Die CDU-Justizminister befürchten, dass Gerichte eine Bewährungsstrafe nach der anderen verhängen. Das BMJV geht davon aus, dass Kettenbewährungen eher selten vorkommen – doch nicht alle sind von den Zahlen überzeugt.
Vor zwei Jahren hatten die Justizministerinnen und Justizminister der Länder sogenannte Kettenbewährungen als Problem ausgemacht: Straftaten würden "nicht selten erneut zu Bewährungsstrafen führen, obwohl der Täter zur Tatzeit bereits einfach oder sogar mehrfach unter Bewährung stand". Auf der Justizministerkonferenz im Frühjahr 2019 forderten die Ressortchefs deshalb das Bundesjustizministerium (BMJV) auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der regeln sollte, dass die Gerichte nur noch in Ausnahmefällen eine zweite Bewährung aussprechen dürften.
Was ist daraus geworden? Das BMJV wollte erstmal wissen, ob es tatsächlich "nicht selten" zu Kettenbewährungen kommt. Man habe den Beschluss von 2019 zum Anlass genommen, um zu klären, wie häufig solche "Kettenbewährungen" in der Praxis vorkämen, "da diese Erkenntnis aus Sicht des BMJV Grundvoraussetzung für die Frage eines etwaigen gesetzgeberischen Handlungsbedarfs ist", so ein Sprecher des Ministeriums.
Das Ergebnis: Nur 0,74 Prozent aller im Jahr 2019 ergangenen Bewährungsentscheidungen (590 von 79.761 Bewährungsentscheidungen) seien Teil einer "Kettenbewährung". Darunter versteht das BMJV mindestens drei aufeinanderfolgende Bewährungsentscheidungen, zwischen denen jeweils nicht mehr als drei Jahre vergangen sind. Betrachtet man die Fälle, in denen der Bewährungsstrafe lediglich eine Bewährungsentscheidung vorausging, so lag dieser Anteil an allen 2019 ergangenen Bewährungsentscheidungen bei 9,68 Prozent (7.722 von 79.761 Bewährungsentscheidungen).
BMJV sieht keinen Handlungsbedarf, CDU-Justizminister bleiben bei ihrer Linie
"Diese Zahlen belegen aus Sicht des BMJV, dass die Gerichte insgesamt verantwortungsvoll mit der Möglichkeit umgehen, dem Täter oder der Täterin eine zweite Bewährungschance zu geben", so ein BMJV-Sprecher. Handlungsbedarf sieht man also gerade nicht. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hat ihre Kolleginnen und Kollegen in den Ländern auf der Justizministerkonferenz im Juni dieses Jahres darüber informiert.
Doch die CDU-geführten Justizministerien wollen sich damit nicht zufriedengeben. Die Justizministerkonferenz verabschiedete einen Beschluss, in dem es heißt, man sehe weiterhin "Handlungsbedarf" – er erging mit zehn zu sechs Stimmen, CDU und CSU stellen die Mehrheit der Justizministerinnen und Justizminister.
Die niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza (CDU) erklärte: "Die mehrfache, gleichzeitige Gewährung von 'Bewährungschancen' sendet ein falsches Signal. Beim Verurteilten und in der Öffentlichkeit kann der fatale Eindruck entstehen, weitere Straftaten seien faktisch folgenlos. Die richtige Botschaft lautet doch: Die Bewährungschance ist in der Regel einmalig und ernst zu nehmen."
Zudem wolle man ein weiteres Problem vermeiden: "Wenn in der letzten Eskalationsstufe mehrere Bewährungen zeitgleich widerrufen werden, dann droht dem Betroffenen plötzlich eine in Summe hohe Haftstrafe, mit der er vorher nicht gerechnet hat. Möglicherweise kann hier ein früherer 'Warnschuss' im Sinne einer kürzeren Haftstrafe bereits präventive Wirkung zeigen."
0,7 Prozent oder 50 Prozent – was denn nun?
Nun gibt es Streit darüber, was von den Zahlen des BMJV überhaupt zu halten ist. Offenbar ist es gar nicht so einfach, dem Problem nachzugehen. Das BMJV hatte zunächst die Länder angeschrieben, um Erkenntnisse zu Kettenbewährungen zu erhalten, stellte aber fest, dass die meisten Länder (13 von 16) gar keine entsprechenden Daten liefern konnten, die übrigen ließen sich nicht miteinander vergleichen – das geht aus einem Schreiben von Justizministerin Lambrecht an den baden-württembergischen Justizminister Guido Wolf (CDU) hervor.
