Auch im Jahr 2018 schreiben noch Deutschlands Richter mit, was sie im Strafprozess für wichtig halten. Was anachronistisch und irrational anmutet, ist im deutschen Rechtssystem tief verwurzelt. Und ließe sich doch recht einfach ändern.
Wenn man Jurastudenten erklärt, auf welcher Grundlage ein deutscher Strafrichter an den Land- und Oberlandesgerichten sein Urteil fällt, stößt man bestenfalls auf Unverständnis. Im Bereich schwerer bis schwerster Kriminalität schreibt kein Protokollant mit, was die Zeugen aussagen. Keine Kamera zeichnet auf, wie sie dabei wirken, keine Diktat-Software fängt das Zittern in ihrer Stimme ein. Selbst Richter aus anderen Staaten und Rechtsordnungen, vor allem aus solchen mit Common-Law-Hintergrund, können kaum glauben, dass es im deutschen Strafprozess der Richter ist, der sich Stichpunkte macht; über das, was ihm in diesem Moment wichtig vorkommt.
Von diesem ungläubigen Staunen der richterlichen Kollegen berichtete Bertram Schmitt bei der 17. Jahrestagung der Neuen Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) am Freitag in Frankfurt am Main. Schmitt ist der einzige deutsche Richter am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag. Dafür ist er beurlaubt von seinem eigentlichen Job am Bundesgerichtshof (BGH), wo er seit 2005 als Revisionsrichter tätig war. Zuvor leitete er u.a. zwei Straf- und eine Jugendkammer in der hessischen Justiz. "Ich habe das immer so hingenommen, als ich noch in Deutschland arbeitete", erzählt er. Und zitiert einen IStGH-Kollegen aus dem englischsprachigen Raum mit den Worten "Wie kann man denn so etwas von einem Richter erwarten?" Schließlich sei das der Job eines Protokollanten, jedenfalls "eines Richters unwürdig".
Was man mit Aufzeichnungen machen kann
Der deutsche Jurist argumentiert traditionell anders. Er hält die Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung, eine der wichtigsten Maximen des Strafprozesses, für stärker gewährleistet, wenn der Richter live mitschreibt – das, was er wahrnimmt; das, was er für wichtig hält.
In Den Haag dagegen, wo die großen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt werden, zeichnen stets acht Kameras und mehrere Mikrofone die Verhandlung auf, erzählt Schmitt. Darüber hinaus verfasst ein Protokollführer ein Wortlautprotokoll, das als Arbeitsgrundlage für die Richter diene: So können sie bei der Vorbereitung auf eine Zeugenaussage Informationen sammeln und sichten, ganz gezielt Rückfragen danach stellen, worauf eine aufgezeichnete Befragung sie gebracht hat. Bei der Beratung können sie sich jederzeit rückversichern, ob ihre Erinnerung an eine bestimmte Aussage sie nicht trügt.
Ein Protokoll ist aber auch Arbeitsgrundlage für die Verteidiger oder die Staatsanwaltschaft für die Rechtsmittelinstanz. Auf seiner Grundlage können sie schwerwiegende Rechtsfehler rügen, bekommen also ein Mittel an die Hand, um richterlichen Fehlern auf einer rationalen, objektivierten Basis zu begegnen. Die Sorge, dass bei einer derart solchen Dokumentation der Hauptverhandlung mehr Urteile aufgehoben würden, teilt Schmitt nicht: Auch bei der Abfassung des Urteils könne der Richter schließlich viel genauer überprüfen, ob seine Erinnerung mit dem übereinstimmt, was der Zeuge ausgesagt hat.
Was dagegen spricht
Mit der Angst vor mehr Kontrolle möglicher eigener Fehler begründet die deutsche Justiz nicht, dass sie mehrheitlich gegen mehr Dokumentation im Strafverfahren ist. Wenn es kein Wortprotokoll gibt, müsse man auch nicht tausende Seiten irrelevanter Geschehenswiedergabe lesen, argumentieren Richter vielmehr gewohnt pragmatisch. Das fiskalische Argument der chronisch unterfinanzierten Justiz, dass ein Protokollant in jeder Hauptverhandlung nicht bezahlbar ist, dürfte sich binnen weniger Jahre durch technische Aufzeichnungsmöglichkeiten als nicht mehr tragfähig erweisen.
Materiellrechtlich stellen die Gegner von mehr Dokumentation in der Hauptverhandlung häufig auf die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten ab, besonders natürlich, wenn es darum geht, dass eine Beweisaufnahme gefilmt wird. Das könnte allerdings als Argument nur dann zählen, wenn die angefertigten Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden sollten. Darum geht es aber bei den Überlegungen zur Ausweitung der Dokumentation der Hauptverhandlung gar nicht. Vielmehr dürfen selbst in den seltenen Fällen historisch besonders bedeutsamer Prozesse, in denen seit April 2018 Tonaufnahmen angefertigt werden können, die Aufnahmen nur zu historischen Zwecken verwendet werden. Sie dürfen nicht Teil der Gerichtsakte werden oder von Verfahrensbeteiligten im Verfahren oder in einem anderen Prozess verwendet werden (§ 169 Abs 2 S. 3 GVG).
Das würden immer mehr Juristen gern ändern – und zwar nicht nur Strafverteidiger, die Revisionen begründen müssen. Aber sie stoßen auf erheblichen Widerstand, nicht nur in der Bundesjustiz. Die Gegner von mehr Dokumentation berufen sich auf ein nur primär formal anmutendes dogmatisches Argument: Das deutsche Rechtsmittelsystem beruht auf der strikten Trennung zwischen der Tatsachen- und der Revisionsinstanz. Das Revisionsverfahren findet weitgehend schriftlich statt, Tatsachen werden in aller Regel nicht mehr überprüft. Und das soll, so die einhellige Meinung, auch so bleiben.
