Das Open-House-Verfahren des BMG: Wer die Tür weit auf­macht, muss auch alle rein­lassen

Gastkommentar von Dr. Friedrich Ludwig Hausmann

24.09.2020

Zu Beginn der Corona-Pandemie hat das Gesundheitsministerium in ganz großem Stil Schutzausrüstung beschafft und dazu das Open-House-Verfahren genutzt - das dazu aber gar nicht geeignet ist, wie Friedrich Ludwig Hausmann zeigt.

Seit Monaten berichten die Medien darüber, dass die Beschaffung von medizinischer Schutzausrüstung seitens des Bundesgesundheitsministeriums (BGM) durch ein sogenanntes Open-House-Verfahren – vorsichtig ausgedrückt - zu erheblichen Turbulenzen geführt hat. Die Rede ist von überforderter Logistik und davon, dass ein erheblicher Teil der gelieferten Schutzmasken nicht oder jedenfalls nicht innerhalb der im Vertrag versprochenen sieben Tage bezahlt wurde. 

Beim Landgericht (LG) Bonn sind dem Vernehmen nach fast 50 Klagen auf Bezahlung der Waren anhängig, am Freitag wird in einem ersten Verfahren verhandelt. Zugleich lässt das Ministerium verlautbaren, erhebliche Teile der Lieferungen seien mangelhaft oder unbrauchbar. Nach jüngsten Presseberichten erkennt der Bund nur bei lediglich 400 der abgeschlossenen 738 Verträge seine Zahlungspflicht an. Obendrein ist vor dem Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf in zweiter Instanz ein Streit darüber anhängig, ob es bei der Direktvergabe der Vertragsabwicklung an Ernst & Young - Volumen 9,5 Millionen Euro - mit rechten Dingen zugegangen ist. Denn ein förmliches Vergabeverfahren hatte das BMG nicht durchgeführt.

Open House: Ein Verfahren außerhalb des Vergaberechts

Wenig Augenmerk lag bisher auf der Frage, auf welchem Wege die Beteiligten in das zumindest sehr aufwändige, wenn nicht gar teure Desaster geschliddert sind und ob das gewählte Open-House-Verfahren überhaupt geeignet war, den vom Bund vermuteten Beschaffungsengpass bei medizinischer Schutzausrüstung zum Zeitpunkt der rapiden Ausbreitung von Covid-19 in Deutschland und weltweit sinnvoll zu überwinden. 

Das sogenannte Open-House-Verfahren ist eine höchst eigentümliche, aber auch sehr einfache Form der Beschaffung: Der Auftraggeber lobt im Rahmen einer allgemein zugänglichen Veröffentlichung die Beschaffung eines bestimmten Vertragsgegenstandes zu einem zuvor festgelegten Preis und definierten Vertragsbedingungen aus. Er verpflichtet sich zugleich, mit jedem Anbieter, der sich fristgerecht meldet, die Bedingungen zur Beteiligung am Verfahren erfüllt, vertragsgemäße Waren anbieten kann und bereit ist, die Vertragsbedingungen einschließlich des Preises zu akzeptieren, einen entsprechenden Vertrag abzuschließen. 

Die Rechtsprechung des EuGH und mit ihm die deutschen Beschwerdeinstanzen sind zu dem Schluss gekommen, dass ein solches Vorgehen kein Vergabeverfahren im Sinne der Europäischen Vergaberichtlinien ist, solange es in dem Verfahren zu keiner Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen geeigneten und lieferwilligen Anbietern kommt. Sie hält das Vorgehen unter dieser wesentlichen Bedingung auch für zulässig (vgl. EuGH, Urt. v. 02.06.2016, C-410/14, Rz. 38 f.- Dr. Falk Pharma GmbH; EuGH, Urt. v. 01.03.2018, C-9/17 Rz. 35 – Tirkkonen; OLG Düsseldorf Beschl. v. 31.10.2018, Rz. 69  - Verg 37/18). Das Ganze kann also außerhalb der Regularien des Vergaberechts stattfinden.

