Um die sogenannte "Berliner Übersicht" und die "Sachsen-Übersicht" machen die Justizministerien seit Jahren ein großes Geheimnis. LTO liegen die aktuellen Zahlen vor. Sie zeigen, wie schnell die Gerichte in den Ländern arbeiten.
Der Berliner Justizsenator hat jedes Jahr die Aufgabe, für seine Länderkollegen eine Statistik zu erstellen: Die sog. "Berliner Übersicht " schlüsselt auf, wie viele Verfahren die Richter und Staatsanwälte an den ordentlichen Gerichten auf den Tisch bekommen, wie viele Fälle sie erledigen und wie lange die Verfahren dauern. Dabei werden Ranglisten erstellt: Platz eins für das Land mit den schnellsten und effektivsten Richtern, Platz 16 für das Schlusslicht.
Das sächsische Justizministerium stellt die gleiche Übersicht für die Fachgerichte zusammen. Daten und Fakten zu den Verwaltungsgerichten, den Sozialgerichten, den Finanzgerichten und den Arbeitsgerichten finden sich in der sog. "Sachsen-Übersicht".
Beide Übersichten werden an alle Landesjustizministerien übermittelt. Die können dann auf einen Blick sehen, wo sie vorne mitspielen und in welchen Gerichtszweigen nicht. Veröffentlicht werden die Listen nicht. Den Ländern ist offenbar nicht sehr daran gelegen, dass das Ranking bekannt wird. Die Zahlen seien "vertraulich" und dienten nur "dem internen Datenaustausch zwischen den Ländern", heißt es etwa aus der Berliner Senatsverwaltung für Justiz.
LTO liegen die Daten aller Bundesländer für das Jahr 2016 vor. Die Zahlen zeigen, welche Gerichte in welchen Ländern besonders stark belastet sind – und wo die Justiz damit besser oder schlechter zurechtkommt.
Strafsachen bleiben fast überall liegen
Vor allem die Strafgerichte und die Staatsanwaltschaften gelten als überlastet. Tatsächlich liegen die Erledigungsquoten für Strafsachen sowohl an den Amtsgerichten als auch an den Landgerichten in den meisten Ländern leicht unter 100 Prozent – das heißt, es wurden nicht so viele Fälle abgearbeitet wie neu hereinkamen. Auf lange Sicht bleiben so Verfahren liegen und die Bestände wachsen an.
In Nordrhein-Westfalen hatten die Strafrichter am Amtsgericht im Durchschnitt 417,6 eingehende Strafsachen zu bearbeiten, ihre Kollegen in Hamburg dagegen nur 289,0. Dabei zeigt sich: Wo der Druck sehr hoch ist, arbeiten die Richter besonders schnell: In Nordrhein-Westfalen erledigten sie durchschnittlich 410,7 Fälle und erreichten damit Platz 1, in Hamburg lediglich 283,4 (Platz 16).
Bei den Staatsanwaltschaften ist die Belastung in Bayern besonders hoch, mit durchschnittlich 1.309,3 Eingängen pro Staatsanwalt bei einer Erledigungsquote von über 100 Prozent mit je 1.322,6 erledigten Verfahren. Darauf folgen das Saarland (1.243,0 Eingänge) und Bremen (1.208,1 Eingänge). In Brandenburg gingen 765,7 Verfahren ein und die Erledigungen lagen leicht darunter bei 759,4 je Staatsanwalt bzw. Amtsanwalt.
Dabei fällt auf, dass Bayern die Verfahren auch besonders schnell erledigt, nämlich in durchschnittlich 1,3 Monaten. Die bayerischen Staatsanwälte stellen häufig Strafbefehlsanträge statt Anklagen, die Quote liegt bei 60,6 Prozent und ist nur in Baden-Württemberg (72,6 Prozent) höher – in Brandenburg liegt der Anteil der Strafbefehle an den Anklagen und Strafbefehlen insgesamt dagegen nur bei 41,8 Prozent.
Zivilgerichte: Bremer Amtsrichter unter Druck
Anders sieht es an den Zivilgerichten aus: Dort liegen die Erledigungsquoten in aller Regel leicht über 100 Prozent. Dabei kamen in Bremen auf einen Zivilrichter am Amtsgericht 605,4 eingehende Verfahren, in Sachsen waren es dagegen nur 444,3. Bremen hat außerdem die höchsten Bestände an alten Akten, nämlich 315,3 offene Verfahren je Richter. Auch hier zeigt sich, dass die Richter bei hoher Belastung mehr Verfahren erledigen: In Bremen schafften sie durchschnittlich 648,3 Fälle (Platz 1), in Sachsen 462,7 (Platz 16).
