Statt mehr Personal zu fordern, sollten Richter und Staatsanwälte zuerst auf sich selbst schauen: Mit effizienteren Arbeitsabläufen ließen sich viele Verfahren schneller und besser erledigen, meint Strafverteidiger Sebastian T. Vogel.
Die Reaktionen auf diesen Kommentar sind absehbar. Ein Rechtsanwalt, was weiß der schon? Ein Lobbyist für seine zahlenden Mandanten. Der soll vor seiner eigenen Türe kehren, angefangen bei diesen langen Schriftsätzen. Und dann die Konfliktverteidigungen. Der ist doch nur frustriert. Einzelfälle. Nicht verallgemeinerbar. Der gibt der Politik ein Alibi für ihren Sparkurs.
Um das vorwegzunehmen: Ich bin seit fast zehn Jahren Strafverteidiger, rede mit Staatsanwältinnen, kenne welche, aktuelle, ehemalige, auch Richter, persönlich. Ich denke mit, ich denke selber. Ich würde mehr Geld verdienen, wenn an den Strafgerichten alles so bleibt, wie es ist, und alles länger dauert, ich Extrarunden drehen darf. Ich blicke durchaus selbstkritisch auch auf meinen Berufsstand, nachzulesen etwa in meinem Aufsatz "Ich, der fehlerhafte Anwalt" (Strafverteidiger Spezial 2023, 82).
Und die Probleme in der Strafjustiz sind systemisch. Sie lassen sich nicht mit immer mehr und immer mehr Personal lösen. Es fehlt an Organisation, Wissen, Mut und Effizienz. Erst wenn Justizverwaltungen, Staatsanwälte und Gerichte ihren Job besser machen und es dann noch hakt, sind die Forderungen nach mehr Personal legitim.
Staatsanwälte müssen sich spezialisieren
Eine Studie fand heraus, dass in Zivilverfahren Anwälte ihren Mandanten von Klagen abraten, obwohl sie in der Sache überzeugt sind – sie schätzen die Erfolgschancen aber mangels Fachwissens auf der Richterseite als zu gering ein. Diese Möglichkeit, auf den Prozess lieber zu verzichten, hat der Beschuldigte im Strafverfahren nicht. Das Problem der fehlenden Spezialisierung ist jedoch das gleiche.
Im Medizinstrafrecht erlebe ich das häufig: Es wird der falsche Gutachter ausgewählt. Fachgleiche Begutachtung? Unbekannt. Es werden dem Gutachter zu wenige Fragen gestellt, die falschen Fragen gestellt. Dem Gutachter wird kein Sachverhalt vorgegeben; der Gutachter darf selbst die Beweise würdigen – was, wenn er es einseitig tut, einen Befangenheitsgrund bedeutet. Das Gutachten wird nicht verstanden. Dem Gutachter werden keine ergänzenden Fragen gestellt. Das Gutachten wird der Verteidigung nicht mitgeteilt, sondern gleich Anklage erhoben. Und manchmal wird ein Gutachten eingeholt, auf das von vornherein verzichtet werden kann. Arzthaftungskammern an Zivilgerichten: können Gutachtenaufträge tendenziell. Staatsanwälte: nicht.
Was folgt? Die Verfahren dauern länger. Ergänzungsgutachten um Ergänzungsgutachten. Falsche Anklagen. Falsche Angebote der Erledigung nach § 153a Strafprozessordnung (StPO). Vertrauensverlust in den Rechtsstaat. Und Mehrarbeit, weil ich als Verteidiger alles erklären muss. Denn Wissen und Entscheidungsmacht sind umgekehrt proportional verteilt. Die Gutachtenfrage ist nur eine unter vielen. Welcher Staatsanwalt ohne Spezialisierung kennt sich aus mit der Aufklärungsdogmatik oder mit der Sperrwirkung des vertretbaren Diagnoseirrtums für den Befunderhebungsfehler? Oder weiß, was dokumentationspflichtig ist und was nicht? Oder hat Zeit, sich einzulesen?
Es braucht Spezialabteilungen. Mehr davon. Ein Kapitalanlagebetrug ist etwas anderes als ein Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen. Es genügt nicht, dass man § 263 Strafgesetzbuch (StGB) beherrscht. In die Spezialabteilungen müssen Spezialisten. Es gibt Vorgebildete, Interessierte, die wollen da hin, statt ihrer werden andere versetzt. Wünsche für die weitere Laufbahn werden abgefragt – aber nicht respektiert, obwohl es möglich wäre.
Weniger rotieren, mehr fortbilden
Die Spezialisten müssen in den Spezialabteilungen bleiben. Es gibt – wenige – Abteilungen für Medizinstrafrecht. Aber nach einem Jahr wird rotiert. Das Wissen rotiert in eine andere Abteilung. Am Anfang der Karriere wird rotiert. Um Karriere zu machen wird rotiert. Meine erste Verfahrensrüge habe ich, als Berufsanfänger, gegen einen klugen Richter gewonnen, der vorher Zivilrichter war, jetzt Vorsitzender einer Zivilkammer ist, der aber zwischenzeitlich Strafrecht machen musste.
Die Spezialisten müssen fortgebildet werden. Spezialabteilungen haben zuweilen keine Bücher. Und keine Zeitschriften. Oder zu wenige. NJW und NStZ reichen nicht. Und Zeit zum Lesen braucht man auch. Und Interesse.