Mit Open House gelingt es, in engen Märkten die Preise zu deckeln

Zum Einsatz gekommen ist das Verfahren bislang vor allem im Bereich der Beschaffung bestimmter Arzneimittel durch die Krankenkassen. Und zwar solcher Medikamente, für die es dank sehr hoher Markteintrittsbarrieren wegen Patentschutzes bzw. extrem aufwändiger Entwicklungskosten und Zulassungsverfahren, geringer Preis- bzw. Qualitätsdifferenzierung und gleichzeitig sehr begrenzter Absatzmöglichkeiten nur ganz wenige Anbieter gibt. Dort hatten Ausschreibungen die Oligopolisierung bzw. Monopolisierung des Marktes befördert bzw. angesichts mangelnden Wettbewerbs zu einer ausufernden Preisentwicklung geführt. 

Im Rahmen von Open House konnten die Auftraggeber die emporschießenden Preise deckeln und gleichzeitig jeden lieferfähigen und lieferwilligen Anbieter über gleichlautende Rahmenverträge im Markt halten. Die Gefahr, mit Angeboten "überschwemmt" zu werden, besteht in diesem Segment gerade nicht. Es besteht in der Regel auch keine überzogene Eile. Leistungsbeschreibung und Qualitätsanforderungen sowie deren Beurteilung können klar bestimmt und überprüft werden, bevor die Produkte entgegengenommen und bezahlt werden müssen. Andere Nachfrager gibt es nur wenige. 

Mit anderen Worten: Open House kam mit einigem Erfolg in Situationen zur Anwendung, in denen aufgrund der extrem schwierigen Rahmenbedingungen die Märkte versagten.

Schutzausrüstung jedoch ist ein Massengeschäft

Bei genauer Betrachtung liegt die Beschaffung von einfacher medizinischer Schutzausrüstung völlig außerhalb dieser Rahmenbedingungen. Für die Produkte gibt es weltweit unzählige Hersteller. Eine Vielzahl nationaler Händler und Importeure sah sich sofort aufgefordert und in der Lage, die Waren zu beschaffen. Tatsächlich fanden sich neben etablierten Händlern solcher Schutzausrüstung ganz schnell auch Privatleute und "Start Ups", die ihre Geschäftschance in den durchaus "lockenden" Preisen witterten. Das BMG stellte zum Beispiel 4,50 Euro für eine FFP2-Maske in Aussicht, die wenige Wochen vorher in Asien noch für wenig mehr als 1 Euro pro Stück beschafft werden konnte. 

Der Preis für die Schutzausrüstung war aufgrund der weltweit starken Nachfrage sicherlich rapide in die Höhe geschossen. Aber anders als im engen Oligopol des speziellen, wenig nachgefragten Medikaments unterlag er eben auch rasanten Schwankungen. Es mangelte tatsächlich gar nicht am Angebot, auch wenn geheimnisvolle Berichte über Aufkäufer der US-Regierung dies der öffentlichen Meinung suggerierten. Der Markt reagierte und sprudelte Masken hervor. Goldgräberstimmung, aber eine solche ist eben kein Marktversagen.

Zur Katastrophe musste es dann kommen, als das Angebot an real zu liefernden Waren die tatsächliche Aufnahmebereitschaft des Beschaffers bei weitem überschritt. Und so scheint es hier schon in der tatsächlichen Logistik der Warenannahme gewesen zu sein, wenn man den öffentlichen Aussagen hierzu Glauben schenken kann. Indiz dafür ist auch die Begründung der hastigen Entscheidung zugunsten des Beraters EY im Rahmen einer Direktvergabe: Man habe ja nicht ahnen können, dass sich so viele Lieferanten zum Open House meldeten. 

Wie bei einer Facebook-Party: Absehbar, dass es eskaliert!

Ein Geburtsfehler des offensichtlich eher misslungenen Geschehens war also schon, dass man das Open-House-Verfahren zur Beschaffung von Produkten wählte, von denen es am Markt grundsätzlich unendliche viele gibt. Die gröbste Fehleinschätzung der Beschaffer und ihrer Berater lag wohl darin, dass sie Marktversagen unterstellten. Quod non. Nun nahm das Unheil seinen Lauf. Denn wer die Tür zu seinem Haus aufmacht, muss auch damit rechnen, dass alle kommen. Wenn das Haus dafür zu klein ist, gibt es offensichtlich ein Problem. 

