Kim Lars Mehrbrey hat sich als junger Anwalt auf einen Bereich spezialisiert, der in Wirtschaftskanzleien damals nicht sehr hoch angesehen war: Er ist Prozessanwalt. Wie sich das Rechtsgebiet verändert hat und was er jungen Associates rät.
LTO: Herr Dr. Mehrbrey, Sie hatten ihren Berufsstart vor fast 20 Jahren als Anwalt in einer Großkanzlei. Waren Sie damals schon Litigator?
Dr. Kim Lars Mehrbrey: Nein, ich habe in den ersten drei Berufsjahren vor allem Corporate/M&A gemacht. Litigation nur in Ausnahmefällen, obwohl ich daran viel Spaß hatte. Die meisten Wirtschaftsanwälte waren sich einig: Prozesse zu führen hat ja jeder im Studium gelernt, dafür braucht es keine Spezialisten. Die meisten Anwälte in Großkanzleien hatten damals entweder keine Robe oder haben diese im Schrank versteckt – für mich gehörte sie aber immer zum Anwaltsdasein fest dazu.
Das Nischendasein der Prozessanwälte in großen Kanzleien galt eigentlich bis zum Wegfall der Singularzulassung im Jahr 2000. Denn bis dahin durfte eine Kanzlei ihren Mandanten ohnehin nur in der ersten Instanz vertreten und musste für die nächste Instanz eine OLG-Kanzlei hinzuziehen. Deshalb gab es in den Wirtschaftskanzleien nur wenige Prozess-Spezialisten. Es war für viele schlicht nicht vorstellbar, dass ein Anwalt dauerhaft erfolgreiches Geschäft betreiben kann, indem er nur Prozesse führt. Damals hatte man allerdings nur selten die großen Fälle gesehen, die es heute gibt.
"Die Kanzlei wollte mehr reine Prozessanwälte"
Heute sind Sie der Gegenbeweis für diese Annahme: Als reiner Prozessanwalt wurden Sie Partner einer Großkanzlei. Wie kam es dazu?
2003 wechselte ich in eine kleinere deutsche Sozietät und bin da offene Türen eingerannt mit meinem Vorhaben, nur Litigation zu machen. Dort baute Dr. Jürgen Witte, ein hervorragender Prozessanwalt, gerade eine Prozesspraxis auf. Es machte großen Spaß, entwickelte sich prächtig und nach einigen Jahren hatten wir das Gefühl, eine Weiterentwicklung wäre in einer größeren und internationalen Einheit besser möglich. So wechselte das Team schließlich im August 2007 zu Lovells, heute Hogan Lovells. Inzwischen hatte ein Umschwung eingesetzt und Litigation war auch in den großen Sozietäten salonfähiger geworden.
Bei Lovells gab es zu der Zeit schon eine Praxisgruppe für Konfliktlösung. Die Kanzlei wollte den Bereich reiner Prozessanwälte weiter ausbauen. Zwar gab es damals noch nicht die Spezialisierungen, die sich bis heute herausgebildet haben. Der Bereich gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, den ich vor allem begleite, kristallisierte sich jedoch damals schon heraus. Inzwischen fasert sich dieser Bereich immer weiter auf, weitere Spezialisierungen werden nötig - und ein Ende ist nicht absehbar.
Warum haben die Großkanzleien Litigation plötzlich ernst genommen?
Dazu trugen wohl mehrere Entwicklungen bei. Zunächst denke ich, hat es in tatsächlicher Hinsicht mit der Auflösung der sogenannten Deutschland-AG zu tun. Damals gab es viele Querverbindungen in den Chefetagen der großen Konzerne, fast jeder kannte jeden. Sich gegenseitig zu verklagen war unüblich, man hat eher über Differenzen gesprochen und sie ohne gerichtliche Hilfe beigelegt oder ganz von der Durchsetzung der Ansprüche abgesehen.
In rechtlicher Hinsicht kam hinzu, dass die Gerichte Ende der 1990er Jahre bestätigt haben: Wer Ansprüche nicht geltend macht, kann seine Pflichten verletzen. Inzwischen wird von den Anteilseignern viel genauer darauf geschaut. Zudem ist die Organisation der Unternehmen professioneller geworden, immer mehr betreiben ein systematisches Claim Management.
Ein weiterer Aspekt ist etwas, das ich die Amerikanisierung der Anwaltslandschaft nenne: Es gibt mehr globale Streitigkeiten, auch angetrieben durch Prozessfinanzierer, die zunehmend Geld in den europäischen Markt pumpen, und reine Klägerkanzleien. Außerdem nehmen Organhaftungsansprüche und in letzter Zeit Post-M&A-Streitigkeiten zu. Hier spielen Versicherungen eine wichtige Rolle. Vielen fällt es leichter, Ansprüche gegen einen Versicherer geltend zu machen, als einen Geschäftspartner direkt zu verklagen. Auch gibt es jetzt mehr "Sammelklagen" nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) und Musterfeststellungsklagen oder durch Bündelung von Ansprüchen.
