Der Fall "Afghanistan" zeigt offene Rivalität zwischen Richtern und der Chefanklägerin am IStGH. Nach politischem Druck hat sich das Gericht mit einer juristisch fragwürdigen Entscheidung selbst geschadet, meinen Pierre Thielbörger und Özgen Özdemir.
Es war ein unmissverständliches Vorzeichen. Spätestens als Anfang April bekannt wurde, dass die USA der Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) Fatou Bensouda das Einreisevisum entzogen hatte, wurde schon deutlich, wie stark der IStGH unter Druck geraten war. Nach Ansicht von Chefanklägerin Bensouda gab es genügend Beweise für Kriegsverbrechen und Hinweise darauf, dass US-Soldaten und Mitarbeiter des US-Auslandsgeheimdienstes CIA in Afghanistan gefoltert haben. Deshalb strebte sie eine Ermittlung des IStGH vor Ort an.
Dazu wird es nun nicht kommen, wie die zweite Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) am 12. April 2019 entschied (ICC-02/17-33). Sie beschloss, keine Situationsermittlungen nach Art. 15 Abs. 3 Rom Statut zu mutmaßlichen Verbrechen seit dem 1. Mai Jahr 2003 in Afghanistan einzuleiten.
IStGH als letzte Hoffnung?
Seit dem Sommer 2002 findet in Afghanistan ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt zwischen der afghanischen Regierung, unterstützt von ISAF und US-Streitkräften, und verschiedenen bewaffneten Gruppen statt, wie das Gericht in seiner Entscheidung ausführt. Zu diesen Gruppen gehören insbesondere auch die radikalislamischen Taliban. Ebenfalls seit 2002 führe der US-amerikanische Geheimdienst CIA in Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001gegen potentielle Täter eigene Ermittlungen auf afghanischem Territorium durch, so der IStGH. Dabei sollen vermeintliche Anhänger der Terrorgruppe Al-Quaeda und der Taliban zwangsweise in Internierungslagern untergebracht und im Rahmen der Befragungen gefoltert oder - auch sexuell - misshandelt worden sein. Diese Mission stünde zudem in enger Verknüpfung zu anderen vermeintlich begangenen Kernverbrechen nach Art. 6 ff. des Rom Statuts, also Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die die CIA auf polnischem, rumänischen und litauischen Territorium in Geheimgefängnissen begangen haben könnten.
Die Entscheidung der Kammer am IStGH in Den Haag war mit großer Spannung erwartet worden, da in das Untersuchungsmandat nicht nur Verbrechen afghanischer Täter eingeflossen wären, sondern auch potentielle Verbrechen, die von amerikanischen Akteuren verübt wurden. Die USA hatten deswegen von Anfang an gegen den Antrag der Chefanklägerin protestiert. Der nationalen Sicherheitsberater der USA, John R. Bolton, hatte sogar gedroht, US-Truppen könnten auf Grundlage der American Service-Members’ Protection Act - umgangssprachlich auch "Hague Invasion Act" genannt - US-Bürger unter Gewaltanwendung aus den Gefängnissen des IStGH in Den Haag befreien.
Menschenrechtsorganisationen hatten gewarnt, dass viele Verbrechen wie Folter und unmenschliche Behandlungen, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen klar unter das Rom Statut fallen, ungesühnt blieben. Der IStGH galt vielen Beobachtern in dieser Sache als letzte Hoffnung, da afghanische Behörden nicht in der Lage und willens sein dürften, diese Verbrechen zu verfolgen, zumal der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) durch das Veto der USA blockiert ist.
IStGH-Kammer muss Ermittlungen genehmigen
Das ist der politische Hintergrund, vor dem der IStGH nun seine Entscheidung getroffen hat. Um eine durch die Ankläger initiierte Situationsermittlung einzuleiten, müssen die Voraussetzungen aus Art. 53 Abs. 1 Rom Statut kumulativ vorliegen: Es muss ein hinreichender Verdacht bestehen, dass ein Verbrechen, welches unter die Gerichtsbarkeit des IStGH fällt, begangen wurde oder wird; eine Strafverfolgung im betroffenen Staat muss aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ausscheiden; die Verbrechen müssen von hinreichender Schwere sein; die Strafverfolgung muss im Interesse der Opfer stehen; und es dürfen keine Gerechtigkeitsinteressen, sog. "interests of justice" entgegenstehen. Gerade am letzten Punkt entzündet sich nun die juristische Debatte.
