Bayer und die Schadensersatzprozesse: Wende im Gly­phosat-Kom­plex durch das Schaffner-Urteil?

von Jürgen Ostertag

18.10.2024

Mit 172.000 Klagen war Bayer wegen eines glyphosathaltigen Unkrautvernichters konfrontiert. Noch immer sind knapp 60.000 Fälle offen. Ein US-Gericht klärt zwei wichtige Fragen.

Im Mai 2016 verkündete Bayer die Pläne für einen Kauf des US-Unternehmens Monsanto. Es dauerte mehr als zwei Jahre, bis die 66 Milliarden Dollar schwere Übernahme vollzogen werden kann. Nie zuvor hat ein deutsches Unternehmen eine solche Summe für einen Zukauf ausgegeben. Intensiv diskutiert wurde damals nicht nur über den Kaufpreis, sondern vor allem über die rechtlichen Risiken in Bezug auf das Unkrautvernichtungsmittel Roundup. Das von Monsanto seit Ende der 1970er-Jahre vertriebene Produkt enthielt lange Zeit Glyphosat.

Die Internationale Agentur für Krebsforschung (International Agency for Research on Cancer, IARC) veröffentlichte schon im Jahr 2015 Befunde, nach denen Glyphosat als wahrscheinlich krebserregend für Menschen einzustufen sei. Es folgte eine Welle von Klagen gegen Monsanto/Bayer in den gesamten Vereinigten Staaten auf Entschädigung für Krebserkrankungen, die angeblich durch die Verwendung von Roundup verursacht wurden.

Seit 2016 ist das Bundesbezirksgericht von Kalifornien das zentrale Gericht für Roundup-Sammelklageverfahren für Fälle von Nicht-Hodgkin-Lymphom-Erkrankungen. Diese Klagen wurden mit der Verletzung einer Warnpflicht begründet, obwohl die US-Behörde Environmental Protection Agency (EPA) wiederholt die Notwendigkeit eines Warnhinweises verneint hatte. 

Bis heute musste Bayer insgesamt circa 10 Milliarden Dollar Schadensersatz zahlen. Seit 2023 bietet das Unternehmen für den US-Privatkundenmarkt Roundup nur noch ohne Glyphosat an. Insgesamt wurden rund 172.000 Klagen eingereicht, mehrere Zehntausend davon sind immer noch nicht abgeschlossen. Eine kürzlich verkündete Gerichtsentscheidung könnte wieder Bewegung in den Komplex bringen.

Die Schaffner-Entscheidung

Das US-Berufungsgericht des dritten Bezirks (US Federal Court of Appeals for the 3rd Circuit) entschied am 15. August 2024 im Fall Schaffner einstimmig, dass Klagen wegen unterlassener Warnung auf Ebene der US-Bundesstaaten durch Bundesrecht ausgeschlossen sind. Einen Antrag des Klägers auf erneute Prüfung des Urteils lehnte das Gericht am 24. September ab. Die Entscheidung könnte eine Wende in den Roundup-Sammelklageverfahren rund um Glyphosat in den USA einleiten.

Nach gegenteiligen Entscheidungen der Berufungsgerichte des neunten und des elften Bezirks traf das Berufungsgericht des dritten Bezirks in der Sache Schaffner gegen Bayer zwei entscheidende Feststellungen: Es entschied, dass es maßgeblich auf die Genehmigung von Roundup und die Einstufung von Glyphosat als "wahrscheinlich nicht krebserregend" durch die EPA ankommt. Und es stellte fest, dass die bundesrechtlichen Vorgaben zur Kennzeichnung des Roundup-Produkts entsprechende landesrechtliche Vorgaben ausschließen. Nach dem Bundesgesetz zur Regulierung von Pestiziden (Federal Insecticide Fungicide and Rodenticide Act, FIFRA) dürfen die US-Bundesstaaten die von der EPA festgelegte Kennzeichnungspflicht von Pestiziden nicht verändern.

Das Berufungsgericht des dritten Bezirks geht detailliert auf die zentrale Frage ein, ob FIFRA als Bundesgesetz den einzelstaatlichen Vorschriften zur Kennzeichnung von Pestiziden in Pennsylvania vorgeht. Nach dem FIFRA ist die EPA befugt und verpflichtet, die Art und Umfang der Kennzeichnung und der Warnhinweise der Pestizide vorzugeben, um sicherzustellen, dass sie den Gesundheits- und Sicherheitsstandards des FIFRA entsprechen.

Die EPA hat den Vertrieb von Roundup mit einer bestimmten Kennzeichnung genehmigt und nach einer umfassenden Prüfung auf der Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Daten entschieden, dass eine Krebswarnung für Roundup nicht erforderlich ist. Jede Abweichung von der vergebenen Kennzeichnung ist, so das Berufungsgericht, nach dem FIFRA genehmigungspflichtig. Sollte also der Hersteller oder eine Landesbehörde der Ansicht sein, dass die Kennzeichnung ergänzt oder geändert werden muss, müsste eine entsprechende Änderung bei der EPA beantragt werden. Damit regele das FIFRA die Materie nicht nur abschließend, sondern bestimme auch ausdrücklich den Vorrang von Bundesrecht. Eine parallele Anwendung von Bundes- und Bundesstaatenrecht sei hinsichtlich der Kennzeichnung damit ausgeschlossen.

