Die dramatisch steigenden Corona-Zahlen zwingen die Politik zum Handeln - dabei sind verfassungsrechtliche Fragen rund um 2G, Lockdown und Impfpflicht von den Gerichten nicht entschieden und unter Rechtswissenschaftlern umstritten.
Deutschland steht mitten in der vierten Corona-Welle. Die Politik muss handeln, da sind sich nicht nur die Ampel-Partner aus SPD, Grüne und FDP einig. Die Frage nach dem "wie" erzeugt aber auch nach fast zwei Jahren Pandemie Unsicherheit. Denn was rechtlich zulässig ist und was nicht, ist in vielen Fällen weiterhin offen. Und in einem dynamischen Infektionsgeschehen nicht einfach zu beantworten.
Bei den aktuellen Diskussionen um Themen wie Impfpflicht, Teil-Lockdown, 2G, 3G und Homeoffice-Pflicht kann sich die Politik nur bedingt auf die bisherigen Gerichtsentscheidungen zur Pandemie berufen. Denn die meisten Entscheidungen, die zu Pandemiemaßnahmen getroffen wurden, ergingen nach einer summarischen Prüfung im Eilverfahren. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat auf diese Weise ganz zu Beginn der Pandemie dafür gesorgt, dass Demonstrieren wieder möglich war und auch Gottesdienste unter Auflagen stattfinden konnten. Zu vielen wichtigen Fragen gibt es aber noch keine abschließende Entscheidung.
Die Entscheidungen in der Hauptsache stehen in den meisten Fällen noch aus. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat im Oktober den Anfang gemacht und die sehr weitgehenden Ausgangsbeschränkungen in Bayern in der ersten Corona-Welle im Hauptverfahren für unverhältnismäßig erklärt. Der Beschluss ist aber noch nicht rechtskräftig, die Staatsregierung hat angekündigt, Revision einzulegen. Im Moment wird auf die erste große Entscheidung aus Karlsruhe gewartet, die bis Ende November in Aussicht gestellt ist. Dabei geht es um die sogenannte Bundes-Notbremse, die von den letzten Apriltagen bis Ende Juni 2021 bundeseinheitliche Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen, nächtliche Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen ermöglichte.
Verfassungsmäßigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt
Der Präsident des BVerfG, Stephan Harbarth, hat sich dazu am Freitag im ZDF-heute journal geäußert: Es gehe um "ein bestimmtes Gesetz zu einem bestimmten Zeitpunkt". Das Gericht begründe seine Entscheidungen aber "sehr, sehr ausführlich" und entwickele dabei Maßstäbe, um die Verfassung zu konkretisieren. Daraus ergäben sich üblicherweise "Hinweise für Folgefragen, die sich stellen werden, etwa für kommende Pandemien oder für Maßnahmen in der gegenwärtigen Pandemie für die kommenden Monate".
Bis dahin muss die Politik sozusagen auf Sicht fahren. Die Rechtsprofessorin Anna Katharina Mangold von der Universität Flensburg ist der Ansicht, dass sich "gewisse Leitplanken" trotzdem auch jetzt markieren lassen. "Die Verfassung steht einer weiterhin maßvollen, aber eben auch effektiven Pandemiebekämpfung keineswegs entgegen", schreibt sie in einem Beitrag zusammen mit ihrem Mitarbeiter Johannes Gallon für den Verfassungsblog.
Die Verfassungsmäßigkeit einer Maßnahme ist nicht in Stein gemeißelt, sondern hängt von der aktuellen Situation und den wissenschaftlichen Erkenntnissen ab. Erst gab es keinen Impfstoff, dann schon. Dann kam die noch viel ansteckendere Delta-Variante. Inzwischen weiß man, dass auch Geimpfte andere anstecken und in seltenen Fällen auch selbst schwer erkranken können. Und: Was bei entspannter Corona-Lage völlig unverhältnismäßig schien, muss es heute nicht mehr sein. Vor diesem Hintergrund hat die Politik auch einen weiten Einschätzungsspielraum.
