Man kann leicht den Überblick über die vielen EuGH-Verfahren verlieren, in denen es um Justizreformen der PiS-Regierung in Polen geht. Aber sie zeigen auch, dass die Richterschaft den Kampf um Rechtsstaatlichkeit noch nicht aufgegeben hat.
Mal geht es vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) um das Ruhestandsalter von polnischen Richterinnen und Richtern, mal um Disziplinarverfahren, mal um die Abordnung an höhere Gerichte – auf den ersten Blick also um Fragen des Richterdienstrechts, das in den Nachbarländern kaum jemanden interessieren müsste. Doch dahinter steht ein Umbau des Justizsystems, der in Polen weit fortgeschritten, aber weiterhin heftig umkämpft ist.
Es gehe um viel mehr, als um einzelne neue Vorschriften, betont die bekannte polnische Richterin Beata Morawiec gegenüber LTO: "Seit dem Fall der Berliner Mauer wurde die Demokratie und die Unabhängigkeit der Justiz aufgebaut. Wir, als Richterinnen und Richter haben uns dafür eingesetzt, den Einfluss des Justizministers zu begrenzen und die Unabhängigkeit der Gerichte zu stärken. Schritt für Schritt hatten wir Erfolg. Doch seit 2015 haben sich alle Anstrengungen als nutzlos herausgestellt."
Aufgeben will Morawiec deshalb nicht. Sie ist seit dreißig Jahren Richterin, zuletzt war sie Präsidentin des Landgerichts in Kraków. Im November 2017 wurde sie von diesem Posten abberufen, fast ein Jahr lang war sie vom Dienst suspendiert, während ein Verfahren vor der Disziplinarkammer lief. In zweiter Instanz fiel nun eine Entscheidung der Disziplinarkammer zu ihren Gunsten und Morawiec kündigte sofort an, ihre Tätigkeit als Richterin wiederaufzunehmen. Seit 2018 ist sie zudem Präsidentin der Richtervereinigung Themis, die sich – zusammen mit weiteren Richterverbänden, insbesondere "Iustitia"– gegen die Reformen der PiS stemmt.
Die Reformen der PiS – reibungslos ging es nicht
2015 kam die PiS (Prawo i Sprawiedliwość, deutsch "Recht und Gerechtigkeit") nach Jahren in der Opposition und einer kurzen Regierungsbeteiligung an die Macht, seit Ende 2017 ist Mateusz Morawiecki Ministerpräsident, er löste Beata Szydlo ab. Die Reformen der PiS begannen beim Verfassungsgericht, das mittlerweile als klar regierungstreu gilt. Es folgten kurz nacheinander weitere Reformen. Der Landesjustizrat, ein Gremium, das die Unabhängigkeit der Justiz wahren sollte und maßgeblich an der Auswahl von Kandidatinnen und Kandidaten für Richterstellen beteiligt war, wurde umgebaut. Die Neuregelung des Ruhestandsalters sollte dazu dienen, die streitbare Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Małgorzata Gersdorf loszuwerden. Der Justizminister bekam mehr Macht, um die Präsidentenposten an den ordentlichen Gerichten neu zu besetzen. Zudem wurde eine Disziplinarkammer geschaffen, vor der Verfahren in Disziplinarsachen geführt werden, die Richter dieser Kammer wurden neu ernannt.
Nicht alle Umbauschritte in der Justiz gelangen der PiS, zumindest nicht reibungslos. Es gab massiven Protest, sowohl in Polen, wie auch europaweit. Die polnische Richterschaft ging auf die Straße, die EU-Kommission drohte, der EuGH funkte dazwischen. Das führte dazu, dass die Regierung in einigen Fällen zurückruderte, ihre Reformen abänderte und es auf anderen Wegen erneut versuchte. Es brachte die PiS aber nicht von ihrer Linie ab.
Zusammen mit staatlichen Kampagnen gegen die Richterschaft, in denen Richterinnen und Richtern etwa Korruption vorgeworfen wird, ist das Justizsystem heftig – und womöglich auf längere Sicht unumkehrbar – beschädigt, warnt Morawiec. Von weiteren Plänen der Regierung erfahre sie nur aus den Medien, so gebe es nun Gerüchte, die PiS wolle den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit ändern, um die Berufungsinstanzen zu schwächen.
Aber die Richtervereinigungen wie Themis und Iustitia seien nicht isoliert, erklärt sie: "Viele Richter, auch diejenigen, die nicht in den Verbänden organisiert sind, nehmen aktiv an Protesten teil, sie demonstrieren und unterschreiben Aufrufe an die Gesellschaft, die Regierung und die EU." Es gebe zwar Richterinnen und Richter, die mit der PiS kooperieren – weil sie deren politische Ansichten teilen oder weil sie eigene Interessen, etwa eine Beförderung verfolgen. Aber sie seien nach wie vor "deutlich in der Minderheit", glaubt Morawiec.
Die EU ist machtlos – "aber sie muss weiter nerven"
Doch die PiS agiert planvoll, meint der Bielefelder Professor Franz C. Mayer, der Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht, Rechtsvergleichung und Rechtspolitik lehrt und sich regelmäßig mit polnischen Kolleginnen und Kollegen austauscht. "Als die PiS das erste Mal an die Regierung kam, hat sie nicht sehr geschickt agiert. Aber seit 2015 geht sie sehr zielgerichtet vor", so Mayer im Gespräch mit LTO. "Die Regierung hat zuerst das Verfassungsgericht geschliffen, dann die Fachgerichte. Zugleich werden kritische Medien und die Wissenschaft geschwächt."
