Die "Corona-Spaziergänge" beschäftigen weiter Versammlungsbehörden und Justiz. Anders als andere Gerichte sieht das VG Stuttgart zwar kein schwieriges Rechtsproblem, aber einen ziemlich klaren Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit.
Das Verwaltungsgericht (VG) Stuttgart hält ein durch Allgemeinverfügung erlassenes präventives Verbot von sogenannten Corona-Spaziergängen in Bad Mergentheim in einem Eilverfahren für voraussichtlich verfassungswidrig und hat einem Eilantrag gegen das Verbot stattgegeben (Beschl. v. 12.01.2022, Az. 1 K 80/22).
Die Stadt Bad Mergentheim im Nordosten von Baden-Württemberg hatte mit sofort vollziehbarer Allgemeinverfügung vom 21. Dezember 2021 sämtliche sogenannten Corona-Spaziergänge untersagt - das sollte zunächst bis Ende Januar gelten. Verboten wurden alle mit generellen Aufrufen zu "Montagsspaziergängen" oder "Spaziergängen" in Zusammenhang stehenden, nicht angezeigten und nicht behördlich bestätigten Versammlungen und Ersatzversammlungen im Stadtgebiet, unabhängig vom Wochentag und unabhängig davon, ob einmalig oder wiederkehrend stattfindend.
Die Stadt stützte das Verbot auf § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz (VersammlG) in Verbindung mit § 12 Abs. 2 der baden-württembergischen Corona-Verordnung. Aus Sicht der Stadt sind die "Corona-Spaziergänge" Versammlungen, die nach dem Versammlungsgesetz angemeldet werden müssten, was aber offenbar regelmäßig nicht erfolge. Von diesen Versammlungen gehe eine nicht geringe Infektionsgefahr aus. Insbesondere würden grundlegende Hygieneregeln wie Einhaltung eines Mindestabstands und das Tragen von Mund-Nasen-Masken nicht eingehalten. Die gezielte Umgehung von rechtlichen Vorgaben sei nicht schutzwürdig, so die Stadt, als ultima ratio könne das Versammlungsverbot zum Zwecke des Infektionsschutzes ergehen.
Das VG Stuttgart hat im einstweiligen Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung) nunmehr die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Allgemeinverfügung wiederhergestellt. Der Beschluss liegt LTO vor.
IfSG sperrt nicht VersG?
Die Kammer des VG Stuttgart ging in dem Eilverfahren davon aus, dass sich das präventive Verbot und die Zwangsmittelandrohung als rechtswidrig erweisen werden, da die verfassungsrechtlichen Vorgaben der Versammlungsfreiheit nicht ausreichend beachtet wurden. Deshalb überwiegen die Interessen des Antragstellers.
Zugleich betonte das VG jedoch, dass sich die Stadt wohl auf das Versammlungsgesetz und die Corona-Verordnung als Rechtsgrundlage stützen durfte. Zuletzt war in der Rechtsprechung fraglich, welchen Einfluss § 28a Abs. 8 S. 1 Nr. 3 Infektionsschutzgesetz (IfSG) auf das Versammlungsrecht haben könnte. Denn hiernach ist es den Ländern nach dem Ende der sogenannten epidemischen Lage nationaler Tragweite eigentlich untersagt, als mögliche Schutzmaßnahme Versammlungen zu verbieten.
§ 28a Abs. 8 Satz 1 Nr. 3 IfSG sei jedoch an die Gesundheitsbehörden adressiert und als eine das Versammlungsrecht "lediglich ergänzende und bereichsspezifisch konkretisierende" Vorschrift zu verstehen. Die versammlungsrechtliche Befugnisnorm des § 15 Abs. 1 VersammlG werde damit nicht gesperrt, argumentierte das VG. In einem Verfahren in Rheinland-Pfalz hatte das dortige Oberverwaltungsgericht diese Frage noch offen gelassen und - wie schon in der Vorinstanz das VG Neustadt a.d. Weinstraße - erklärt, es handele sich um "schwierige Rechtsfragen".
Verfassungsrechtliche Vorgaben verkannt
Das sah das VG Stuttgart anders: Zwar sei die Allgemeinverfügung voraussichtlich formell rechtmäßig und auch hinreichend bestimmt. Allerdings dürfte die Stadt nach Auffassung der Kammer die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 8 Grundgesetz (GG) verkannt haben.
In dem bloßen Verstoß gegen die Anmeldepflicht liegt aus Sicht der Kammer noch keine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, selbst wenn dieser Verstoß planmäßig erfolgt sei. Zwar sei, auch mit der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit verfassungsrechtlich durchaus zu rechtfertigen, so das VG, insbesondere zum Schutz des Grundrechts Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Mit Blick auf das aktuelle Infektionsgeschehen in Bad Mergentheim fehle es jedoch an einer tragfähigen Gefahrenprognose seitens der Stadt, aus der eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts folge. Nach Auffassung der Kammer hat sich die Stadt auch unzureichend mit milderen Mitteln auseinander gesetzt, wie beispielsweise die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Stadtgebiet.
Im Ergebnis sieht die Kammer also einen voraussichtlichen Verstoß der Stadt gegen die verfassungsrechtlichen Vorgaben der Versammlungsfreiheit. Der Beschluss ist noch nicht rechtskräftig.
VG Stuttgart zu "Corona-Spaziergängen": . In: Legal Tribune Online, 14.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47210 (abgerufen am: 14.11.2024 )
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