Nirgendwo können gefährliche Personen vorsorglich länger inhaftiert werden als in Bayern. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat dies nun akzeptiert. Christian Rath hätte sich dabei aber etwas mehr Orientierung gewünscht.
Präventive Haft ist nicht neu. Als Gewahrsam oder Unterbindungsgewahrsam gibt es sie schon seit Jahrzehnten in allen Polizeigesetzen des Bundes und der Länder. Typische Anwendungsfälle waren gewaltätige Demonstrant:innen, aggressive Fußball-Hooligans und gefährliche Ehemänner.
Zwei Entwicklungen haben den Gewahrsam in den vergangenen Jahren aber ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Zum einen haben viele Länder die maximale Gewahrsamsdauer in den massiv ausgeweitet. Zum anderen wurde dieser verlängerte Gewahrsam im vergangenen Herbst erstmals in großem Umfang gegen eine politische Protestbewegung, die "Letzte Generation", eingesetzt.
Bei beiden Entwicklungen stand Bayern im Mittelpunkt. Dort ist der Gewahrsam am längsten möglich, derzeit bis zu zwei Monate. Und in München wurden im vergangenen November Dutzende Klimaaktivist:innen in Gewahrsam genommen, um neue Straßenblockaden zu verhindern.
Mit großem Interesse wurde daher auf die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs gewartet, der an diesem Mittwoch über eine Popularklage gegen den verlängerten Gewahrsam zu urteilen hatte. Die Richter:innen lehnten die Klage im Kern als unbegründet ab. Die zwei-monatige Maximaldauer in Art. 20 PAG (Bayerisches Polizeiaufgabengesetz) verstoße nicht gegen die Bayerische Verfassung.
Zwischenzeitlich unendlich
Jahrzehntelang lag die Obergrenze in den meisten Bundesländern bei zwei bis vier Tagen Gewahrsam. Bayern lag mit seiner Obergrenze von 14 Tagen auch früher schon an der Spitze.
2017 gab es in Bayern aber eine massive Verschärfung. Von zwei Wochen sollte die Obergrenze auf drei Monate angehoben werden. Und nach drei Monaten sollte der Gewahrsam um weitere drei Monate verlängert werden können, unbegrenzt oft. So wurde es zunächst auch Gesetz.
Doch als die bayerische Landesregierung ein Jahr später mitten im Landtagswahlkampf weitere Verschärfungen einführte, gab es einen großen Aufschrei. Zehntausende demonstrierten in München. Der damals neue Ministerpräsident Markus Söder (CSU) versprach eine Entschärfung und setzte nach der Wahl eine Kommission ein, die eine Absenkung der Maximaldauer auf zwei Monate empfahl. Der bayerische Landtag setzt dies dann im Juli 2021 auch um. Derzeit kann in Bayern also zunächst ein Monat Gewahrsam verhängt werden, der einmal um bis zu einem weiteren Monat verlängert werden kann.
Die Popularklage wurde zu einer Zeit eingereicht, als im Gesetz noch der faktisch unbegrenzte Gewahrsam stand. Es ist nachvollziehbar, dass der bayerische Verfassungsgerichtshof darüber nun nicht mehr entscheiden wollte. Es wäre aber dennoch schön gewesen, einmal schwarz auf weiß zu lesen, dass eine potenziell unendliche Sicherungshaft verfassungsrechtlich (sogar in Bayern) ausgeschlossen ist.
Dass der Verfassungsgerichtshof nun das entschärfte Gesetz gebilligt hat, kommt nach dieser Vorgeschichte nicht ganz überraschend. Gegenüber der zwischenzeitlichen Fassung wirkt die aktuelle Regelung ja tatsächlich irgendwie moderat.
Beruhigung für andere Länder
Die anderen Bundesländer können sich mit ihren verschärften Polizeigesetzen nun also auch auf der sicheren Seite fühlen. Die zweitlängste Obergrenze hat derzeit Nordrhein-Westfalen mit 28 Tagen, dann folgen Baden-Württemberg und Sachsen mit je 14 Tagen.