Anders als im deutschen Strafrecht, wonach die Staatsanwaltschaft nach Abschluss der Ermittlungsarbeiten über eine Anklage gegen einen Beschuldigten entscheidet, ist die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs bei eigeninitiierten Ermittlungen nach Art. 15 Abs. 3 Rom Statut an die Genehmigung der Vorverfahrenskammern gebunden, um überhaupt Ermittlungen in einem Staat durchführen zu können. Obwohl die Entscheidung in vielerlei Hinsicht Fragen aufwirft, beschränken wir unsere Analyse und Kritik an dieser Stelle auf zwei besonders wegweisende Facetten der Entscheidung.
Machtspiele zwischen Anklage und Gericht
Erstens legen die Richter eine sehr strenge Interpretationsgrundlage an, wenn sie urteilen, dass die Anklägerin grundsätzlich nur solche Verbrechen untersuchen kann, die explizit in ihrem Antrag genannt werden oder die eng mit solchen explizit genannten Verbrechen verbunden sind, ("closely linked"). Für im Laufe der Ermittlungen neu zu Tage tretende Verbrechen bräuchte die Anklägerin also jeweils neue Genehmigungen. Die Kammer hebt dabei ihre eigene Verantwortung für die Verhinderung von unberechtigten, leichtsinnigen und politisch-motivierten Situationsermittlungen aus eigener Initiative "proprio motu" der Anklägerin hervor. Weil eine weitere Kontrollinstanz über die Anklagebehörde fehle, sei eine strikte Kontrolle durch die Kammer nötig, um die Glaubwürdigkeit des Gerichts zukünftig nicht zu gefährden.
Zwar ist es zu begrüßen, dass der IStGH seine Kontrollfunktion über die Anklagebehörde ernst nimmt. Allerdings verkennt das Gericht die Auffangmechanismen in den weiteren Verfahrensabschnitten. Es verzögert zudem künftige Ermittlungen durch das Erfordernis weiterer Genehmigungen erheblich – und tut insgesamt sein Misstrauen der Anklägerin gegenüber öffentlich kund. Das Gericht stutzt im Vergleich zu vorigen Genehmigungen erheblich den Ermessenspielraum der Anklägerin zurecht. Wir erleben hier im Grunde Machtspielchen zwischen Gericht und Anklägerin, - Machtspielchen, die angesichts der Kompetenzverteilung im Rom Statut klar zugunsten des Gerichts ausgehen.
Wohl noch wichtiger sind die Ausführungen der Kammer zu dem Erfordernis, Ermittlungen müssten stets Gerechtigkeitsinteressen, sog "interests of justice", dienen. In den Augen der Richter müssten ebendiese im Lichte der Ziele des ganzen Statuts verstanden werden, also mit Blick auf die Effektivität der Strafverfolgung, den Kampf gegen Straflosigkeit und die Prävention von Massengräueltaten. Da die Erfolgsaussichten zur Erreichung dieser Ziele in der gegebenen Situation extrem gering seien, sollten die Afghanistan-Untersuchungen nicht fortgeführt werden.
Richter legen wegweisend eigene Kriterien an
Diese Argumentation ist für die zukünftige Untersuchungspraxis der Anklagebehörde und die damit verbundene Rechtsprechung des Gerichtshofs wegweisend. Wenig bis gar nichts hat der Gerichtshof selbst bisher zum Begriff der "interests of justice" gesagt. Die Anklagebehörde hingegen hat sich in einer umfassenden Studie aus dem Jahr 2007 ausführlich mit dieser Begrifflichkeit befasst. In welchen Fällen die "interests of justice" ausnahmsweise gegeben sind, sei anhand von Kriterien wie der Schwere der Verbrechen, den Interessen der Opfer, der Verfügbarkeit anderer Abhilfemechanismen oder der Bedeutung für einen etwaigen Friedensprozess zu ermitteln.
Die Richter, wiederum in offen zur Schau getragener Rivalität zur Anklagebehörde, nehmen den Report der Chefanklägerin nur kurz zur Kenntnis, legen sodann aber völlig andere eigene Kriterien an, um weitere Untersuchungen auszuschließen. Erstens sei die inzwischen vergangene Zeitspanne seit Beginn der internen Ermittlungen im Jahre 2006 zu groß; zweitens würden die dem Gerichtshof begrenzt zur Verfügung stehenden Ressourcen zu sehr beansprucht, und drittens sei die Kooperationsbereitschaft Afghanistans und anderer Schlüsselstaaten nicht gegeben.
Juristisch nicht überzeugende Argumentation
Alle drei Einwände vermögen nicht zu überzeugen. Erstens, die Kernverbrechen unterliegen laut Art. 29 Rom Statut gerade keiner Verjährung. Durch die zeitliche Beschränkung, die ein Indikator für die erschwerte Beweissituation sein soll, würde de-facto aber doch eine Verjährung durch das Einfallstor der Gerechtigkeitserwägungen eingeführt.