Im Bereich Corporate Litigation sehen wir Wanderbewegungen: Wenn Schlupflöcher geschlossen werden, weichen professionelle Kläger aus und suchen neue Ansatzpunkte. Und es sind völlig neue Bereichen entstanden wie Kartellschadensersatz, wo wir viele Fälle sehen, auch getrieben durch die gerade genannten Gründe.
"Mich reizt die klassische Auseinandersetzung"
Was gefällt Ihnen an der Arbeit als Prozessanwalt?
Mich reizen die entgegengesetzten Standpunkte, die klassische Auseinandersetzung. Man arbeitet viel mit dem Gesetz – es geht darum, sich mit der überzeugenderen Argumentation und besseren Rechtskenntnis durchzusetzen. Wer Litigation macht, ist immer auf dem Prüfstand. Es ist ein wenig wie im Sport. Jeder kleine Fehler kann den Erfolg kosten. Das ist ein besonderer Kick. Nicht von ungefähr haben viele Litigator früher Wettkampferfahrung gesammelt. Ich habe selbst die unterschiedlichsten Sportarten betrieben – von Kampfsport über Mannschaftssportarten bis zum Schach als Denksport. Die absolute Fokussierung, das strategische Denken und ein Stück weit sicherlich auch die Leidensfähigkeit, die man dabei über die Jahre erwirbt, kommen einem in der Prozessführung zugute. Auch kann man nur als gut funktionierendes Team gewinnen. Für Einzelkämpfer sind die Prozesse regelmäßig zu komplex.
Haben Sie Lieblingsfälle?
Ich mag jeden Fall, denn jeder ist anders und eine neue Herausforderung. Es gibt Fälle, die mich emotional stärker mitnehmen als andere, etwa in Gesellschafterstreitigkeiten – gerade in Familienunternehmen –, wenn es sehr persönlich wird oder wenn es um die wirtschaftliche Existenz des Mandanten geht. Auch thematisch gibt es immer wieder neue Wellen, derzeit haben wir beispielsweise viel mit Schadensersatzansprüchen in Cum-Ex-Fällen zu tun. Es macht mir Spaß, mich in ein neues Thema reinzuackern, man lernt in Randbereichen immer noch etwas Neues dazu.
Das Schöne ist: Es kommt keine Routine auf. Erfahrung ja, aber Langeweile nicht. Es gibt diese abgedroschene Redensart, wonach man auf See und vor Gericht in Gottes Hand ist. Ein Stück weit ist sie zwar richtig, denn letztlich kann niemand vorhersagen, wie das Gericht entscheiden wird. Es ist aber kein reines Schicksal. Wir Prozessanwälte arbeiten daran, für unsere Mandanten die Wahrscheinlichkeit zu verbessern, zu gewinnen – nur die letzte Sicherheit, die gibt es nie. Immer wieder kommt es zu überraschenden Wendungen in Verfahren, etwa wenn neue Dokumente oder Zeugen auftauchen.
"Für junge Anwälte ist es schwer, als Spezialisten wahrgenommen zu werden"
Würden Sie einem Berufsanfänger raten, sich auf Litigation zu spezialisieren?
Litigation ist sicherlich noch ein Wachstumsmarkt. Er ist auch wenig Zyklen unterworfen. Denn in Krisenzeiten wird eher mehr geklagt als in wirtschaftlich guten Zeiten.
Allerdings sehe ich neuerdings mancherorts auch ein Qualitätsproblem. Viele springen derzeit auf den Zug auf, weil sie das große Geschäft mit bestimmten Prozessen wittern. Dabei unterschätzen sie aber die Komplexität. Generell sollten junge Juristen ihrem Bauchgefühl und ihrer Leidenschaft folgen, und nicht das tun, von dem sie sich einen wirtschaftlichen Erfolg erhoffen. Denn wenn einem der Bereich ansonsten keinen Spaß macht, wird man auch nicht besonders gut darin werden.
Mich jedenfalls hat Litigation gepackt. Ein Selbstläufer ist es nicht, seinen Ruf in diesem Bereich aufzubauen. Gerade für junge Anwälte ist es schwer, als Spezialisten für ein bestimmtes Gebiet wahrgenommen zu werden. Sie müssen ein dickes Brett bohren und durch Prozesserfolge sowie möglichst auch durch Veröffentlichungen und Vorträge erreichen, dass sie sich einen Namen in diesem Rechtsgebiet aufbauen. Dabei wird man unweigerlich Höhen und Tiefen erleben – das hält man nicht durch, wenn man nicht dauerhaft für das Thema brennt.
Dr. Kim Lars Mehrbrey ist Partner bei Hogan Lovells in Düsseldorf und auf gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten spezialisiert. Er ist Herausgeber des "Handbuch Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten - Corporate Litigation" und des "Handbuch Streitigkeiten beim Unternehmenskauf", die beide beim Informationsdienstleister Wolters Kluwer erscheinen, zu dem auch LTO gehört.
Spezialgebiet Prozessführung: . In: Legal Tribune Online, 13.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40735 (abgerufen am: 17.11.2024 )
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