Man kann nicht alles wissen, aber Selbstreflexion wäre gut. Und auf die Verteidigung könnte man auch mal hören. Aber leider wird Nr. 70 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV), wonach der Staatsanwalt dem Verteidiger vor Auswahl eines Sachverständigen Gelegenheit zur Stellungnahme gibt, zu selten ernst genommen – dann könnte der Verteidiger ja Hinweise geben, ob der gewählte Gutachter überhaupt brauchbar ist oder welche Fragen man noch so stellen könnte. Und zu selten wird der richtige Schluss daraus gezogen, dass die Verteidigung mehr Ahnung hat. Macht schlägt Wissen.
Das alles ist kein rein medizinstrafrechtliches Problem. In anderen Bereichen des Strafrechts ist es das gleiche.
Mehrarbeit durch Abarbeiten
Ein weiteres Problem: PEBB§Y, von einer Wirtschaftsberatungsgesellschaft ersonnenes Personalbedarfsberechnungssystem, verlangt eine schnelle Abarbeitung von Akten. Nicht selten führt eine vermeintlich schnelle Abarbeitung zu Mehrarbeit – nur halt bei anderen.
Auch hier ein Beispiel, das ich aus vielen Strafverfahren kenne: Am Anfang des Verfahrens steht eine Rechtsfrage. Die Verteidigung meldet sich, bekommt aber keine Akte. Über ein Jahr nicht. Dann wird durchsucht. Wie überraschend. Dann werden die Akten ausgewertet. Und Finanzermittlungen angestellt. Und Zeugen vernommen. Das alles dauert mindestens ein weiteres Jahr. Irgendwann stellt der nächste mit dem Verfahren befasste Staatsanwalt (der erste ist durch seine Aktion um das Verfahren herumgekommen) fest, dass da ja eine Rechtsfrage zu beantworten ist – und verneint eine Strafbarkeit dem Grunde nach, nachdem er jetzt nicht nur einen Band, sondern sehr viele Bände lesen musste. Auf die zuvor angestellten und ressourcenverschwenden Ermittlungen kam es nie an.
Es werden Verfahren nach § 153 StPO wegen Geringfügigkeit eingestellt, um keine Einstellungsbegründung schreiben zu müssen, obwohl § 170 Abs. 2 StPO (fehlender hinreichender Tatverdacht) einzig richtig wäre. Tut ja keinem weh. Obwohl: "Im Wiederholungsfall kann Ihr Mandant mit einer nochmaligen Einstellung des Verfahrens nicht mehr rechnen." Passiert noch mal was, hindert die falsche erste Entscheidung eine zeitsparende Opportunitätseinstellung, wenn wirklich etwas dran ist beim zweiten Mal. Und, übrigens, nicht bei jedem Vorgehen nach §§ 153 f. StPO muss man ein Gericht involvieren (§§ 153 Abs. 2 S. 2, 153a Abs. 1 S. 7 StPO).
Es wird zuweilen zu schnell Anklage erhoben – die Anklage vertreten wird ja ein anderer Sitzungsvertreter. Und Zwischenverfahren werden nicht häufig genug genutzt: Lieber drei Tage Hauptverhandlung als drei Stunden Nichteröffnungsbeschluss – da könnte sich ja jemand beschweren.
Empathie und Effizienz
Und dann gibt es die Fälle, in denen sich die Justiz selber unsinnige Arbeit sucht. In Berlin gab es zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen die Soloselbstständigen, die, um ihre Existenz fürchtend, Corona-Hilfen beantragt hatten – und diese innerhalb von zwei Wochen freiwillig und ohne, dass sie zuvor dazu aufgefordert worden waren, zurückzahlten. Tätige Reue nach einem Betrug? Vielmehr, wenn man etwas Empathie aufbringen mag, ein Ausweis von Fahrlässigkeit bei der Beantragung in einer nie dagewesenen existenziellen Krise. Bei lebensnaher Betrachtung bestand nie ein Anfangsverdacht – die Menschen hatten in Existenzangst schnell gehandelt und dann einen erkannten Fehler korrigiert, aber keinen Betrug begangen. Wer sich einmal in einen Menschen, der in solch einer Lage ist, hineinversetzt, hätte kein Verfahren eingeleitet. Und erst recht nicht tausende.
Fazit: Würden Staatsanwältinnen und Richter dort eingesetzt, wo ihre Stärken liegen, und gäbe es mehr spezialisierte Kräfte in der Justiz – und seien sie auch nur mit einem Teil ihrer Arbeitskraft in der Spezialmaterie tätig –, ginge die Arbeit schneller. Es gäbe weniger Anklagen, weniger Hauptverfahren, man bräuchte weniger Strafrichterinnen – und der Nachwuchs könnte vermehrt bei den Staatsanwaltschaften eingesetzt werden. Und wie viel Geld und Zeit z. B. die vielen unnützen Ergänzungsgutachten etwa im Medizinstrafrecht sparen würden.
Und wenn diese – sicheren! – Effizienzsteigerungen dann immer noch nicht helfen, erst dann ist der Ruf nach mehr Personal gerechtfertigt.
Dr. iur. Sebastian T. Vogel, HCO, ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in der auf das Strafrecht spezialisierten Kanzlei FS-PP Berlin Part mbB. Er bearbeitet dort u. a. den Bereich Medizin- und Arztstrafrecht sowie das Politikstrafrecht und ist fast ausschließlich im Ermittlungs- und im Zwischenverfahren tätig.
Die Justiz braucht nicht mehr Personal, sondern Effizienz: . In: Legal Tribune Online, 06.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51924 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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