Dieses Vorgehen müsse allen, die in Europa an Rechtsstaatlichkeit interessiert seien, Sorgen machen. "Warum macht die PiS-Regierung das? Weil sie es kann?", sagt Mayer und fügt hinzu: "Ich denke, man will keine unabhängige Justiz und man will keine unabhängigen Medien, damit man in Ruhe die gesamten, insbesondere die staatlichen Strukturen so ändern kann, dass es sehr schwer wird, die PiS von der Macht zu vertreiben." Mayer hält regelmäßig Seminare an der Warschauer Universität, er sagt: "Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen dort seit Jahren und sie sehen die Entwicklung kritisch." Aber stehen die PiS-Gegner nicht längst auf verlorenem Posten?
Die EU-Kommission und der EuGH wirken weitgehend ohnmächtig, gibt Mayer zu: "Man muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass man Rechtsstaatlichkeit einfach so durchsetzen kann, aber man darf deshalb auf keinen Fall klein beigeben. Die EU-Institutionen müssen die polnische Regierung zumindest weiter in Rechtfertigungszwang bringen und hoffen, dass sie damit auf lange Sicht etwas erreichen." Die liberalen Kräfte in Polen seien auf Unterstützung aus der EU und den Mitgliedstaaten angewiesen.
Showdown zwischen Verfassungsgericht und EuGH?
Mayer betont daher auch die Risiken der EZB-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), die den Kritikern des EuGH in die Hände spiele: "Es ist eine enorme Gefahr für die Rechtsgemeinschaft in Europa, wenn man sich auf diese Weise offen gegen den EuGH stellt." Zwar habe Karlsruhe ganz andere Ziele verfolgt als die PiS – nämlich gerade mehr Kontrolle durch den EuGH – aber dennoch der polnischen Regierung eine Vorlage geliefert, Entscheidungen des EuGH zu relativieren.
Tatsächlich wird schon am Dienstag ein ähnlicher Showdown zwischen dem polnischen Verfassungsgericht und dem EuGH erwartet. Dabei geht es um den Streit um die Disziplinarkammer. Der EuGH hatte bereits im November 2019 entschieden, dass die nationalen Gerichte berechtigt sind zu prüfen, ob die Disziplinarkammer unparteiisch und unabhängig ist – was das Oberste Gericht auch prompt tat: Die neue Disziplinarkammer, die ebenfalls am Obersten Gericht angesiedelt ist, erfülle nicht die Kriterien eines unabhängigen Gerichts, weder nach polnischem Verfassungsrecht noch nach EU-Recht.
Die neue Disziplinarkammer stieß daraufhin ein Verfahren vor dem Verfassungsgericht an. Und das könnte sich nun offen gegen den EuGH stellen, wenn es dessen Entscheidung nicht anerkennen will. Die Verhandlung vor dem Verfassungsgericht wurde mehrmals verschoben, unter anderem weil der Bürgerrechtsbeauftragte Adam Bodnar die Besetzung des Verfassungsgerichts gerügt hatte. Sie soll nun am 15. Juni stattfinden.
EuGH-Generalanwälte mit deutlichen Worten
Unterdessen dauert der Streit um die Disziplinarkammer auch vor dem EuGH an. Denn die Luxemburger Richterinnen und Richter entschieden im April 2020 in einem Eilverfahren, dass die Disziplinarkammer ihre Arbeit vorläufig aussetzen muss. Die Kammer traf jedoch weiterhin Entscheidungen, die sich auf die Berufsausübung von Richterinnen und Richtern auswirkten, die EU-Kommission klagte erneut - Generalanwalt Evgeni Tanchev erklärte mittlerweile, er halte die Kammer nicht für hinreichend unabhängig.
Außerdem geht es vor dem EuGH um die Befugnisse von Justizminister Zbigniew Ziobro, der der kleineren, aber eng mit der PiS verbundenen Koalitionspartei SP (Solidarna Polska, deutsch Solidarisches Polen) angehört. Als Justizminister ist er zugleich Generalstaatsanwalt und den Staatsanwaltschaften gegenüber weisungsbefugt, zudem kann er aber auch über Abordnungen der Richterinnen und Richter an höhere Gerichte entscheiden und so die Kammern zusammenstellen, die über jene Fälle verhandeln, die ihm unterstellte Staatsanwältinnen und Staatsanwälte einleiten.
Generalanwalt Michal Bobek sprach in seinem Schlussantrag von einem "Anlass zu großer Sorge". Die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative sei nicht garantiert, weshalb die Gefahr politischer Einflussnahme bestehe. Vorgelegt hatte den Fall das Warschauer Bezirksgericht – offensichtlich gibt es auch dort Richterinnen und Richter, die immer noch die Auseinandersetzung suchen.
Warum die EU im Streit mit der PiS nicht aufgeben darf: . In: Legal Tribune Online, 11.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45179 (abgerufen am: 13.11.2024 )
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