Das LG München I hat die Nichtigkeit der Wirecard-Bilanzen für 2017 und 2018 festgestellt. Das Urteil könnte weitreichende Auswirkungen auf gezahlte Dividenden sowie anhängige Klagen gegen EY nach sich ziehen.
Die Bilanzen des Unternehmens Wirecard für die Jahre 2017 und 2018 sind ebenso wie die darauf fußenden Beschlüsse der Hauptversammlungen zur Gewinnverwendung nichtig. Das hat die auf aktienrechtliche Fragestellungen spezialisierte 5. Kammer für Handelssachen des Landgerichts (LG) München I festgestellt (Urt. v. 05.05.2022; Az. 5 HK O 15710/20).
Die Kammer gab am Donnerstag einer Klage des Insolvenzverwalters Michael Jaffé gegen die Wirecard AG statt. Jaffè hatte darin die Überbewertung der Wirecard-Bilanz im Jahr 2017 auf 743,6 Millionen und 2018 auf 972,6 Millionen Euro beziffert.
Existenz der fehlenden Milliarden nicht ausschlaggebend
Wirecard war 2020 nach dem Eingeständnis von Scheinbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro zusammengebrochen. Der frühere Vorstandschef Markus Braun sitzt seit bald zwei Jahren in Untersuchungshaft. Wirecard hatte 2017 und 2018 hohe Gewinne von zusammen mehr als 600 Millionen Euro ausgewiesen und einen zweistelligen Millionenbetrag an Dividenden ausgeschüttet. Das Unternehmen existiert mittlerweile nur noch als rechtliche Hülle, die kein Geschäft betreibt und weder Vorstand noch Aufsichtsrat hat.
Ob die fehlenden Milliarden überhaupt vorhanden sind oder nicht, war für das Urteil nicht ausschlaggebend, wie der Vorsitzende Richter Helmut Krenek erläuterte. Um die Bilanzen für nichtig zu erklären, genügte laut Gericht die Feststellung, dass das Geld nicht dort auffindbar war, wo es laut Wirecard verbucht wurde: auf Treuhandkonten in Singapur.
"Wenn es die Gelder gegeben hätte, hätten sie auch dort gefunden werden müssen", sagte Krenek. "Wenn in zwei Jahren 1,9 Milliarden Euro fehlen, dann ist an der Wesentlichkeit des Fehlers eigentlich kein Zweifel anzunehmen." Und weil die Wirecard-Bilanzen falsch waren, seien als "zwingende Folge" auch die Dividendenbeschlüsse der Hauptversammlungen 2018 und 2019 nichtig, führte Krenek weiter aus.
Markus Braun: "Das Geld ist 'irgendwo ganz anders'"
Sollte das Urteil rechtskräftig werden, könnte der Insolvenzverwalter die von Wirecard für die beiden Jahre gezahlten Dividenden in zweistelliger Millionenhöhe zurückfordern, ebenso von Wirecard gezahlte Steuern.
Ein Hauptnutznießer der Dividendenbeschlüsse war Markus Braun, der als Großaktionär rund acht Prozent der Wirecard-Anteile hielt. Der Insolvenzverwalter macht in einer Stellungnahme zum Urteil dann auch deutlich, welche Zielgruppe er im Hinblick auf mögliche Rückforderungen im Visier hat: "Klein- und Privatanleger werden insoweit nicht maßgeblich berührt sein", teilte Jaffès Kanzlei mit*.
Das Urteil ist gleichzeitig eine Steilvorlage für inzwischen mehr als 1.000 Klagen von Aktionärinnen und Aktionären, die sich durch die Wirecard-Insolvenz wirtschaftlich geschädigt sehen, gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY. EY hatte die Wirecard-Bilanzen geprüft und testiert.
Die Aktionärsvereinigung DSW sieht mit dem Urteil gestiegene Erfolgschancen für Klagen gegen EY. Nach der Argumentation von ehemaligen Chefs von Wirecard, Markus Braun, sei das Geld "irgendwo ganz anders", sagte DSW-Vizepräsidentin Daniela Bergdolt nach der Urteilsverkündung. "Aber auch dann ist die Buchhaltung, die Buchführung von Wirecard grottenfalsch gewesen. Auch das hätten sie" - die EY-Prüfer - "dann merken müssen."
sts/LTO-Redaktion mit Material der dpa
*Ergänzung am 05-05-22 um 15-20 Uhr.
Mögliche Rückforderung von Dividendenausschüttungen: . In: Legal Tribune Online, 05.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48349 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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