Den kürzesten Gewahrsam sieht Berlin vor, mit derzeit noch zwei Tagen. Allerdings hat sich die neue große Koalition in Berlin schon auf eine Ausweitung auf fünf Tage verständigt.
In Schleswig-Holstein gibt es formal keine Obergrenze, faktisch wird dort Gewahrsam aber nur für kurze Zeiträume verhängt.
Auf die Dauer kommt es an
Natürlich ist eine Präventivhaft ein denkbar schwerer Grundrechtseingriff. Aber die oft zu hörende Kritik, dass es ein Skandal sei, Leute schon vor einer potenziellen Straftat ins Gefängnis zu stecken, geht am Problem vorbei.
Das Wesen des Polizeirechts ist die Abwehr künftiger Gefahren, auch mittels Grundrechtseingriffen. Diese Eingriffe erfolgen also logischerweise immer, bevor etwas passiert ist. Denn das ist ja gerade ihr Zweck. Und deshalb ist auch ein Unterbindungsgewahrsein kein Fremdkörper im Polizeirecht, sondern eine typische Ultima-ratio-Option.
Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie lange jemand vorsorglich weggesperrt werden kann. Das Argument des Verfassungsgerichtshofs, dass es Gefahren geben kann, die länger als 14 Tage anhalten, kann niemand so einfach vom Tisch wischen. Im Gesetzgebungsverfarhen wurde etwa über drohende Anschläge auf einen Weihnachtsmarkt gesprochen.
Allerdings gibt es natürlich auch Gefahren, die länger als zwei Monate anhalten, etwa drohende Anschläge auf ein dauerhaft eingerichtetes Flüchtlingsheim. Wo also soll die Grenze liegen?
Eine eindeutige verfassungsrechtliche Obergrenze lässt sich wohl nicht bestimmen. Der Verfassungsgeber müsste und sollte sie dezisionistisch selbst festlegen und ins Grundgesetz oder die Landesverfassungen einfügen. Die nun akzeptierten zwei Monate könnte ein für viele politische Kräfte akzeptabler Kompromiss sein.
Die Münchener Verfassungsrichter:innen dürften jedenfalls froh gewesen sein, dass sie mit der zwei-monatigen Obergrenze noch ein Gesetz prüfen mussten, dass sie nicht zwang, selbst eine Grenze zu definieren.
Was ist verhältnismäßig?
Zurecht wies der Verfassungsgerichtshof darauf hin, dass es vor allem um Verhältnismäßigkeit im Einzelfall gehe. Je länger der Gewahrsam anhält, umso schwerwiegender müssen die Gründe für seine Anordnung sein.
Praktisch anwenden mussten sie die naheliegenden Maxime nicht, da es sich ja um eine abstrakte Popularklage gegen das Gesetz handelte und nicht um einen exemplarischen Einzelfall. Diskutabel wäre in Bayern durchaus gewesen, dass Gewahrsam schon zur Vermeidung von Ordnungswidrigkeiten möglich ist. Doch darum ging es diesmal aus prozessualen Gründen nicht.
Fragwürdig ist in Bayern auch, dass Gewahrsam gegen Klimablockierer:innen zu einer Zeit verhängt wurde, als solche Nötigungstaten generell nur mit Geldstrafen geahndet wurden. Das passte nicht zusammen, die vorsorgliche Inhaftierung war hier eindeutig übermäßig.
Doch zu solchen konkreten Problemen der Verhältnismäßigkeit verlor der Verfassungsgerichtshof nun kein Wort. Und die Klimaaktivist:innen haben gegen die jeweiligen Gewahrsamsanordnungen auch nie geklagt, so dass hier kein Gang durch die Instanzen bis zur Klärung in der Sache möglich war.
Vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof wird man in dieser Sache wohl auch so schnell nichts Neues hören, obwohl noch mehrere Verfassungsklagen, u.a. von Grünen und SPD, anhängig sind. Doch die Entscheidung klingt abschließend: Die Münchner Richter:innen haben wohl keine Überraschung im Köcher, die erst in den nächsten Urteilen publik werden soll.
Gewahrsam in Bayern: . In: Legal Tribune Online, 14.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51994 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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