Milliardenklagen von Anlegern: Pro­zess­auf­takt im Mus­ter­ver­fahren

10.09.2018

VW und der Abgas-Skandal - eine fast unendliche Geschichte. Aktionäre fordern nun Schadenersatz in Milliardenhöhe. Bekommt Volkswagen nun die nächste Abgasrechnung präsentiert? Das Musterverfahren am OLG Braunschweig soll Klarheit bringen.

"Dieselgate" lässt Volkswagen noch immer nicht los. Allein in Nordamerika haben Vergleiche den Autoriesen mehr als 25 Milliarden Euro gekostet - und jetzt steht in Deutschland ein Showdown im Mammut-Rechtsstreit mit Anlegern bevor. Die mündliche Verhandlung am Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig beginnt an diesem Montag - Aktionäre fordern im Musterverfahren Schadenersatz in Milliardenhöhe für erlittene Kursverluste. Die entscheidende Frage ist: Hat VW die Märkte zu spät informiert?

In dem Rechtsstreit geht es aber immer auch um die wohl spannendste Frage zum Abgas-Skandal: Wer wusste wann was im VW-Konzern? Dabei geht es laut Klägeranwalt Andreas Tilp weniger darum, ob der frühere Konzernlenker Martin Winterkorn Bescheid wusste. Auch wenn Manager der Ebene darunter Mitwisser waren, werde dies dem Konzern zugerechnet.

Mit der Ende Februar eingereichten Klageerwiderung im Musterverfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) stellt Volkswagen vor allem klar: Es gab aus der Sicht des Konzerns keine konkreten Anhaltspunkte für eine Kursrelevanz der Affäre, bis die US-Umweltbehörden am 18. September 2015 unerwartet mit ihren Anschuldigungen an die Öffentlichkeit gingen. Demnach ging der heutige Volkswagen-Aufsichtsratschef und frühere Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch noch kurz vor Bekanntwerden des Abgasskandals in den USA von Risiken von höchstens 150 Millionen Euro aus.

Ist VW seinen Pflichten gegenüber Investoren nachgekommen?

In dem Braunschweiger Verfahren, das ursprünglich für April angesetzt war, soll jetzt geklärt werden, ob VW seinen Pflichten gegenüber Investoren nachgekommen ist. Und dem Vernehmen nach ist Pötsch auch bereit, in dem Verfahren auszusagen.

Tilp betont, spätestens im Juni 2008 hätte Volkswagen zum Thema Diesel-Abgasreinigung und geltenden US-Stickoxidnormen sinngemäß veröffentlichen müssen: "Wir haben es nicht geschafft." Danach habe VW betrogen - und weil die Anleger das nicht wussten, hätten sie Aktien zu teuer gekauft.

Worum geht es eigentlich genau? Die Richter müssen beurteilen, ob VW die eigenen Investoren rechtzeitig über die Affäre rund um millionenfachen Betrug mit manipulierten Dieselmotoren informiert hat. Unmittelbar nach Aufdeckung des Skandals durch die US-Behörden Ende September 2015 brach nämlich der Kurs der VW-Aktie ein - zeitweise verloren die Vorzugspapiere des Konzerns fast die Hälfte ihres Werts. Anleger erlitten heftige Verluste.

Ad-hoc-Pflicht setzt erhebliches Kursbeeinflussungspotenzial voraus

Nun meinen Großinvestoren wie die Sparkassentochter Deka, die als Musterklägerin auftritt, dass VW den Kapitalmarkt zu spät informiert hat. Was steckt dahinter? Laut Gesetz müssen Nachrichten, die den Firmenwert beeinflussen können, umgehend (ad hoc) veröffentlicht werden. Das habe Volkswagen versäumt, ist Klägeranwalt Tilp sicher.

In der VW-Klageerwiderung heißt es allerdings, die Ad-hoc-Pflicht setze "ein erhebliches Kursbeeinflussungspotenzial der betreffenden Information voraus". Eine solche Kursrelevanz sah bei dem Autobauer demnach niemand.

Der Konzern stützt sich auf eine Risikoprüfung, die er im August 2015 von der US-Wirtschaftskanzlei Kirkland & Ellis erhielt. Darin heißt es zwar, der Konzern werde wohl nicht ohne Strafen davonkommen. Aber: Das höchste - bis dahin - je verhängte Bußgeld habe Hyundai mit rund 91 Dollar pro Auto gezahlt. Der Vergleich habe die Südkoreaner 2014 insgesamt 100 Millionen Dollar gekostet. Damit geben die Juristen weitgehend Entwarnung in der Frage der finanziellen Gefahr: "Das Luftreinhaltegesetz führt zwar sehr hohe Maximalstrafen auf, aber diese gesetzlichen Höchstwerte haben keine direkte Relevanz für Fälle, die eine wesentliche Anzahl an Fahrzeugen betreffen."

