Der EuGH hat das deutsche Modell der Vorratsdatenspeicherung beanstandet, doch viele Möglichkeiten bleiben. Innenministerin und Justizminister bringen sich bereits streitlustig in Stellung. Am Ende könnte mehr Überwachung stehen als viele glauben.
Schon im Vorfeld des EuGH-Urteils gewann das rechtspolitische Raunen in Berlin an Lautstärke. Denn beim Nerd-Thema Vorratsdatenspeicherung, das in seinen Details vor allem die Communities aus Bürgerrechtlerinnen, Netzaktivisten und Ermittler reizt, geht es politisch um was. Das Schicksal der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland ist ein erster sicherheitspolitischer Arbeitsnachweis in der Ampel-Koalition. Dabei könnten die Interessen von Bundesjustizminister und Bundesinnenministerin kaum unterschiedlicher sein.
Für den FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann geht es um nicht weniger als ein Kernstück im bürgerrechtlichen Erbe seiner Partei, das zudem noch eng mit der letzten FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger verbunden ist. Die Vorratsdatenspeicherung dem Namen nach und am besten weitgehend in der Sache zu beerdigen, wäre ein wichtiger Erfolgsnachweis gegenüber der Wählerschaft, die die Partei wegen ihrem Engagement für Bürgerrechte schätzt. "Wir werden die anlasslose Vorratsdatenspeicherung nun zügig und endgültig aus dem Gesetz streichen", twitterte Buschmann nach der Urteilsverkündung. Das Urteil sei "eine erneute herbe Klatsche" für die Befürworter der anlasslosen Speicherung von Daten, denen es bis heute nicht gelungen sei, eine verfassungskonforme Regelung vorzulegen, hieß es von der Grünen-Bundestagsfraktion. Gemeint dürfte damit auch der Koalitionspartner SPD gewesen sein.
Auf der Seite der SPD-Innenministerin Nancy Faeser kann es beim Thema Vorratsdatenspeicherung hingegen nicht um Anerkennung und Wählerschaft aus dem freiheitsrechtlichen Milieu gehen, das haben schon FDP und Grüne mit ihren Positionen bei sich potentiell versammelt. Überwachungskritische Stimmen aus der eigenen Partei sind verstummt. Das Thema gibt der Ministerin Gelegenheit, auf die Anliegen der Sicherheitsbehörden einzugehen, die sich eine Vorratsdatenspeicherung wünschen. Eine gewisse Bringschuld für Anliegen der Sicherheitscommunity bringt der Posten an der Spitze des BMI ohnehin mit sich. Alles was die Innenministerin an anlasslosen Elementen der Vorratsdatenspeicherung in den kommenden Wochen herausverhandeln wird, zahlt ein auf ihr sicherheitspolitisches Standing.
Was nach dem EuGH alles noch geht
So richtig in Fahrt kommt der Streit nun, weil spätestens jetzt ganz deutlich wird, was eigentlich alles an Vorratsdatenspeicherung noch möglich bleibt. Und zwar auch dann, wenn der EuGH stets betont, dass die anlasslose Massenspeicherung nicht mit EU-Recht vereinbar ist. Die Ausnahmen sind aber so weitreichend, dass man die grundsätzliche Absage an die Vorratsdatenspeicherung schon wieder in Zweifel ziehen könnte. Zwar können Betreiber nicht verpflichtet werden, anlasslos in der Breite alle Typen von täglich anfallenden Daten ihrer Nutzerinnen und Nutzer auf Vorrat zu speichern. Für IP-Adressen erlaubt der EuGH aber eine Speicherung in der Breite zur Bekämpfung schwerer Kriminalität (Wirtschaftskriminalität, Organisierte Kriminalität, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung …). Ebenso erlaubt er die Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten an bestimmten Orten wie Verkehrsdrehkreuzen, sowie recht breit die Speicherung von Nutzerdaten.
Quasi wortwörtlich wiederholte Innenministerin Faeser diese Optionen in einem Statement am Dienstag nach dem Urteil mit dem Zusatz, diese rechtlichen Möglichkeiten müssten nun auch genutzt werden. Bislang war aufgrund von Gerichtsentscheidungen in Deutschland genau genommen eine Vorratsdatenspeicherung noch nie so richtig in Kraft gewesen. Sollte es in der Auseinandersetzung zwischen Bundesinnen- und dem federführenden Bundesjustizministerium auf einen Kompromiss hinauslaufen, könnte in Deutschland bald mehr Vorratsdatenspeicherung Realität werden, als so manche gedacht hätten.
Kommentar zum EuGH-Urteil: . In: Legal Tribune Online, 20.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49684 (abgerufen am: 17.11.2024 )
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