Über das Niveau der Ziviljustiz ist damit allerdings noch nicht viel gesagt. "Ob ein Richter schnell oder langsam arbeitet, sagt noch nichts über die Qualität aus", meint Carsten Löbbert von der Neuen Richtervereinigung (NRV). "In einigen Fällen ist eine schnelle Entscheidung für einen Fall wichtig, in einem anderen Fall braucht man Zeit für Gespräche mit den Parteien."
Wichtig ist für die beteiligten Parteien auch, wie der Streit beigelegt wird. In Baden-Württemberg, Bayern und im Saarland enden die Verfahren besonders häufig mit einem Vergleich. Die Vergleichsquote liegt hier bei 19,5, 18,5 bzw. 18,4 Prozent, in Sachsen-Anhalt und Berlin ist sie dagegen mit 11,9 bzw. 11,1 Prozent eher niedrig.
Schließlich geht es darum, wie lange sie auf eine Entscheidung warten müssen. Bis ein Urteil ergeht, dauert es im bestplatzierten Bayern im Durchschnitt 6,1 Monate, in Baden-Württemberg 6,7 Monate, das Bremer Amtsgericht landet mit 10,7 Monaten auf Platz 16.
Rheinland-Pfalz erledigt Verwaltungsverfahren besonders schnell
Besonders groß sind die Unterschiede bei der Verfahrensdauer an den Verwaltungsgerichten. In Rheinland-Pfalz ergeht ein Urteil im Hauptverfahren im Durchschnitt schon nach 3,9 Monaten (Platz 1) – in Brandenburg (Platz 16) müssen die Beteiligten 22,6 Monate darauf warten, in Hamburg 20 Monate und in Mecklenburg-Vorpommern 19,2. Im Übrigen liegen die Verfahrensdauern zwischen 7,0 Monaten in Bayern und 15,8 in Sachsen.
Die Verwaltungsrichter in Rheinland-Pfalz hatten dabei deutlich mehr Verfahren zu bewältigen als ihre Kollegen. Während in den übrigen Bundesländern zwischen 149 (Mecklenburg-Vorpommern) und 271 (Berlin) Verfahren je Richter eingingen, waren es in Rheinland-Pfalz 383. Die Verwaltungsrichter erledigten dort mit durchschnittlich 254 Verfahren mehr als in jedem anderen Bundesland – trotzdem hatten sie mit 66,3 Prozent die schlechteste Erledigungsquote. Offenbar kamen sie angesichts der vielen Eingänge kaum noch hinterher.
Die Übersicht zeigt auch, in wie vielen Fällen die Verwaltungsgerichte in der Sache entscheiden, das Hauptverfahren also nicht etwa durch Rücknahmen oder übereinstimmende Erledigungserklärungen erledigt wird. Auch hier zeigen sich deutliche Unterschiede in der Entscheidungspraxis der Gerichte mit Sachentscheidungsquoten von 20,7 Prozent in Brandenburg und 62,6 Prozent im Saarland. Rheinland-Pfalz liegt mit 55,1 Prozent ebenfalls über dem Durchschnitt.
Gerichte mit längeren Verfahrensdauern arbeiten nicht unbedingt schlechter
Es gibt verschiedene Gründe für die großen Unterschiede zwischen den Ländern. "Zu einem wesentlichen Teil liegt es sicherlich an der je nach Bundesland unterschiedlichen Personalausstattung der Verwaltungsgerichte“, erklärt Robert Seegmüller, Vorsitzender des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen (BDVR).
Ein anderer Punkt sei die inhomogene Verteilung der Asylverfahren im Bundesgebiet: "Manche Asylverfahren lassen sich relativ leicht und schnell erledigen, wie etwa die Verfahren, die den Westbalkan betreffen. Andere Verfahren, zum Beispiel solche, die den Iran betreffen, sind regelmäßig viel zeitaufwändiger", so Seegmüller. Die Asylverfahren beschäftigen die Verwaltungsgerichte derzeit besonders stark, bundesweit ging es schon 2016 in 42,3 Prozent der Hauptverfahren vor den Verwaltungsgerichten um Asylsachen.
Hinzu kommt, dass sich nach Grundsatzurteilen eine ganze Serie von Verfahren mit vergleichbaren rechtlichen Problemen schnell erledigen lässt, was zu kürzeren Verfahrensdauern führt. Ist die Rechtsprechung nicht einheitlich, dauern die Verfahren unter Umständen länger. Schließlich wird die Statistik auch dann verzerrt, wenn die Gerichte mit großen Beständen zu kämpfen haben: Wer vorrangig alte Verfahren statt neuer Eingänge abarbeitet, produziert lange Verfahrensdauern, wer zunächst neue Eingänge erledigt, kürzere.
