Zerstörte Gerichtssäle, Stromausfälle, Akten vor dem Vormarsch retten: Wie arbeiten ukrainische Richter während des Kriegs? Und wie kommt es, dass die Zahl der Gerichtsverfahren seitdem steigt? Serhii Sachenko hat die Antworten.
Dass ein Richter seine Verhandlung unterbrechen muss wegen Luftalarm, das gehört zum Alltag in der ukrainischen Justiz. Genauso wie ein Kläger, der eine Frist versäumt, weil in seiner Region geschossen wird. Gerichtsalltag trifft auf Krieg. Der Angriff Russlands hat seit 2022 auch die Justiz in der Ukraine erheblich beeinträchtigt. Besonders im Osten der Ukraine, wo die Kämpfe am intensivsten sind. Über 100 Gerichte wurden durch Raketen und Drohnenangriffe beschädigt, 16 davon wurden vollständig zerstört. Einige Gerichte mussten ihre Arbeit einstellen, weil die Gebiete von russischen Truppen besetzt wurden. Gerichtsakten mussten eilig abtransportiert werden.
Um die Rechtsprechung unter diesen Bedingungen sicherzustellen, musste die Ukraine Gerichte in "relativ" sichere Regionen verlegen. Die örtliche Zuständigkeit kann vom Obersten Gerichtshof per Anordnung geändert werden. Auch in den "relativ" sicheren Gebieten arbeiten Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte unter belastenden Bedingungen. Aber irgendwie muss auch während eines Kriegs Recht gesprochen werden, Streitigkeiten vor Gericht gelöst werden. Je länger der Krieg dauert, umso mehr muss sich auch die Justiz in diesem Zustand einrichten.
Während des Kriegs sind in der Ukraine weiter nur Gerichte tätig, die bereits verfassungsgemäß geschaffen wurden. Die Einrichtung von Notstands- oder Sondergerichten ist unzulässig. Das bedeutet, dass die Rechtsprechung nach den üblichen Verfahrensregeln erfolgen muss.
Seit Kriegsbeginn steigt die Zahl der Gerichtsverfahren
Obwohl seit dem Beginn der großangelegten Invasion am 24. Februar 2022 etwa 6,5 der rund 38 Millionen Bürger die Ukraine verlassen haben, ist die Zahl der neuen Fälle bei den Gerichten erheblich gestiegen. Im Jahr 2023 stieg die Arbeitsbelastung der Gerichte nach amtlichen Angaben um 35 Prozent im Vergleich zu 2022. Dieser Trend setzt sich auch im Jahr 2024 fort.
In der Strafjustiz steigen die Fälle im Zusammenhang mit mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen. Außerdem nehmen bei den Zivilgerichten Verfahren zu, die wegen zerstörter Häuser, Fabriken, Autos geführt werden. Im Jahr 2023 wurden über 150.000 Klagen auf Schadensersatz gegen Russland wegen Kriegsschäden bei ukrainischen Gerichten eingereicht. Das ergibt sich aus Zahlen der Gerichtsverwaltung.
Dabei besteht eine prozessuale Besonderheit. Eigentlich muss ein Kläger den Beklagten ordnungsgemäß über seine Ansprüche informieren. Also sich eigentlich an russische Schädiger wenden. Im Jahr 2022 hat der Oberste Gerichtshof in der Ukraine entschieden, dass solche Klagen vor ukrainischen Gerichten verhandelt werden können, auch ohne ordnungsgemäße Benachrichtigung Russlands.
In der Hoffnung auf zukünftige Entschädigungen von Russland versuchen ukrainische Bürger, alle erlittenen Schäden zu dokumentieren und Beweise zu sammeln. Viele Ukrainer hoffen, dass sie mit entsprechenden gerichtlichen Entscheidungen nach dem Krieg von der Ukraine und der internationalen Gemeinschaft für ihr verlorenes Eigentum oder ihre Geschäftsausfälle erhalten.
