Auftakt im KapMuG-Musterverfahren: Geld zurück für Wire­card-Aktio­näre?

von Stefan Schmidbauer

22.11.2024

Zehntausende Anleger haben mit Wirecard-Aktien Geld verloren und fordern Schadensersatz. Das Bayerische Oberste Landesgericht soll in einem KapMuG-Verfahren grundsätzliche Fragen klären.

Gut viereinhalb Jahre sind seit der Insolvenz vergangen. Parallel zum Strafprozess um den ehemaligen CEO Markus Braun läuft auch die zivilrechtliche Aufarbeitung des Wirecard-Komplexes. Zentrales Element: Ein Kapitalanleger-Musterverfahren, zu dem ab Freitag vor dem 1. Zivilsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) mündlich verhandelt wird (Az. 101 Kap 1/22).

Aus Platzgründen weicht das Gericht an den Sitzungstagen in die Wappenhalle in München-Riem aus. Dort soll der Senat um die Vorsitzende Andrea Schmidt über einen Vorlagebeschluss des Landgerichts (LG) München I aus dem März 2022 (Az. 3 OH 2767/22) entscheiden, der von der Kanzlei TILP erwirkt wurde. Tilp hatte sich seit Mai 2020 um die Einleitung eines Musterverfahrens nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) bemüht.

Rund 19.000 Aktionäre haben sich dem Verfahren auf der Grundlage des KapMuG angeschlossen. Über weitere 8.500 Klagen von Wirecard-Anlegern, die noch beim LG anhängig sind, wird erst nach dem Abschluss des Musterverfahrens entschieden. Vorab soll geklärt werden, wer für den Niedergang von Wirecard verantwortlich gemacht werden kann und wer für daraus entstandene Schäden haftet.

Kritik am Vorlagebeschluss

Beklagt sind elf Unternehmen bzw. Personen. Ihre größte Hoffnung setzen die Anleger auf EY, deren deutsche Wirtschaftsprüfungsgesellschaft die Bilanzen von Wirecard testiert hat. Bei den übrigen Beklagten, darunter auch Markus Braun und dessen Vermögensverwaltungsgesellschaft sowie weitere ehemalige Wirecard-Manager, dürfte wenig bis nichts zu holen sein.

EY wird unter anderem Beihilfe zu unterlassenen und falschen Ad-hoc-Mitteilungen sowie zu falschen Geschäftsberichten von Wirecard vorgeworfen. Haften müsste das Unternehmen, wenn bei der Bilanzprüfung (fahrlässig oder vorsätzlich) Pflichtverletzungen begangen wurden (§ 323 Abs. 1 Handelsgesetzbuch (HGB)). Bei Fahrlässigkeit ist die Haftung auf vier Millionen Euro pro Jahresabschluss begrenzt (§ 323 Abs. 2 HGB).

Eine Entschädigung können geschädigte Anleger erwarten, wenn der Nachweis gelingt, durch falsche Informationen zum Aktienkauf verleitet worden zu sein. Im Fall Wirecard könnten das – die mutmaßlich frei erfundenen – Gewinne aus Geschäften in Asien sein, die in den Bilanzen des Konzerns verbucht wurden. Die Abschlussprüfer von EY hatten die entsprechenden Bilanzen bestätigt. Entscheidende Rechtsfrage: sind Bestätigungsvermerke und Unterschriften von Abschlussprüfern in Bilanzen öffentliche Kapitalmarktinformationen und wurden Anleger vorsätzlich in die Irre geführt? (§ 1 Abs. 1 KapMuG).

Zunächst prüft das Gericht aber erst einmal ob die Vorwürfe gegen die Beklagten überhaupt im Rahmen eines Kapitalanleger-Musterverfahrens verhandelt werden können. Begonnen hat der Prozess am Freitag mit einer deutlichen Missbilligung des Vorlagebeschlusses durch die Senatsvorsitzende: “Die juristische Qualität des Vorlagebeschlusses ist, sehr vorsichtig formuliert, äußerst dürftig”, so Schmidt. Das LG habe viel zu allgemein formuliert, es dürfe aber nicht unklar bleiben, welche Informationen im Einzelnen falsch gewesen sein sollen. “Es fehlt jegliche Konkretisierung.”

Klägervertreter rechnet mit vergleichsweise schnellem Abschluss

Als Musterkläger für das Verfahren wurde im März 2023 Kurt Ebert bestimmt, der mit einem Wirecard-Investment nach eigenen Angaben mehr als eine halbe Million Euro verloren hat. Vertreten wird Ebert durch die Münchener Kanzlei Mattil und Dr. Elmar Vitt. Rechtsanwalt Peter Mattil erwartet "ein vergleichsweise schnelles Urteil" das seiner Einschätzung nach "innerhalb der nächsten Jahre möglich ist". Wenn das Verfahren zügig weiterlaufe, werde das keine zwanzig Jahre dauern. Es hänge auch viel von den Anwälten ab.

Man habe die Feststellungsziele mit 800 Seiten Begründung eingereicht – "Darunter sind sehr viele Pflichtverletzungen von EY, die wir einzeln dargelegt und beschrieben haben", so Mattil. Die vorgelegten Feststellungsziele sind der Katalog der Vorwürfe gegen die Beklagten, die im Musterverfahren geprüft werden. 

EY vertritt weiterhin die Ansicht, dass "Ansprüche gegen EY Deutschland auf Schadenersatz nicht bestehen". Die Schadensersatzklagen bewerte man als unbegründet, so ein Unternehmenssprecher.

Die Abschlussprüferaufsicht Apas kam nach einer Untersuchung zur Einschätzung, dass EY und einzelne Mitarbeitende bei der Prüfung der Wirecard-Abschlüsse der Jahre 2016 bis 2018 Berufspflichten verletzt haben und verhängte ein Bußgeld.

Aktionärsschützer üben Kritik, das Gericht kontert

Die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) teilt Mattils Optimismus bezüglich einer schnellen Klärung nicht: "Es sind seit Einreichung der ersten Klage über viereinhalb Jahre vergangen, bis wir eine erste mündliche Verhandlung haben, und das auch nur zur Klärung einer Teil-Vorfrage … Unser Eindruck ist, da sollen die Kläger durch Frustration und Langwierigkeit demotiviert werden.", so SdK-Vorstandsmitglied Marc Liebscher.

Das Gericht verweist auf die Komplexität des Verfahrens mit der Vielzahl von Beteiligten und Forderungsanmeldungen. "Schon angesichts dessen ist der geschilderte Vorwurf nicht nachvollziehbar", sagte ein Sprecher. Mittlerweile hätten der Musterkläger und weitere Verfahrensbeteiligte insgesamt an die 2.500 weitere Feststellungsziele formuliert. Mit Blick auf die gesetzliche Konzeption des Kapitalanleger-Musterverfahrens und die Dimension des Wirecard-Falls geht auch das Gericht davon aus, “dass eine Verfahrensdauer in erster Instanz von mehreren Jahren unvermeidbar erscheint.”

Mit Material der dpa (Text aktualisiert am 22.11.24 um 15.30 Uhr)

Beteiligte Kanzleien

Zitiervorschlag

Auftakt im KapMuG-Musterverfahren: . In: Legal Tribune Online, 22.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55925 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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