Auf dieser Grundlage entschied das Berufungsgericht des dritten Bezirks, dass Pennsylvanias Warnpflicht, die das Hinzufügen einer Krebswarnung erfordern würde, durch FIFRA ausgeschlossen ist. Das Gericht hob das Urteil des District-Gerichts in Pennsylvania auf, das eine Verletzung der bundesstaatlichen Warnpflicht bejaht hatte. Deliktrechtliche Ansprüche, die sich auf fehlende Warnhinweise auf Pestizidetiketten beziehen, sind nach dem Urteil ausgeschlossen, wenn sie über das hinausgehen, was die EPA vorschreibt.

Abweichung zu bisheriger Rechtsprechung

Die Entscheidung Schaffner gegen Bayer ist deshalb so bedeutsam, weil sie von den zwei vorherigen Entscheidungen der anderen Bundesberufungsgerichte zur gleichen Rechtsfrage wesentlich abweicht. Bisher wurde der Anwendung von FIFRA kein Vorrang gegeben. Das Gericht im Fall Schaffner gegen Bayer hielt fest, dass die anderen Bundesberufungsgerichte FIFRA falsch ausgelegt haben. Der Vorsitzende Richter Chagares betonte, dass FIFRA bundesweit einheitliche Pestizidetiketten vorschreibt und Pennsylvania deshalb daran gehindert ist, Bayer eine Krebswarnungspflicht aufzuerlegen.

Das Urteil bekräftigt die weitreichende Wirkung der FIFRA-Vorschriften und schließt die Möglichkeiten der US-Einzelstaaten aus, zusätzliche oder andere Kennzeichnungsstandards für Pestizide vorzuschreiben. Es ist das erste Mal, dass Monsanto/Bayer mit ihren Argumenten zur Ausschlusswirkung der FIFRA-Kennzeichnungsvorgaben Erfolg haben.

Revision vor dem US Supreme Court möglich

Die Abweichung in der Rechtsprechung der Bundesberufungsgerichte eröffnet die Möglichkeit, eine Prüfung durch den Obersten Gerichtshof der USA (US Supreme Court) zu beantragen. Ein solcher Antrag (writ of certiorari) muss innerhalb von 90 Tagen nach dem Urteil gestellt werden. Wissen muss man, dass der Oberste Gerichtshof nur einem geringen Prozentsatz den eingereichten Anträgen stattgibt – in 2022 wurden nur 1.4% der writ of certiorari positiv beschieden.

Es spricht einiges dafür, dass sich der US Supreme Court hier mit der rechtlichen Problematik befassen wird. Denn die Urteile der drei Bundesberufungsgerichte divergieren in einer rechtlichen Frage, die sich nicht nur unmittelbar auf die Verwaltungspraxis in Sachen Kennzeichnungspflicht auswirkt, sondern auf den Ausgang von hunderten noch anhängigen Klagen. Darüber hinaus tangiert die Entscheidung auch die derzeit in mehreren Verfahren anhängige Frage nach den Kompetenzen der Verwaltungsbehörden und dem Verhältnis zwischen Verwaltung und Judikative.

Der US Supreme Court hat vor kurzem in Sachen SEC gegen Jarkesy das Recht der SEC, zivilrechtliche Sanktionen zu verhängen, als eine Verletzung des Rechts auf ein Jury-Verfahren gesehen. 2022 hob der Supreme Court im Fall West Virginia gegen EPA aufgrund mangelnder gesetzlicher Autorisierung die EPA-Richtlinien zu Kohlenstoff-Emissionen auf. 

Erst vor kurzen hoben die Obersten Bundesrichter in der Sache Loper gegen Raimondo auch die sogenannte Chevron-Doktrin auf, nach der Gerichte bei Mehrdeutigkeit oder Unvollständigkeit von Gesetzen eine sinnvolle Auslegung der Regulierungsbehörde dieser Gesetze akzeptieren müssen. Das Gericht hielt fest, dass die Auslegung von Gesetzen ureigenste Domaine der Gerichte sei und daher der Auslegung durch die Behörden kein Vorrang gebühre.

Die Zulassung einer Revision im Fall Schaffner gegen Bayer würde dem Supreme Court eine weitere Gelegenheit geben, die Kompetenzen und das Zusammenwirken der drei Gewalten zu konkretisieren bzw. weiter auszugestalten. Inwieweit sich eine Entscheidung des Supreme Court zu den Rechten von Behörden positiv für Bayer auswirken wird, lässt sich nicht voraussagen.

Angesichts des Trends der Einschränkung der Rechte von Bundesbehörden spricht aber einiges dafür, dass der Supreme Court der Argumentation des Bundesberufungsgerichts für den dritten Distrikt nicht folgen wird. Aber auch wenn das Urteil nicht durch eine Revision aufgehoben wird, hat es nur bindende Wirkung für die Gerichte in den Bundesstaaten Pennsylvania, Delaware und New Jersey und das US-Territorium der Virgin Islands.

Damit ist kein schnelles Ende der Schadensersatzprozesse absehbar. Allerdings stärkt dieses Urteil Bayers Position in Vergleichsverhandlungen, insbesondere mit Klägern, die nicht in Bezirken des neunten und elften Bundesberufungsgerichts (Alaska, Arizona, Kalifornien, Hawaii und Guam und Alabama, Florida and Georgia) ansässig sind.

Jürgen OstertagJürgen Ostertag ist Partner der Kanzlei Tarter Krinsky & Drogin in New York. Er wurde von Rechtsreferendarin Andjela Rasovic und Rechtsreferendar Leon Henselder bei der Erstellung des Artikels unterstützt.

Zitiervorschlag

Bayer und die Schadensersatzprozesse: . In: Legal Tribune Online, 18.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55640 (abgerufen am: 25.10.2024 )

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