Dennoch ist dies eher eine Frage für die Zukunft. Das Problem der Schadensersatzleistungen ist auf internationaler Ebene noch ungelöst. Große Geldsummen des Aggressorstaates Russland sind auf Konten in Europa und weltweit eingefroren. Die Europäische Union hat bisher keine rechtlichen Grundlagen für die Beschlagnahme der eingefrorenen russischen Vermögenswerte auf ihrem Gebiet gefunden und wie sie an die Ukraine übertragen werden könnten. Befürchtet wird, dass solch eine Entscheidung von Russland erfolgreich angefochten werden könnte. Stattdessen wurde jedoch eine andere politische Entscheidung getroffen - die Gewinne aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten sollen für die Wiederaufbauarbeit der Ukraine verwendet werden. Ob dieser Mechanismus wirklich funktionieren wird oder nicht, bleibt abzuwarten.
Bei ihren Klageverfahren begegnet den Bürgerinnen und Bürger wieder die Spannung aus Verfahrensvorschriften und Kriegszustand. In Ausnahmefällen kann der Krieg auch eine gerissene Frist rechtfertigen. Wenn die Umstände direkt auf Kriegshandlungen zurückzuführen sind und dokumentiert wurden, zum Beispiel bei Beschuss oder wegen Zerstörung des Eigentums, kann das Gericht sie fristwahrend anerkennen. Der bloße Umstand, dass Krieg herrscht, ist jedoch keine automatische Grundlage für die Wiederherstellung solcher Fristen. Am Ende bleibt es eine Einzelfallentscheidung des Richters.
Der ukrainischen Justiz geht das Personal aus
Der Krieg hat auch personell das ukrainische Justizsystem erheblich beeinträchtigt. Viele Richter und Verwaltungsangestellte des Justizsystems mussten ihre Arbeitsplätze aufgrund der Kampfhandlungen verlassen. Laut Statistik der Justizbehörden hat das Justizsystem seit Kriegsbeginn mehr als ein Drittel seines Personals verloren. In einigen Regionen in der Ost-Ukraine erreicht der Personalmangel sogar 50 Prozent, was die Fähigkeit der Gerichte, Fälle rechtzeitig zu bearbeiten, erheblich beeinträchtigt.
Überdies gehen viele Richter in den Ruhestand, und bis 2025 sind keine neuen Richterernennungen zu erwarten. Dies könnte zu einem Kollaps des Systems führen, warnen aktive Richter. Ohnehin ist die Besetzung von Richterposten in der Ukraine ein langwieriges Unterfangen, Kandidaten durchlaufen ein aufreibendes Auswahlverfahren und warten nicht selten Jahre auf ihren Posten.
Bereits auf die Ausschreibungen für Stellen bewerben sich nicht genügend Kandidaten, was auf die sinkende Beliebtheit des Richterberufs hinweist. Dies ist sowohl auf die aufreibenden Auswahlverfahren sowie die negative Einstellung der Gesellschaft gegenüber Richtern zurückzuführen.
Das ohnehin wegen Korruption beschädigte Ansehen der Justiz hat während des Kriegs weiter gelitten. Laut Umfragen sind über 60 Prozent der Ukrainer der Meinung, dass Korruption in den Gerichten das größte Problem darstellt. Laut einer Studie von der US-Entwicklungsbehörde USAID aus dem Jahr 2021, vertrauen nur 10 Prozent der befragten Ukrainer dem Gerichtssystem. Und das obwohl mehr als 70 Prozent von ihnen nie an einem Gerichtsverfahren teilgenommen haben. Das Vertrauen wird offenbar vor allem durch einzelne spektakuläre Korruptionsskandale auch unter prominenten Richterpersönlichkeiten erschüttert.
Der Weg vom Assistenten zum Richter ist in der Ukraine sehr steinig, und nur wenige schaffen es. Weiterhin ist das offizielle Monatsgehalt der Richterassistenten in den örtlichen Gerichten so niedrig (250 bis 600 Euro), dass Richter oft gezwungen sind, ihren Untergebenen zusätzlich inoffizielle Gehälter aus eigener Tasche zu zahlen, um vielversprechende Mitarbeiter zu halten. Nach EU-Standards sind solche Bedingungen natürlich inakzeptabel und schaffen enorme Korruptionsrisiken.