Das BMJV hat daraufhin eine Auswertung der Daten des Bundeszentralregisters vorgenommen, das beim Bundesamt für Justiz geführt wird. Ausgehend von allen im Jahr 2019 demnach ergangenen Bewährungsentscheidungen wurde untersucht, ob im Zeitraum von drei Jahren vor dieser Entscheidung zu der Person laut Register noch eine weitere Bewährungsentscheidung ergangen war. War dies der Fall, wurde erneut zu dieser Person der vorangehende Dreijahreszeitraum abgefragt und so weiter. Dieser Zeitraum wurde gewählt, weil die Gerichte bei fast zwei Dritteln aller Bewährungsstrafen eine Bewährungszeit von drei Jahren anordnen und nur selten kürzer oder länger.
Es sei jedoch der falsche Ansatz, den Anteil von Kettenbewährungen an allen Bewährungsentscheidungen zu ermitteln, kritisiert ein Sprecher des niedersächsischen Justizministeriums: "Richtig dürfte vielmehr sein, die wiederholten Bewährungsentscheidungen ins Verhältnis zu jenen Entscheidungen zu setzen, wo sich die Frage einer wiederholten Bewährung überhaupt gestellt hat."
Das hat das BMJV in einer umfassenden Studie zur Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen aus dem Jahre 2016 getan: Im Zeitraum von 2010 bis 2013 gab es insgesamt 86.615 Ausgangsentscheidungen, in denen die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Da eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung nach § 56 Strafgesetzbuch (StGB) generell nur bei Freiheitsstrafen bis maximal zwei Jahren möglich ist, bleiben davon 19.454 Fälle, in denen das Gericht erneut über eine mögliche Bewährung entscheiden musste. In 54 Prozent der Fälle wurde diese Bewährung nochmal gewährt.
"Kriminalitätsabbrüche sind Prozesse"
Das Klischee, Täter würden reihenweise rückfällig, lässt sich weder mit der einen noch mit der anderen Statistik bestätigen. Nur rund zehn Prozent aller Bewährungsentscheidungen folgen auf eine vorhergehende Bewährungsentscheidung, Kettenbewährungen mit drei Bewährungsentscheidungen gibt es tatsächlich sehr selten. Hat ein Gericht aber tatsächlich zweimal den gleichen Täter vor sich und muss entscheiden, ob er eine weitere Bewährungschance bekommt, so stehen die Chancen ungefähr 50 zu 50.
Ob es kriminologisch sinnvoll ist, erneute Bewährungsstrafen stärker einzuschränken, ist umstritten. Bund und Länder haben sich nun vorerst darauf geeinigt, dem Thema in einer Arbeitsgruppe weiter nachzugehen. Ruben Franzen, Mitglied im Bundesvorstand der Neuen Richtervereinigung, betont, dabei müsse man auch die Rückfallquoten in diesen Fällen im Blick behalten. Schließlich komme es darauf an, ob die Einschätzung von Gericht und Staatsanwaltschaft, dass sich das strafbare Verhalten nicht fortsetzen wird, in der Regel zutreffend sind.
Gemäß § 56 StGB kommt es darauf an, ob "zu erwarten ist, dass der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird." Es geht also vor allem darum, wie sich der Täter verhalten wird, nicht lediglich darum, wie er sich verhalten hat. "Oder ist es wirklich sinnvoller, jemanden, der es, beispielsweise nach Rückfällen und damit einhergehend mit Beschaffungskriminalität, endlich geschafft hat, eine Therapie anzutreten, aus der Therapie heraus in die Haft zu überführen?", so Franzen. Grundsätzlich begrüße er aber den Versuch, die Debatte mit Zahlenmaterial zu versachlichen.
Der Kriminologe Dr. Christian Walburg warnt ebenfalls davor, "Kettenbewährungen" gesetzlich zu stark einzuschränken: "Aus kriminologischer Sicht ist das nicht sinnvoll. Kriminalitätsabbrüche sind Prozesse, das geht nicht von hundert auf null, sondern schrittweise. Man sollte unbedingt daran festhalten, im Einzelfall genau hinsehen zu können."
Bund und Länder wollen bessere Zahlen: . In: Legal Tribune Online, 28.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45319 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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