Verfassungsrechtler halten Impfpflicht für zulässig
Das sieht die Verfassungsrechtlerin Anika Klafki von der Universität Jena im Gespräch mit den ARD-Tagesthemen auch so. Es sei nicht klar, welche Maßnahmen in der derzeitigen Situation zulässig sind. Eine Impflicht für Beschäftige in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen hält die Juristin aber mit Blick auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgericht zur Pockenimpfung aus den 1960er Jahren und einer Eilentscheidung des BVerfG zur Masern-Impflicht aus 2020 aber für zulässig. Auch eine generelle Impfpflicht hält Klafki für einen verfassungsrechtlich "gangbaren Weg". Es sei aber eine politische Frage, ob man eine allgemeine Impfpflicht anordnen will.
Bei der Frage, ob Ungeimpfte strikteren Beschränkungen unterworfen werden können, scheint unter Rechtsexpertinnen und -experten niemand ein Problem zu sehen. Mangold, die im Frühjahr selbst eine Verfassungsbeschwerde gegen die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen unter der Bundes-Notbremse verfasst hat, hält aktuell "flächendeckende und kontaktbeschränkende Maßnahmen gegenüber der gesamten Bevölkerung" für zulässig – "also gegenüber geimpften wie ungeimpften Personen". Denn überfüllte Intensivstationen bedrohten potenziell die Gesundheit aller Menschen.
Die Juristin Andrea Kießling von der Ruhr-Uni Bochum meint dagegen, es müsse differenziert werden. "Einfach pauschal irgendwelche Dinge anordnen, die dann für alle Personen uneingeschränkt gleich gelten, das geht nicht mehr", sagte sie Zeit Online. Eine allgemeine Impfpflicht könne sie sich aber vorstellen. Kießling hat "da keine verfassungsrechtlichen Bauchschmerzen".
Hinnerk Wißmann von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster empfiehlt in einer aktuellen Stellungnahme für das Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes im Bundestag, die Impfpflicht in Betracht zu ziehen, "bevor etwa allgemeine Lockdowns für Schulen oder Hochschulen in Betracht kommen". Er bezeichnet diese als "milderes Mittel".
Mögliche Impfpflicht in separatem Gesetz?
Christoph Möllers, Verfassungsrechtler an der Humboldt-Universität in Berlin schrieb auf Twitter: "Wenn eine Impfung freiwillig ist und wenn sie das Risiko, sich und andere zu gefährden, signifikant verringert - dann ist die Gleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften eine Risikoumverteilung von sozialistischen Ausmaßen." Ulrich Battis, ehemaliger Lehrstuhlinhaber für Staats- und Verfassungsrecht an der Humboldt-Universität, sagte dem rbb, dass man eine Impfflicht für Pflegeberufe einführen könne. "Das ist unter Juristen heute nicht mehr streitig", so Battis.
Die möglichen künftigen Regierungspartner SPD, Grüne und FDP wollen nach Angaben der Grünen über eine Corona-Impfpflicht etwa für Pflegeheime sprechen - eine Einigung gibt es aber noch nicht. "Es gibt keine Einigung auf eine Testpflicht in den Einrichtungen. Wir werden über solche Maßnahmen weiter zu sprechen haben mit den Ampelpartnern", sagte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt am Montag in Berlin. Sie korrigierte damit frühere Aussagen. Eine mögliche Impfpflicht für bestimmte Bereiche wäre nicht Bestandteil der Reform des Infektionsschutzgesetzes, die diese Woche beschlossen werden soll, sondern eines separaten Gesetzgebungsverfahrens, erklärte Göring-Eckardt. Der Gesetzentwurf sieht aktuell unter anderem die Einführung eines Rechts auf Homeoffice und einer bundesweiten 3G-Pflicht vor.
mit Materialien der dpa
Corona und Verfassungsrecht: . In: Legal Tribune Online, 16.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46663 (abgerufen am: 08.11.2024 )
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