Der Berliner Jura-Professor Gerhard Wagner zeigt, dass deutsche Zivilgerichte vor allem für große Handelsverfahren nicht gut genug aufgestellt sind. Der Frankfurter OLG-Präsident Roman Poseck erklärt, was sich in der Praxis ändern muss.
Eine Justiz, die sich den Regeln des Marktes unterwirft, wäre ohne Zweifel eine falsche Entwicklung.
Während der Wettbewerb durch die Bereitstellung von bedarfsgerechten Angeboten zu möglichst niedrigen Preisen, effizienten Ressourceneinsatz und die schnelle Reaktion auf ständige Veränderungen gekennzeichnet ist, steht die Justiz als dritte Staatsgewalt für die beständige Rechtsdurchsetzung, Rechtssicherheit und Orientierung – und zwar unabhängig davon, ob es sich wirtschaftlich lohnt.
Genauso richtig ist es aber auch, dass sich der Rechtsstandort Deutschland im Zivilrecht in einem Wettbewerb um mögliche Kläger und Beklagte befindet. Für die deutsche Justiz kommt die Konkurrenz aus zwei Richtungen: Zum einen durch alternative private Formen der Streiterledigung, namentlich Schlichtungsstellen und Schiedsgerichte, und zum anderen durch Gerichte anderer Länder.
Im internationalen Wirtschaftsverkehr haben die Parteien zumeist einen großen Spielraum, wo und durch wen sie etwaige Streitfälle regeln möchten. Sie wägen dabei nach Kompetenz, Schnelligkeit, Kosten und Einflussmöglichkeiten auf die Verfahrensgestaltung ab.
Die deutschen Gerichte im internationalen Vergleich
Die Diskussion über den Rechtsstandort Deutschland nimmt deshalb an Fahrt auf. Hierzu trägt auch das Buch des Berliner Jura-Professors Gerhard Wagner mit dem Titel "Rechtsstandort Deutschland im Wettbewerb" bei. Wagner beschreibt und bewertet den Status quo der Streiterledigung durch Gerichte und Schiedsgerichte.
Den deutschen Gerichten gibt er bei diesen Kriterien insgesamt zufriedenstellende Noten. Sie stehen auch im Quervergleich für Qualität, Verlässlichkeit, Akzeptanz, niedrige Kosten und Korruptionsfreiheit. Gleichzeitig zeigt Wagner aber auf, dass die staatlichen Gerichte in den letzten Jahren infolge eines erheblichen Rückgangs an Verfahren, vor allem bei den Kammern für Handelssachen, an Boden verloren haben.
Wagner nennt als mögliche Ursachen für diese Entwicklung unter anderem eine Veränderung der Streitkultur, aber auch einen Verlust an Vertrauen in die Streiterledigung durch die Gerichte.
Er schlägt deshalb unter anderem vor, ein deutsches Handelsgerichts zu schaffen, das Schiedsverfahrensrecht weiterzuentwickeln und die Vertragsfreiheit im Unternehmensverkehr zu stärken.
Bei Großverfahren nicht gut genug aufgestellt
Alles spricht in der Tat dafür, dass die Gründe für den Verfahrensrückgang bei den Zivilgerichten vielschichtig sind.
Ein Alarmsignal, das auch international erfahrene Anwälte in Gesprächen ausdrücken, besteht aber in jedem Fall: Unsere Gerichte haben Schwierigkeiten, hochkomplexe und wirtschaftlich außergewöhnlich bedeutsame Verfahren angemessen und nach gleichmäßigen Standards zu erledigen. Diese Problematik bildet sich in den hohen Erledigungszahlen und in den insgesamt befriedigenden durchschnittlichen Verfahrenslaufzeiten nur unzureichend ab.
Wagner legt den Finger in die Wunde: Wie soll ein Richter am Landgericht, der im Schnitt 150 Verfahren im Jahr erledigen muss, einem Großverfahren die notwendige Aufmerksamkeit widmen und eine mehrtägige kontinuierliche mündliche Verhandlung durchführen?
Hinzu kommt ein strukturelles Ungleichgewicht. Während auf Anwaltsseite bei diesen Verfahren mehrere Anwälte in Teams tätig sind, ist der Richter auf sich, maximal auf einen Spruchkörper mit zwei weiteren Kollegen beschränkt.
Es wäre fatal, wenn die Justiz vor diesen Herausforderungen kapitulieren würde. Die Gerichte werden ihre dominante Stellung bei der Streiterledigung im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsfortbildung nur behalten, wenn sie auch für Großverfahren ein adäquates Angebot zur Verfügung stellen.