Daneben ist die Argumentation des Gerichts nicht überzeugend, dass aufgrund herabgesetzter Maßstäbe (Entscheidung beruht auf "Informationen", nicht auf "Beweisen") im derzeitigen Verfahrensstadium der Tatverdacht zwar noch erwiesen werden könne, die Beweiserbringung in den folgenden Verfahrensabschnitten allerdings erhöhten Voraussetzungen unterliege, die vermutlich nicht erfüllt werden könnten. Die Kammer verkennt hier die Kompetenzverteilung des Rom Statuts oder setzt sich über diese bewusst hinweg, denn die Beweissicherung unterliegt gerade nicht dem Aufgabenbereich des Gerichts. Ob eine Anklage erfolgsversprechend ist, darüber hat das Gericht zudem nichts vorherzusagen, sondern vielmehr erst dann zu entscheiden, wenn die Anklage erhoben wird.
Auch personeller und finanzieller Ressourcenmangel sind keine im Strafverfahren zu berücksichtigenden Gründe. Vielmehr ist es Aufgabe der Vertragsstaaten, in Anbetracht ihrer vertraglichen Pflichten die Finanzen des Gerichtshofs so zu gestalten, dass dieser seinem Mandat nachkommen kann. Hier wird geradezu ein gefährlicher Anreiz für Staaten gesetzt, die finanzielle Ausstattung des Gerichts gering zu halten oder zu kürzen: wenn das Gericht weniger Ressourcen hat, nimmt es sich der schwierigen (und den Staaten oft besonders unliebsamen) Situationen wie etwa Afghanistan nicht länger an. Dies wäre eine fatale Logik.
Schließlich ist auch die mangelnde Kooperation der betroffenen Staaten als Begründung der Ablehnung weiterer Untersuchungen nicht überzeugend. Diese Problematik haben bereits die Gründungsväter des Rom Statuts erkannt, sodass das Gericht, beruhend auf den im neunten Teil des Rom Statuts normierten Kompetenzen, die Zusammenarbeit ersuchen könnte (auch wenn dies in der Tat wenig erfolgversprechend wäre).
Statt Gerechtigkeitsinteressen: Eine rein politische Entscheidung
In dieser dreifaltigen Argumentation zu den Gerechtigkeitsinteressen insgesamt verkennt das Gericht den absoluten Ausnahmecharakter dieser Regelung. Grundsätzlich muss von der, wenngleich widerlegbaren, Annahme ausgegangen werden, dass Strafverfolgung, zumal der schlimmsten aller Verbrechen, im höchsten Maße den Interessen der Gerechtigkeit dient.
Geradezu zynisch liest sich die Entscheidung, da die Kammer das Vorliegen der formellen und materiellen Strafverfolgungsvoraussetzungen einerseits ganz eindeutig feststellt ("a reasonable basis to consider that crimes have been committed in Afghanistan and that potential cases would be admissible before the court"), andererseits eine Strafverfolgung aber verhindert, da sie nicht im Interesse der Gerechtigkeit liege. Fast möchte man fragen: Was könnte mehr im Interesse der Gerechtigkeit liegen, als Strafverfolgung von Kernverbrechen zu ermöglichen, von deren Begehung selbst in den Augen der Richter ausgegangen werden muss? Die Erwartungen, "expectations", der Opfer seien im gegebenen Verfahren aber nicht viel mehr als unerfüllte Sehnsüchte,"aspirations", – was aber bleibt den Opfern, wenn nicht einmal die Sehnsucht nach später Gerechtigkeit?
Unter dem Deckmantel von Gerechtigkeitsinteressen entscheidet die Kammer insgesamt also rein politisch. Die Drohung Boltons hat insoweit seinen Adressaten gefunden. Kritik anderer vor allem afrikanischer Staaten, der IStGH sei gegenüber mächtigen und westlichen Staaten zu nachsichtig, war in der Vergangenheit oftmals ungerechtfertigt, da die meisten Situationen auf Ersuchen der Staaten selbst zum IStGH gelangten. In der Entscheidung vom 12. April 2019 hingegen findet sich ein Paradebeispiel, wo die afrikanische Kritik durchaus angebracht erscheint. Das Gericht misst hier eindeutig mit zweierlei Maß.
Der Autor Professor Dr. Pierre Thielbörger ist Lehrstuhlinhaber und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) an der Ruhr-Universität Bochum (RUB).
Die Autorin Özgen Özdemir ist Doktorandin im Völkerstrafrecht an der Juristischen Fakultät der RUB.
Machtspiele am IStGH in Den Haag: . In: Legal Tribune Online, 18.04.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34993 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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