interpretieren, wie sie es aus den Beilagen gewohnt seien.

Der BGH hingegen stellte auf den allgemeinen Sprachgebrauch ab und unternahm dazu einen kleinen philologischen Exkurs: Nach allgemeinem Sprachverständnis, welches der Senat durchaus sselbst beurteilen könne (vgl. Senatsurteil vom 13.03.2018, Az. VI ZR 143/17, NJW 2018, 1671 Rn. 32 ff.) bedeute "gelegentlich" in etwa "nicht  regelmäßig", "ab und an", "manchmal", "mitunter" oder auch "öfter". Und in bestem Juristendeutsch führte der Senat weiter aus: "Gelegentlich" bezeichne damit "eine gewisse Häufigkeit, die größer als 'selten', aber kleiner als 'häufig' ist."

Die Definitionen des MedDRA hingegen sind nach Auffassung des Senats keineswegs prägend für den üblichen Sprachgebrauch. Glücklicherweise gibt es eben zu diesem Thema auch eine Studie, welche der BGH prompt heranzog. Die Erhebung mit dem Titel "Verständnis von Nebenwirkungen im Beipackzettel", erschienen im Deutschen Ärzteblatt, hatte ergeben, dass selbst Pharmazeuten und  Ärzte in einem Arzt-Patienten-Gespräch unter "gelegentlich" i. d. R. eine Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent verstehen. Vor diesem Hintergrund, so der Senat, könne erst recht nicht davon ausgegangen werden, dass ausgerechnet Laien in diesem Kontext ein an den MedDRA-Kriterien orientiertes Verständnis hätten.

Zitiervorschlag

BGH zu Häufigkeitsdefinitionen im Aufklärungsgespräch: . In: Legal Tribune Online, 19.03.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34447 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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