Neben der begrenzten Logistik hat die Sache auch einen rechtlichen Haken. Das Haushaltsrecht erlaubt dem Staat eben nicht, so viel zu kaufen, wie er bekommen kann. Vielmehr darf er nur so viel einkaufen bzw. dafür ausgeben, wozu ihn der durch das Parlament freigegebene Haushalt, und sei dies auch ein Notfall-Corona-Haushalt, ermächtigt. Bei Open House kann es aber – wie man sieht – dazu kommen, dass mehr Verträge geschlossen werden (müssen), als Geld dafür zur Verfügung steht. 

Und damit kommt es dann zur Kollision zwischen Haushaltsrecht bzw. dem Haushaltsvorbehalt des Bundestages und dem Vertragsrecht. Alles in allem gleicht das Open House, das sich an jedermann richtet, damit einer Facebook-Party: Es ist absehbar, dass es eskaliert! Denn man wird die Gäste nicht mehr los, die sich alle zu Recht eingeladen fühlen dürfen, auch wenn dem Gastgeber das Geld für die Drinks schon längst ausgegangen ist. Pacta sunt servanda. 

Anforderungen und Vertragsbedingungen waren sehr freizügig gestaltet

Hätte man das verhindern können, ohne auf Open House zu verzichten? Vielleicht. Jedenfalls wäre es weise gewesen, die Anforderungen an Lieferanten und Produkte sowie die Vertragsbedingungen deutlich weniger freizügig zu gestalten. Die Leistungsbeschreibung und auch der Vertrag enthielten nur extrem rudimentäre Anforderungen. 

Zur Frage, wer denn zur großen Party geladen war, gab es keinerlei Vorgaben. Muss man sich also wundern, wenn – ungeachtet von Bonität und Erfahrung – jedermann kommt? Und muss man sich wundern, dass jedes denkbar unter die rudimentären Anforderung passende Produkt angeboten wird, wenn man rein gar nichts dazu in die Leistungsbeschreibung aufnimmt, nach welchen Kriterien bzw. anerkannten Verfahren die Produkte auf ihre Tauglichkeit hin überprüft werden sollen?

Der Bund hat egozentrisch gehandelt

Schließlich kann man das Vorgehen des Bundes nur als extrem egozentrisch bezeichnen. Man übersah offenbar völlig, dass es auch noch viele andere Beschaffer im Lande gibt, die ebenso genötigt und verpflichtet waren, der Pandemie mit Schutzausrüstung zu trotzen. Wenn vermittels Open House ein Beschaffer alle Anbieter mit einem attraktiven Preis anspricht, ist es nicht erstaunlich, dass diese einen solchen Preis auch bei allen parallel laufenden Ausschreibungen anderer Nachfrager fordern. Warum weniger verlangen, wenn man alle seine Ware auch für mehr im Open House anbieten kann?

Hier sei nichts gesagt zu der Frage, wer in den Verfahren vor den Zivilgerichten am Ende Recht bekommt. Aber es steht heute schon fest, dass die Open-House-Party nicht nur den typischerweise überforderten Gastgeber und die enttäuschten Gäste zurücklässt, sondern auch genervte Nachbarn. Ganz wie im richtigen Leben. Und obendrein wegen des Verstoßes gegen die Haushaltshoheit des Parlaments noch verfassungswidrig. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass das Open House-Verfahren in der Rechtsgeschichte des Vergabewesens bisher nur eine Fußnote bildet und kein Regelverfahren.

Angesichts des enormen Kollateralschadens, der nicht nur in rekordverdächtigen Honoraren für die Aufräumarbeiten besteht, sondern auch zahlreiche bisher unbezahlte Anbieter mehr oder weniger arglos ins Verderben rennen ließ, fragt man sich, wie jemand auf so eine Idee kommen konnte. Wie beim törichten Jugendlichen, der seine "kleine Geburtstagsparty" mal ganz groß bei Facebook rausposaunen will, ging es vielleicht gar nicht um die Party (Beschaffung), sondern um die große Geste. 

Der Autor Dr. Friedrich Ludwig Hausmann ist Partner bei GSK Stockmann in Berlin. Er berät Unternehmen, Regierungen und öffentliche Stellen im Vergabe-, Beihilfe- und Kartellrecht.

Kanzlei des Autors

Zitiervorschlag

Das Open-House-Verfahren des BMG: . In: Legal Tribune Online, 24.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42896 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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