Lösungen im Einklang mit dem Rechtsmittelsystem
Dem von manchen Gegnern gezeichneten "Schreckensbild stundenlang vor den Abspielgeräten sitzender Revisionsrichter und –staatsanwälte" will Bundesrichter Andreas Mosbacher mit drei Einschränkungen begegnen. Der Leiter der NStZ-Jahrestagung, der vor seiner Tätigkeit im 5. Strafsenat des BGH mehreren Strafkammern in Berlin vorsaß, schlug in einem Fachbeitrag im Strafverteidiger (StV 2018, 182 ff.) die Einführung von Audio-Aufzeichnungen vor. Zunächst nur in Schwurgerichtsverfahren verpflichtend, in anderen Strafverfahren optional. Die Aufnahmen sollten Bestandteil der Akte werden, also auch dem Akteneinsichtsrecht unterliegen.
Eine Revision, die mit einem Widerspruch zwischen dem Inhalt der Beweisaufnahme und den Feststellungen im Urteil dazu begründet werden soll, sollen die Verfahrensbeteiligten aber nur dann auf die Audio-Aufzeichnung stützen dürfen, wenn das Urteil offensichtlich und gravierend in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt abweicht.
In eine ähnliche Richtung gehen die Empfehlungen der noch vom ehemaligen Bundesjustizminister Heiko Maas eingesetzten Expertenkommission zur Reform des Strafprozessrechts. Sie empfahl, die Einführung einer audiovisuellen Dokumentation erstinstanzlicher Verfahren von Land- und Oberlandesgerichten näher zu prüfen, vor allem mit Blick auf mögliche Auswirkungen auf das Revisionsverfahren. Dabei könnte, so die Kommission, die Revision nur auf die Aufzeichnung gestützt werden dürfen, um eine wesentliche Verfahrensförmlichkeit oder offensichtliche Widersprüche zwischen Urteil und Filmmitschnitt in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt nachzuweisen. Umgesetzt wurde davon bisher nichts.
Bertram Schmitt vom IStGH gäbe sich sogar mit noch weniger zufrieden. Er schlägt statt einer Aufzeichnung* die Anfertigung eines Wortprotokolls der Hauptverhandlung vor. Ein solches würde, so Schmitt, die Hauptverhandlung noch weniger stören als die von Mosbacher vorgeschlagene Audio-Aufzeichnung. Gleichzeitig wäre es praktischer in der Handhabung und würde die Trennung zwischen Tatsachen- und Rechtsmittelinstanz elegant garantieren, indem es sich auf die Vermittlung von Fakten an den Revisionsrichter beschränkt, ohne diesem einen allzu unmittelbaren Eindruck zum Beispiel von der Zeugenvernehmung zu vermitteln, die damit Sache des Tatrichters bleibt. Schmitt hält dann nicht einmal eine gesetzliche Einschränkung der Revisionsmöglichkeiten für nötig, zumal schon de lege lata zum Beispiel per Urkundsbeweis eingeführte Beweismittel besonderen Überprüfungen unterlägen.
Unmittelbarkeit als Realität, nicht mehr nur als Postulat
IStGH-Richter Bertram Schmitt beschrieb aus seiner Erfahrung auch die ganz praktischen Vorteile der Protokollierung durch einen Dritten: Wenn ein Richter nicht mitschreiben müsse, könne er sich der Hauptverhandlung mit viel größerer Aufmerksamkeit widmen. Damit werde auch die Gefahr einer unbewussten Selektion von Information minimiert: "Was sagt uns, dass unsere Auswahl die richtige ist", fragte er am Freitag die versammelten Strafrechtler. Richter seien manchmal unaufmerksam, könnten Dinge falsch verstehen und sie würden dadurch abgelenkt, dass sie mitschreiben – und durch die Entscheidung, was sie mitschreiben sollen. Wer etwas anderes behaupte, mache sich etwas vor, so Schmitt.
Für den ISTGH-Richter agiert ein Berichterstatter, der alles am Laptop mittippt, "faktisch als Stenograf". Er könne sich gerade nicht mehr den unmittelbaren Eindruck mehr machen, den die Hauptverhandlung ihm vermitteln soll – und vermitteln könnte, wenn er ihr mehr Aufmerksamkeit schenken könnte. "Die Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung wäre dann nicht mehr nur Postulat, sondern Realität", appellierte er.
Auch Tagungsleiter Andreas Mosbacher betonte, wie einig die beiden sich trotz einiger Unterschiede in den Vorstellungen über den besten Weg im Hinblick auf das gemeinsame Ziel seien: die Stärkung von Wahrheitskontrolle und Rechtsfindung.
Im Strafverteidiger verleiht der BGH-Richter seiner Hoffnung Ausdruck: "Vielleicht gelingt es ja, in der 19. Legislaturperiode ein Pilotprojekt zu starten, um die Rationalität unseres Rechtssystems in einem Bereich zu erhöhen, der nicht nur gesellschaftlich besonders im Fokus steht, sondern in dem es auch um die schwerwiegendsten Sanktionen geht, die staatliche Macht verhängen kann."
*Klarstellende Änderung am 26.06.2018, 10:13h (pl)
Pia Lorenz, Dokumentation der Hauptverhandlung im Strafprozess: . In: Legal Tribune Online, 25.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29361 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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