Eigenes Handelsgericht nicht auf Kosten der Bürger
An dieser Stelle sind alle Beteiligten zum Handeln aufgerufen: Richter und Gerichte vor allem bei der frühzeitigen Strukturierung von Verfahren, der notwendigen Spezialisierung, der Stärkung des Kammer- und Senatsprinzips sowie der flexibleren Geschäftsverteilung, die auch Raum für die Erledigung von Großverfahren lässt; daneben die Landes- und Bundespolitik, welche die personelle Ausstattung der Gerichte und die rechtlichen Rahmenbedingungen steuern.
Den Vorschlag Wagners, eine eigenständige Handelsgerichtsbarkeit auf der Ebene eines oder mehrerer Oberlandesgerichte zu schaffen, gilt es in der weiteren Diskussion sorgfältig abzuwägen.
Ein Einwand gegen eine hervorragend ausgestattete eigenständige Handelsgerichtsbarkeit lässt sich nicht von der Hand weisen: die Gefahr einer Zwei-Klassen-Justiz. Eine schnellere und bessere Justiz für reiche Parteien könnte die hohe gesellschaftliche Akzeptanz der Justiz untergraben.
Wer also die Gerichte für die Bearbeitung wirtschaftlich bedeutsamer Großverfahren aus guten Gründen ertüchtigen möchte, sollte auch das Gleichgewicht zu anderen Verfahren im Blick behalten und auf eine Stärkung der Justiz insgesamt setzen.
Arzthaftungsprozesse und Versicherungsverfahren mögen in ihrer wirtschaftlichen Relevanz hinter Großverfahren zwischen Unternehmen zurückbleiben, für die Betroffenen haben sie gleichwohl in der Regel eine hohe emotionale und manchmal auch eine existenzielle Bedeutung. Es wäre den Parteien dieser Prozesse nicht vermittelbar, warum sie deutlich länger auf ihr Recht warten müssen als internationale Großkonzerne.
Keine Angst vor Schiedsgerichten
Richtigerweise bezieht Wagner die Schiedsgerichtsbarkeit in die Betrachtung des Rechtsstandorts Deutschland mit ein. Nachdem die Schiedsgerichte im Zusammenhang mit TTIP in ein falsches Licht gerückt worden waren, sind sie heute in Politik und Justiz wieder allgemein anerkannt. Es ist Ausdruck der verfassungsrechtlich verbürgten Privatautonomie, dass sich Unternehmen für den Weg in die (private) Schiedsgerichtsbarkeit entscheiden können.
Eine leistungsfähige Justiz muss die Schiedsgerichtsbarkeit nicht fürchten. Im Gegenteil: Staatliche Gerichte und Schiedsgerichte können voneinander profitieren und gemeinsam den Rechtsstandort Deutschland international selbstbewusst vertreten.
Schließlich mahnt Wagner auch ein materielles Recht an, das den Rechtsstandort Deutschland attraktiv macht. Er kritisiert dabei vor allem die ausgedehnte Anwendung des AGB-Rechts auf den unternehmerischen Verkehr.
In der Tat erscheint es widersinnig, dass unser AGB-Recht inzwischen auch internationale Unternehmen schützt. Sowohl der Gesetzgeber als auch die Gerichte sollten wieder stärker zwischen dem Schutz des Verbrauchers und der Freiheit von Unternehmen differenzieren, die sich durch Rechtsabteilungen und Anwaltskanzleien beraten lassen und keines besonderen Schutzes bedürfen.
Jetzt müssen Bund und Länder auch die Zivilgerichte stärken
Es bleibt zu hoffen, dass sich Analyse und Vorschläge Wagners als Initialzündung für eine Stärkung des Rechtsstandorts Deutschland erweisen und das Thema nicht im Gefüge unterschiedlicher Zuständigkeiten versiegt.
Die Zeit ist günstig. In den meisten Bundesländern sind die Gerichte nach Sparrunden vergangener Jahre in der jüngeren Zeit auch personell wieder gestärkt worden. Diese Entwicklung, die in vielen Ländern vor allem die Strafjustiz im Fokus hat, sollte auch im Interesse der Ziviljustiz verstetigt werden.
Und auch im Bund tut sich etwas: CDU, CSU und SPD haben sich in ihrem Koalitionsvertrag auf einen Pakt für den Rechtsstaat auf Ebene der Regierungschefs von Bund und Ländern verständigt. Auch das ist ein starkes Zeichen für ein gemeinsames Handeln im Interesse des Rechtsstandorts Deutschland.
Prof. Dr. Roman Poseck ist Präsident des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main und dort Vorsitzender des 26. Zivilsenates.
Justiz im internationalen Wettbewerb: . In: Legal Tribune Online, 12.02.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26997 (abgerufen am: 07.11.2024 )
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