Digitalisierung sichert Arbeitsfähigkeit der Justiz
Die Neuverteilung von Richtern, die in den vorübergehend besetzten Gebieten nicht arbeiten können, auf Gerichte im übrigen Land sowie die Übertragung von Fällen zwischen den Gerichten helfen, das System am Laufen zu halten. Dies sind jedoch nur Übergangslösungen. Auch während des Kriegs werden neue Richter eingestellt. Im Sommer 2024 hat Präsident Zelenskyj einen Erlass unterzeichnet, der die Ernennung von 248 neuen Richtern vorsieht.
Um die Arbeitsfähigkeit der Gerichte während des Kriegs sicherzustellen, wurden eine Reihe von Reformen eingeführt. Die Stabilität des Justizsystems während des Kriegs lässt sich auch auf Digitalisierung zurückführen. Eingeführt wurde die Möglichkeit von Videokonferenzsystem für Gerichtsverhandlungen bereits während der Coronapandemie. Rechtsanwälte können ihre Dokumente auf der Plattform "Elektronisches Gericht" hochladen und per Videokonferenztechnik an Gerichtsverhandlungen teilnehmen. Leider sind noch nicht alle ukrainischen Gerichte dafür ausreichend ausgestattet. Es gibt nicht nur Probleme mit der technischen Ausrüstung, sondern auch mit ständigen Stromausfällen und Internetstörungen.
Ausgerechnet im Krieg verfügt die Ukraine nicht mehr über eine eigene Militärgerichtsbarkeit. Spezialisierte Gerichte, die eigentlich dazu berufen sind, über Streitigkeiten der Soldaten etwa zu ihren Versorgungsansprüchen und denen ihrer Angehörigen, zu Verwaltungsfragen, zu disziplinar- oder strafrechtlichen Angelegenheiten zu entscheiden. Versucht jemand, zu desertieren oder Militärgüter zu unterschlagen, sind eigentlich Militärgerichte am Zug. Dieser Gerichtszweig wurde 2010 abgeschafft, die Fälle den ordentlichen, zivilen Gerichten zugeschlagen. Nun wird diskutiert, ob die Gerichtsbarkeit wieder aufwendig eingeführt werden soll. Bis dahin belasten die Fälle die ordentliche Gerichtsbarkeit zusätzlich.
Europäisierung der ukrainischen Justiz?
Vor dem Kriegsbeginn war es der Ukraine gelungen, teilweise eine Justizreform durchzuführen. Sie begann mit einer vollständigen Neubesetzung des Obersten Gerichtshofs. Aus einem Bewerberkreis von bekannten und erfolgreichen ukrainischen Richtern, Anwälten, Partnern von Anwaltskanzleien und Rechtswissenschaftler wurden 200 Richter für das höchste Gericht ausgewählt. Die Reform der anderen Gerichtsinstanzen, der Berufungsgerichte und der erstinstanzlichen Gerichte, blieb jedoch aus. Die Reform wird es nach dem Ende des Kriegs wieder in Gang kommen. Und wie zuvor wird dieser Prozess unter genauer Beobachtung der Europäischen Union stattfinden.
Tatsächlich spielen internationale Partner heute eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung der Justizreform in der Ukraine. Sie leisten nicht nur finanzielle Hilfe, sondern helfen auch bei der Formulierung von Strategien und der Bewertung des Fortschritts der Reformen. Insbesondere wird das ukrainische Justizsystem durch die Empfehlungen des Europarats und der Venedig-Kommission bewertet. Man kann faktisch sagen, dass eine Europäisierung des Rechtssystems der Ukraine stattfindet. Die Hauptakzente liegen auf der Stärkung der Unabhängigkeit der Richter, der Transparenz und Effizienz der Gerichtsverfahren, der Einführung hoher ethischer Standards im Richterberuf und der Erhöhung seiner Verantwortlichkeit. Es ist wichtig, dass die Ukraine die Erfahrungen anderer Länder berücksichtigt, die den Weg zur EU-Mitgliedschaft bereits erfolgreich gegangen sind.
Der Autor Serhii Sachenko, hat als Rechtsjournalist für ukrainische Medien gearbeitet, u.a. auch als Chefredakteur von Jurliga.ua und Pravo.ua. Er ist in der Ukraine als Rechtsanwalt zugelassen und war auch als Referent im ukrainischen Justizministerium tätig. Seit 2022 lebt er in Deutschland.
Wie die Justiz in der Ukraine arbeitet: . In: Legal Tribune Online, 08.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55169 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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