Brandenburg hatte schon 2015 die höchsten Eingangszahlen (224 Eingänge je Richter) und die niedrigste Erledigungsquote (75,3 Prozent) sowie die zweithöchsten Bestände (214 offene Verfahren je Richter). Hier fehlen Verwaltungsrichter, warnt Seegmüller: "in Brandenburg lässt das Justizministerium die Verwaltungsgerichte wirklich am ausgestreckten Arm verhungern."
Nicht mal das Bundesjustizministerium erhält alle aktuellen Zahlen
Die Länder versuchen, das Ranking möglichst unter Verschluss zu halten – wohl um genau solche Debatten zu verhindern. Tatsächlich dürfte es sich jedoch größtenteils um Daten handeln, die die Behörden nicht ohne Grund vorenthalten dürfen.
Der Rechtsanwalt Martin Riemer hatte im September 2017 eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz beim Bundesamt für Justiz (BfJ) gestellt und die Übersichten für das Jahr 2015 daraufhin erhalten. Zuvor hatte die Neue Juristische Wochenschrift bereits über wesentliche Ergebnisse des Ländervergleichs 2015 berichtet.
Die Länderübersichten für das Jahr 2016 wurden jedoch nicht mehr an das BfJ weitergegeben, teilte ein Sprecher auf LTO-Anfrage mit. Aus dem Bundesjustizministerium heißt es, das BfJ frage die Daten zwar bei den Ländern ab – es hätten jedoch nicht alle Länder die aktuellen Zahlen übermittelt, so dass die Tabellen nicht vollständig vorlägen.
Die Landesministerien berufen sich bei Anfragen in der Regel darauf, die Daten anderer Bundesländer nicht ohne deren Zustimmung herausgeben zu dürfen. Rechtsanwalt Riemer, erfahren im Umgang mit IFG-Anträgen, kritisiert, dass die Zahlen nicht standardmäßig veröffentlicht werden: "Es ist in der heutigen Zeit völlig normal, dass sich die Staatsverwaltung Fragen nach ihrer Effizienz gefallen lassen muss. Wenn sich die Kultusminister dem nicht entziehen können, dass die Bundesländer in Form der Pisa-Studie öffentlich miteinander konkurrieren, warum sollte für den Justizbereich dann etwas Anderes gelten?"
Mehr Transparenz?
Der NRV-Vorsitzende hat dagegen Verständnis für die Zurückhaltung der Länder gegenüber der Veröffentlichung ihrer Daten. "Man kann nicht allein aufgrund der Zahlen sagen, dieses Land ist spitze und jenes das Schlusslicht, das ist zu einfach", meint Löbbert. "Dabei werden die Umstände an den jeweiligen Gerichten nicht berücksichtigt." Er fordert stattdessen, die Länder sollten offenlegen, wie viele Richterstellen tatsächlich nicht besetzt sind.
Nach Angaben des Berliner Justizsenators haben sich die Länder inzwischen darauf geeinigt, "einen Großteil der Daten" zukünftig über die Fachserie 10 des Statistischen Bundesamtes zu veröffentlichen. Dazu bedürfe es allerdings noch "insbesondere auch technischer Anpassungen auf Seiten des Bundesamtes für Justiz". Der Sprecher des BfJ konnte auf LTO-Anfrage allerdings nicht bestätigten, dass dort künftig die Veröffentlichung weiterer Daten vorbereitet würde.
Einige der Daten, die in der Berliner und der Sachsen-Übersicht zusammengetragen sind, sind zwar über das Statistische Bundesamt bereits öffentlich zugänglich, etwa die Angaben zu den durchschnittlichen Verfahrensdauern. Aus den Statistiken des Statistischen Bundesamts lassen sich aber bisher weder die Eingangszahlen und die Bestände pro Richter noch die Erledigungsquoten entnehmen.
Dabei zeigen gerade diese Zahlen, wie die Justiz in welchen Bundesländern aufgestellt ist. Der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, Sven Rebehn, erklärt es für „richtig, dass Bund und Länder die teilweise gravierenden Probleme der Justiz durch einen Rechtsstaatspakt nachhaltig beheben wollen." Das müsse "selbstverständlich mit einer aktuellen Bestandsaufnahme zur Arbeitsbelastung und zu fehlenden Stellen beim Bund und in den einzelnen Ländern verbunden sein, um den Pakt möglichst zielgenau in konkrete Politik umsetzen zu können."
Die Berufsverbände der Richter und Staatsanwälte fordern seit Jahren mehr Stellen für Richter und Staatsanwälte. Union und SPD haben bereits angekündigt, sich mit den Ländern auf einen "Pakt für den Rechtsstaat" zu einigen und mindestens 2.000 neue Stellen zu schaffen. Dass offenbar selbst im Bundesjustizministerium nicht alle aktuellen Daten vorliegen, muss man angesichts dieser Debatte schon verwunderlich finden.
Annelie Kaufmann, Justiz-Ranking: . In: Legal Tribune Online, 13.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27471 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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