VW: Strafzahlungen in zweistelliger Milliardenhöhe haben keine Kapitalmarktrelevanz

VW erwartete laut Klageerwiderung denn auch, dass sich Strafzahlungen vermutlich im Rahmen der bisherigen Behördenpraxis bewegen würden. Das würde eine Größenordnung bedeuten, die bei Erlösen von mehr als 200 Milliarden Euro im Geschäftsjahr 2014 und Rückstellungen für Gewährleistungen und Kulanzen - ebenfalls im Jahresabschluss 2014 - in zweistelliger Milliardenhöhe laut Dokument keine Relevanz für den Kapitalmarkt hätte.

Ohnehin hätte der Vorstand nach VW-Ansicht den sogenannten Weg der Selbstbefreiung von der Ad-hoc-Pflicht wählen können - der schwebenden Behördengespräche wegen. Auch dies weist Tilp zurück - VW habe eine staatliche Untersuchung in den USA durch "permanentes Leugnen und Verschleiern des wahren Sachverhalts" torpediert, heißt es in einem entsprechenden Schriftsatz. Mit Verhandeln habe das nichts zu tun.

Laut VW-Klageerwiderung verdichteten sich erst von Mai 2015 an auch auf der Führungsebene des Konzerns die Hinweise darauf, dass es "ein Problem mit US-Behörden wegen Emissionen" gebe. Hintergrund war, dass die Behörden die Zulassung von Dieselfahrzeugen des Modelljahres 2016 von einer plausiblen Erklärung der Stickoxidwerte der im Markt befindlichen Fahrzeuge abhängig machten.

Erste "ad-hoc"-Mitteilung erst am 22. September

Dann kam der vielzitierte "Schadenstisch" am 27. Juli 2015 mit unter anderem dem damaligen Vorstandschef Winterkorn: Nicht mitgeteilt worden sei dort aber, dass es um eine nach US-Recht unzulässige Abschalteinrichtung (defeat device) der Abgasreinigung gehen könne, geht aus der Klageerwiderung hervor. Am 18. September 2015 kam es nach Einschätzung der VW-Juristen zu einem Paradigmenwechsel: Damals veröffentlichten die US-Behörden ihre "Notice of Violation" - für den Vorstand laut Klageerwiderung unerwartet und im Gegensatz zur bisherigen Bußgeld- und Verwaltungspraxis. Am 22. September verschickte VW die erste "ad-hoc"-Mitteilung und gab bekannt, rund 6,5 Milliarden Euro für die Bewältigung zur Seite zu legen.

Sollte Tilp sich vor Gericht durchsetzen, könnte dies VW Milliarden kosten. In 1.645 Schadenersatzklagen werden Forderungen von knapp vier Milliarden Euro geltend gemacht. Im Kern geht es darum, zentrale Rechtsfragen sämtlicher Fälle vorab von der nächsthöheren Instanz verbindlich entscheiden zu lassen - noch bevor ein Urteil der niedrigeren Instanz vorliegt. Dafür wird aus den ähnlich gelagerten Klagen ein Fall als Exempel herausgegriffen, die übrigen anhängigen Klagen (hier am Landgericht (LG) Braunschweig) werden ausgesetzt. Insgesamt liegen im Fall von VW 1.668 Klagen über fast neun Milliarden Euro vor.

Liegt der Musterentscheid vor, ist er für die Gerichte in allen zuvor ausgesetzten Verfahren bindend. Da das KapMug gewissermaßen nur zentrale Fragen vorab klären lässt, ist es nicht mit Sammelklagen zu vergleichen, die etwa das US-Rechtssystem kennt (class action). In den USA müssen Kläger nicht ihren individuellen Schaden nachweisen, sondern nur ihre Zugehörigkeit zur betroffenen Gruppe (class). Trotzdem wird der Abgas-Skandal damit nicht beendet sein. Wie immer es ausgeht – "es geht zum Bundesgerichtshof, egal wer gewinnt oder verliert", meint Tilp.

dpa/mgö/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

Milliardenklagen von Anlegern: . In: Legal Tribune Online, 10.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30837 (abgerufen am: 16.11.2024 )

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